E-Book, Deutsch, Band 56, 208 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
Simenon Maigret und die alten Leute
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70143-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 56, 208 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
ISBN: 978-3-311-70143-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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2
»Woran denken Sie, Chef?«
Janvier war überrascht über die Wirkung dieser Frage, die er nur gestellt hatte, um ein ziemlich langes Schweigen zu beenden. Es schien, als erreichten die Worte Maigrets Gehirn nicht direkt, als wären es nur Laute, die er ordnen musste, bevor ihm ihr Sinn aufging.
Der Kommissar blickte Janvier verlegen und mit großen, verschwommenen Augen an, als hätte er gerade eins seiner Geheimnisse verraten.
»Diesen Leuten da …«, murmelte er.
Natürlich meinte er nicht die Leute, die um sie herum in diesem Restaurant in der Rue de Bourgogne zu Mittag aßen, sondern die anderen, von denen er am Tag zuvor noch nichts gewusst hatte, und deren geheimes Leben sie heute aufzudecken hatten.
Jedes Mal, wenn Maigret sich einen Anzug, einen Mantel oder Schuhe kaufte, trug er sie zuerst abends bei einem Spaziergang mit seiner Frau durch die Straßen des Viertels oder bei einem Kinobesuch.
»Ich muss mich erst daran gewöhnen …«, sagte er zu Madame Maigret, die sich dann liebevoll über ihn lustig machte. Ähnlich war es, wenn er eine neue Ermittlung begann. Den anderen fiel es nicht auf, weil seine mächtige Gestalt und sein ruhiges Gesicht Sicherheit ausstrahlten. Tatsächlich aber durchlebte er jedes Mal eine mehr oder weniger lange Phase des Zögerns, des Unbehagens und sogar der Angst.
Er musste sich an eine fremde Umgebung gewöhnen, ein Haus, eine Lebensweise, an Leute, die ihre Gewohnheiten hatten, ihre eigene Art zu denken und sich auszudrücken.
Bei manchen Menschentypen war das verhältnismäßig leicht, zum Beispiel bei Berufsverbrechern oder dergleichen.
Bei anderen musste er jedes Mal von vorne beginnen, zumal er festen Regeln und vorgefassten Ansichten misstraute.
Im aktuellen Fall gab es ein zusätzliches Hindernis. Er war an diesem Morgen mit einem Milieu in Berührung gekommen, das nicht nur recht verschlossen, sondern das ihm auch wegen seiner Herkunft immer wie eine andere Welt erschienen war.
Er wurde sich bewusst, dass er in der Rue Saint-Dominique die gesamte Zeit über nicht so ungezwungen wie sonst gewesen war. Er hatte sich unbeholfen benommen, seine Fragen waren zögernd und ungeschickt gewesen. Ob Janvier das aufgefallen war?
Wenn ja, hatte er vermutlich nicht geahnt, dass all das mit Maigrets Vergangenheit zusammenhing, mit den Jahren, die er im Schatten eines Schlosses verbracht hatte. Sein Vater war dort der Verwalter gewesen, und lange Zeit waren ihm der Comte und die Comtesse de Saint-Fiacre wie höhere Wesen erschienen.
Die beiden Männer hatten sich zum Mittagessen für dieses Restaurant in der Rue de Bourgogne entschieden, weil es eine Terrasse hatte. Nun stellten sie fest, dass hier Beamte aus den umliegenden Ministerien verkehrten, aber auch einige Offiziere in Zivil aus dem Verteidigungsministerium waren darunter.
Es handelte sich nicht um irgendwelche Beamte. Sie alle hatten mindestens den Rang eines Büroleiters, und es wunderte Maigret, dass sie noch so jung waren. Auch ihre Selbstsicherheit überraschte ihn. Man spürte sie an der Art und Weise, wie sie sprachen und sich benahmen. Einige hatten ihn erkannt und flüsterten sich etwas über ihn zu, er ärgerte sich über ihre wissenden Mienen und ironischen Blicke.
Wirkten die Leute vom Quai des Orfèvres, die ebenfalls Beamte waren, auch so, als ob sie auf jede Frage eine Antwort wüssten?
Darüber und über den Vormittag in der Rue Saint-Dominique dachte Maigret gerade nach, als er von Janvier aus seiner Träumerei gerissen wurde. Über den Toten, diesen Comte Armand de Saint-Hilaire, der so lange Botschafter gewesen und mit siebenundsiebzig Jahren ermordet worden war. Die seltsame Jaquette Larrieu mit ihren kleinen, starren Augen, die ihn zu durchschauen versuchten, während sie ihm mit geneigtem Kopf zuhörte und dabei aufmerksam den Bewegungen seiner Lippen folgte. Den blassen, schlaffen Alain Mazeron schließlich, der zwischen Säbeln und Rüstungen einsam in seinem Laden in der Rue Jacob hauste und den Maigret überhaupt nicht einordnen konnte.
Wie hatte es der englische Arzt im ausgedrückt? Die genauen Worte fielen ihm nicht ein. Aber das Wesentliche war, dass ein ungewöhnlich begabter Lehrer, ein Schriftsteller, ein Polizist eher in der Lage waren, in den Kern des Menschen vorzudringen als ein Arzt oder Psychiater.
Warum kam der Polizist an letzter Stelle, nach dem Lehrer und vor allem nach dem Schriftsteller?
Es kränkte ihn ein wenig. Er wünschte sich, diesem Fall gerecht zu werden, als könnte er den Autor des Artikels damit widerlegen.
Als Vorspeise aßen sie Spargel, danach servierte man ihnen Rochen in Beurre noir. Der Himmel über der Straße war immer noch genauso blau, und Frauen in hellen Kleidern spazierten vorbei.
