Simenon | Maigret und der Mann auf der Bank | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 41, 240 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

Reihe: Georges Simenon

Simenon Maigret und der Mann auf der Bank


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70193-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 41, 240 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

Reihe: Georges Simenon

ISBN: 978-3-311-70193-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Kein Leben könnte auf den ersten Blick gewöhnlicher sein als das von Lagerverwalter Louis Thouret aus dem Pariser Vorort Juvisy. Als Thouret aber in einer Seitengasse des Boulevard Saint-Martin erstochen aufgefunden wird, offenbart sich sein heimliches zweites Leben: Seit seiner Entlassung bei der Handelsfirma Kaplan & Zanin ist er dandyhaft herausgeputzt über die Pariser Boulevards spaziert. Was er da getrieben hat und wer ihn ermordet haben könnte, bleibt Maigret lange ein Rätsel.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Simenon Maigret und der Mann auf der Bank jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2 Die Jungfrau mit der dicken Nase


Maigret hatte schon immer eine gewisse Vorliebe für den Abschnitt der Grands Boulevards gehabt, der zwischen der Place de la République und der Rue Montmartre liegt.

Dies war seine Gegend. Hier, am Boulevard Bonne-Nouvelle, wenige Hundert Meter von der Sackgasse entfernt, in der Louis Thouret ermordet worden war, ging er fast jede Woche mit seiner Frau ins Kino. Arm in Arm spazierten sie dorthin wie für einen Besuch in der Nachbarschaft. Und dem Kino gegenüber befand sich die Brasserie, wo er gern eine Choucroute aß.

Ein Stück weiter, Richtung Oper und Madeleine, waren die Boulevards breiter und eleganter. Zwischen der Porte Saint-Martin und der Place de la République wurde es dunkler und enger. Dort war ein solches Gewusel, dass einem fast schwindelig wurde.

Der Morgen war grau, weniger feucht, dafür kälter als tags zuvor. Maigret hatte seine Wohnung um halb neun verlassen und erreichte ohne Eile in einer knappen Viertelstunde den Teil der Rue de Bondy, der auf die Boulevards stößt und vor dem Théâtre de la Renaissance in einen kleinen Platz mündet. Laut Madame Thouret hatte Louis Thouret hier bei Kaplan & Zanin sein ganzes Leben und auch gestern noch gearbeitet.

Die angegebene Nummer gehörte zu einem sehr alten, windschiefen Haus. Rings um das weit offene Eingangsportal waren verschiedene weiße und schwarze Schilder angebracht, auf denen ein Polsterer, ein Schreibmaschinenkurs, ein Geschäft für Bettfedern (dritter Stock links, Treppe A), ein Gerichtsvollzieher und eine diplomierte Masseuse angezeigt wurden. Die Concierge, deren Loge sich in der Toreinfahrt befand, war dabei, die Post zu sortieren.

»Zu Kaplan & Zanin?«, fragte Maigret.

»Oh, lieber Monsieur, die Firma gibt es nicht mehr. Im nächsten Monat sind es schon drei Jahre.«

»Waren Sie damals schon hier im Haus?«

»Im Dezember seit sechsundzwanzig Jahren.«

»Kannten Sie Louis Thouret?«

»Und ob ich Monsieur Louis kenne! Was ist denn aus ihm geworden? Schon seit vier oder fünf Monaten ist er nicht mehr bei mir vorbeigekommen.«

»Er ist tot.«

Jäh unterbrach sie ihr Sortieren.

»Er war doch ganz wohlauf! Was hatte er denn? Sicherlich war’s das Herz, wie bei meinem Mann.«

»Er wurde gestern Nachmittag erstochen, unweit von hier.«

»Ich habe die Zeitung noch gar nicht gelesen.«

Es war nur in einer kleinen Randnotiz über das Verbrechen berichtet worden.

»Wer kommt denn auf die Idee, einen so anständigen Menschen zu ermorden?«

Auch sie selbst war eine anständige Frau, klein und lebhaft.

»Mehr als zwanzig Jahre lang ist er jeden Tag viermal an meiner Loge vorübergekommen, und immer hatte er ein freundliches Wort für mich. Als Monsieur Kaplan die Firma aufgab, war Monsieur Louis so niedergeschlagen, dass …«

Sie musste sich die Augen wischen und die Nase putzen.