Bevor sie beschlossen hatten, essen zu gehen, waren Maigret und Janvier anderthalb Stunden in der Wohnung des Toten geblieben, die ihnen nun schon vertrauter war.
Man brachte die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut, wo Doktor Tudelle die Autopsie vornahm. Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und die Männer vom Erkennungsdienst fuhren wieder ab. Mit einem Seufzer der Erleichterung zog Maigret die Vorhänge auf und öffnete die Fensterläden, und die Sonne gab den Gegenständen und Möbeln wieder ein gewöhnliches Aussehen.
Es störte den Kommissar nicht, dass die alte Jaquette und der Neffe ihn keinen Moment allein ließen, jede seiner Bewegungen und die Ausdrücke auf seinem Gesicht genau verfolgten. Hin und wieder wandte er sich mit einer Frage an sie.
Vermutlich erstaunte es sie, dass er so lange hin und her ging, ohne sich etwas Bestimmtes genauer anzusehen, als würde er eine Wohnung besichtigen, die er mieten wollte.
Das Arbeitszimmer, das am Morgen in dem künstlichen Licht so erstickend gewirkt hatte, interessierte ihn besonders, und er betrat es insgeheim mit Vergnügen, denn es war einer der angenehmsten Räume, die er je gesehen hatte.
Das Zimmer war hoch und erhielt sein Licht durch eine Glastür, von der drei Stufen unerwartet in einen richtigen Garten führten, mit gut gepflegtem Rasen und einer riesigen Linde, die aus einer Steinlandschaft ragte.
»Wer nutzt diesen Garten?«, fragte er und sah dabei zu den Fenstern der anderen Wohnungen hinauf.
Die Antwort kam von Mazeron:
»Mein Onkel.«
»Kein anderer Mieter?«
»Nein. Das Haus gehörte ihm. Er ist hier geboren. Sein Vater, der noch über ein ziemlich großes Vermögen verfügte, bewohnte das Erdgeschoss und den ersten Stock. Nach seinem Tod hat mein Onkel, dessen Mutter früh gestorben war, diese kleine Wohnung und den Garten für sich behalten.«
Dieses Detail war bezeichnend. Kommt es in Paris nicht selten vor, dass ein siebenundsiebzig Jahre alter Mann noch in seinem Geburtshaus wohnt?
»Und als er Botschafter im Ausland war?«
»Da hat er die Wohnung abgeschlossen und kam zurück, wenn er Urlaub machte.
Anders als man vermuten könnte, brachte ihm das Haus fast nichts ein. Die meisten Mieter wohnen hier schon so lange, dass sie lächerlich kleine Mieten zahlen, und in manchen Jahren zahlte mein Onkel für die Reparaturen und Steuern noch aus eigener Tasche drauf.«
Die Wohnung hatte nur wenige Räume. Das Arbeitszimmer diente zugleich als Wohnzimmer. Daneben befand sich ein Esszimmer, gegenüber die Küche und zur Straße hin ein Schlaf- und ein Badezimmer.
»Wo schlafen Sie?«, fragte Maigret Jaquette.
Sie ließ ihn seine Frage wiederholen, langsam hielt er es für einen Tick von ihr.
»Hinter der Küche.«
Tatsächlich entdeckte er eine Art Abstellraum, wo man ein Eisenbett und einen Schrank aufgestellt und ein Waschbecken mit fließendem Wasser hatte anbringen lassen. Über einem Weihwasserbecken, in dem ein Buchsbaumzweig steckte, hing ein großes Kruzifix aus Ebenholz.
»War der Comte de Saint-Hilaire gläubig?«
»Er ist jeden Sonntag zur Messe gegangen, selbst in Russland.«
Am auffälligsten war die erlesene Harmonie, ein Feinsinn, den Maigret schwer hätte beschreiben können. Die Stilrichtungen der Möbel waren unterschiedlich, und man hatte nicht darauf geachtet, dass sie zusammengehörten. Dennoch war jedes Stück für sich genommen schön, hatte die gleiche Patina, die gleiche Persönlichkeit angenommen.
Das Arbeitszimmer war fast ausschließlich mit gebundenen Büchern gefüllt, auf den Regalen im Flur standen broschierte Ausgaben mit weißen oder gelben Umschlägen.
»War das Fenster geschlossen, als Sie die Leiche entdeckt haben?«
»Sie haben es aufgemacht. Ich habe nicht einmal die Vorhänge angerührt.«
»Und das Fenster im Schlafzimmer?«
»Das war ebenfalls geschlossen. Der Comte fror schnell.«
»Wer besaß einen Schlüssel zur Wohnung?«
»Er und ich. Sonst niemand.«
Janvier hatte den Concierge vernommen. Die kleine, in das große Tor eingelassene Tür stand bis Mitternacht offen. Der Concierge ging nie vor zwölf Uhr schlafen. Dennoch hielt er sich manchmal schon vorher in seinem Zimmer hinter der Loge auf, von wo aus er nicht unbedingt jeden kommen und gehen sah.
Am Tag zuvor war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. »Es ist ein ruhiges Haus«, sagte er immer wieder. In den dreißig Jahren, die er schon dort wohne, habe die Polizei nie einen Fuß hineinsetzen müssen.
Es war noch zu früh, um die Ereignisse des vergangenen Abends oder der Nacht zu rekonstruieren. Man musste den Bericht des Gerichtsmediziners und den von Moers und seinen Männern abwarten.
Eins allerdings schien festzustehen: Saint-Hilaire war nicht schlafen gegangen. Er trug eine...