»Lebt Monsieur Kaplan noch?«

»Ich kann Ihnen seine Adresse geben. Er wohnt in der Nähe der Porte Maillot, in der Rue des Acacias. Der alte Monsieur Kaplan ist auch sehr anständig, aber ganz anders. Er lebt sicher noch.«

»Womit hat er gehandelt?«

»Kennen Sie denn die Firma nicht?«

Es überraschte sie, dass nicht die ganze Welt die Firma Kaplan & Zanin kannte, und Maigret sagte:

»Ich bin von der Polizei. Ich möchte alles wissen, was mit Monsieur Thouret zu tun hat.«

»Wir nannten ihn Monsieur Louis. Jeder nannte ihn so. Die meisten kannten seinen Familiennamen gar nicht. Wenn Sie sich kurz gedulden …«

Und während sie die letzten Briefe sortierte, murmelte sie zu sich selbst:

»Monsieur Louis ermordet! Wer hätte das gedacht! Ein Mann, der so …«

Nachdem die Post in die Fächer verteilt war, legte sie sich einen Wollschal über die Schultern und schloss die Ofenklappe halb.

»Ich zeige es Ihnen.«

In der Toreinfahrt erklärte sie:

»Vor drei Jahren sollte das Haus abgerissen werden und einem Kino Platz machen. Den Mietern wurde gekündigt. Ich wollte zu meiner Tochter ins Département Nièvre ziehen. Aus diesem Grund hat auch Monsieur Kaplan seine Firma aufgegeben. Sie lief auch nicht mehr so gut. Der junge Monsieur Kaplan, Monsieur Max, wie wir ihn nannten, hatte immer andere Vorstellungen als sein Vater. So, hier entlang.«

Hinter der Toreinfahrt gelangte man auf einen Hof. Im Hintergrund ragte ein großes Gebäude mit einem Glasdach auf. Es erinnerte an eine Bahnhofshalle. An der Mauer standen noch ein paar Buchstaben vom Firmennamen .

»Die Zanins gab es schon nicht mehr, als ich vor sechsundzwanzig Jahren hier ins Haus kam. Damals führte Monsieur Kaplan die Geschäfte allein. Auf der Straße drehten sich die Kinder nach ihm um, weil er wie ein alter Zauberer aussah.«

Die Tür war nicht geschlossen, das Schloss abgerissen. Jetzt war hier alles tot, aber noch vor wenigen Jahren war es ein Teil der Welt von Louis Thouret gewesen. Wie diese eigentlich ausgesehen hatte, konnte man heute kaum noch nachvollziehen. Es war ein riesiger Raum mit einem Glasdach in großer Höhe. Einige der Scheiben fehlten, andere waren blind geworden. Wie in einem Warenhaus gab es eine umlaufende zweistöckige Galerie. Wo die Regale an den Wänden gestanden hatten, war noch gut zu erkennen.

»Jedes Mal, wenn er mir einen kleinen Besuch machte …«

»Kam er oft?«

»Vielleicht alle zwei, drei Monate, und er brachte mir immer irgendeine Süßigkeit mit. Jedes Mal, wie gesagt, warf er dann auch einen Blick hierhinein. Es war zu spüren, dass ihm das Herz immer wieder schwer wurde. Zwanzig Packerinnen und zum Schluss sogar noch mehr haben hier gearbeitet. In der Hochsaison wurden oft Nachtschichten eingelegt. Monsieur Kaplan verkaufte nicht direkt an das Publikum, sondern an Geschäfte in der Provinz, an Hausierer und Straßenhändler. Er hatte so viele Waren, dass man sich kaum darin zurechtfinden konnte. Monsieur Louis war der Einzige, der genau wusste, wo jeder einzelne Artikel lag. Mein Gott, was es da alles gab: falsche Bärte, Papptrompeten, bunte Kugeln für den Weihnachtsbaum, Luftschlangen für den Karneval, Masken, Andenken, wie man sie in den Badeorten kaufen kann.«

»War Monsieur Louis der Lagerverwalter?«

»Ja. Er trug immer einen grauen Kittel. Dort rechts in der Ecke befand sich in einem Glaskasten das Büro des jungen Monsieur Kaplan. Nach dem ersten Schlaganfall kam sein Vater nicht mehr ins Geschäft. Er hatte eine Sekretärin, Mademoiselle Léone. Und in einem kleinen Verschlag im ersten Stock arbeitete der alte Buchhalter. Niemand ahnte, was auf uns zukam. Eines Tages, es war Oktober oder November, ich weiß es nicht mehr genau, aber es war schon recht kalt, rief Monsieur Max Kaplan alle Mitarbeiter zusammen und teilte ihnen mit, dass er die Firma schließt. Er hatte schon einen Abnehmer für die Lagerbestände gefunden. Damals dachten alle, das Haus würde im nächsten Jahr abgerissen, für ein Kino, wie ich Ihnen schon gesagt habe.«

Maigret hörte geduldig zu, während er um sich blickte und sich vorzustellen versuchte, wie es hier in der Glanzzeit der Firma ausgesehen haben mochte.

»Das Vorderhaus sollte ebenfalls verschwinden. Auch dort wurde allen Mietern gekündigt. Einige zogen aus, andere blieben einfach. Und sie hatten schließlich recht damit, sie wohnen noch heute dort. Als das Haus verkauft wurde, weigerten sich die neuen Eigentümer allerdings, irgendwelche Reparaturen vorzunehmen. Und seitdem laufen, ich weiß nicht, wie viele Prozesse. Der Gerichtsvollzieher kommt fast jeden Monat. Zweimal habe ich schon meine Siebensachen gepackt.«

»Kennen Sie Madame Thouret?«

»Ich habe sie nie gesehen. Sie wohnte weit draußen, in Juvisy.«

»Da wohnt sie noch immer.«

»Haben Sie sie kennengelernt? Was ist sie für eine?«

Maigret schnitt nur ein Gesicht. Sie verstand ihn sofort.

»Das habe ich mir gedacht. Man merkte, dass er dort nicht glücklich war. Sein Zuhause war hier. Darum traf ihn der Schlag am härtesten, das habe ich schon oft gesagt. Außerdem war er in einem Alter, wo man nicht so leicht ein neues Leben beginnt.«

»Wie alt war er?«

»Fünfundvierzig oder sechsundvierzig.«

»Wissen Sie, was er dann gemacht hat?«

»Er hat es mir nie erzählt. Er hatte wohl eine schwere Zeit und kam lange nicht her. Einmal machte ich, wie immer in Eile, meine Besorgungen, da sah ich ihn auf einer Bank sitzen. Das hat mich bestürzt. Ein Mann wie er, am helllichten Tag … das ist nicht der richtige Ort, verstehen Sie? Ich hätte ihn fast angesprochen. Aber dann dachte ich, vielleicht ist es ihm peinlich. Also habe ich einen Umweg gemacht.«

»Wie viel Zeit war seit der Schließung der Firma vergangen?«

Es war kalt unter dem Glasdach, kälter als draußen auf dem Hof, und die Concierge sagte:

»Vielleicht möchten Sie sich bei mir in der Loge noch ein bisschen aufwärmen? Wie viel Zeit vergangen war, kann ich nicht genau sagen. Es war noch nicht Frühling, denn die Bäume hatten keine Blätter. Wahrscheinlich war’s gegen Ende des Winters.«

»Wann haben Sie ihn wiedergesehen?«

»Lange danach, im Hochsommer. Am meisten habe ich mich über seine gelben Schuhe gewundert. Warum gucken Sie so?«

»Schon gut. Erzählen Sie weiter!«

»Er trug normalerweise schwarze Schuhe, anders habe ich ihn nie gesehen. Er kam in die Loge und legte ein Päckchen auf den Tisch. Eingepackt in weißes Papier und mit einem goldenen Band. Es war Schokolade darin. Er setzte sich auf diesen Stuhl. Ich habe ihm einen Kaffee gemacht, bin schnell zur...


Madlung, Mirjam
Mirjam Madlung studierte Literaturwissenschaften, arbeitete in Verlagen, lebt als freiberufliche Lektorin in Schleswig-Holstein und u¨bersetzt aus dem Niederländischen, Englischen und Französischen.

Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.