E-Book, Deutsch, Band 73, 224 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
Simenon Maigret und der einsame Mann
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70191-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 73, 224 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
ISBN: 978-3-311-70191-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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2
Am nächsten Morgen war die schlechte Stimmung verflogen, und Maigret machte sich zu Fuß auf den Weg zum Quai des Orfèvres. Die städtischen Kehrmaschinen fuhren langsam durch die fast menschenleeren Straßen und hinterließen breite feuchte Streifen auf dem Pflaster. Von der Seine stieg warmer Dunst auf.
Als er die Treppe zur Kriminalpolizei hinaufging, bemerkte er einen Fotografen, der mit Apparaten behängt auf ihn wartete. Maigret kannte ihn gut. Er arbeitete für eine Agentur und war immer vor Ort. Oft harrte er stundenlang aus, in der Hoffnung, dass sich irgendetwas ereignete. Er hatte rotes Haar, wirkte wie ein großer Junge, und wenn man ihn durch eine Tür hinauswarf, kam er durch eine andere wieder herein. Wenn nötig, auch durchs Fenster.
Er hieß Marcel Caune, aber seine Kollegen nannten ihn Coco.
Er schoss ein Foto von Maigret auf der Treppe, für alle Fälle. Es war bestimmt sein zweihundertstes Foto von dem Kommissar.
»Haben Sie Zeugen vorgeladen?«
»Nein.«
»Aber im Flur wartet jemand auf Sie.«
»Ist mir neu.«
Tatsächlich saß auf einer Bank ein Mann. Trotz seines hohen Alters hielt er sich kerzengerade. Er sprang sogleich auf.
»Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen, Herr Kommissar?«
»Handelt es sich um den Fall bei den Markthallen?«
»Ja. Um den Mord in der Impasse du Vieux-Four.«
»Einen Augenblick bitte.«
Er warf nach alter Gewohnheit zuerst einen Blick in das Büro der Inspektoren. Sie saßen in Hemdsärmeln da, bei weit aufgerissenem Fenster. Torrence blätterte in einer Zeitung mit der Schlagzeile:
Kommissar Maigret verfolgt eine Spur
Tatsächlich gab es nicht die geringste Spur.
»Irgendwelche Neuigkeiten, Kinder?«
»Anonyme Briefe wie immer. Und zwei weitere von den üblichen Irren …«
Von seinem Büro aus rief Maigret in der Friseurschule an.
»Monsieur Joseph? Ich habe eine Bitte. Könnten Sie einen Ihrer Lehrlinge ins Gerichtsmedizinische Institut schicken, damit er Aristo Schnurr- und Kinnbart abrasiert?«
»Ich komme lieber selbst, die Angelegenheit ist recht heikel.«
»Der Aufwand wird selbstverständlich entlohnt.«
Danach rief Maigret den Erkennungsdienst an. Moers war am Apparat.
»Ist Mestral da?«
»Gerade gekommen.«
»Würden Sie ihn ins Gerichtsmedizinische Institut schicken? Er trifft dort auf einen Friseur, der unserem Unbekannten Schnurr- und Kinnbart abnimmt. Sobald er fertig ist, soll Mestral ein paar gute Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln machen. Es ist eilig.«
Er hatte kaum aufgelegt, da klingelte das Telefon.
»Hallo? Kommissar Maigret?«
Die Stimme kam ihm bekannt vor.
»Ich habe Sie gestern wegen des Mordfalls bei den Markthallen angerufen.«
Die junge Frau. Ohne Zweifel.
»Ich nehme an, Sie wollen Ihre Frage wiederholen?«
»Ja.«
»Sie sind nicht die Einzige.«
»Ach so?«
»Eine weitere Frau hat mich angerufen und dasselbe gefragt.«
»Was haben Sie ihr geantwortet?«
»Ich werde es Ihnen sagen, wenn Sie herkommen oder mir Ihren Namen und Ihre Adresse nennen.«
»Das möchte ich nicht.«
»Wie Sie wollen …«
Diesmal legte Maigret auf und murmelte:
»Miststück.«
Mindestens drei Personen wussten also, wer Aristo war: die beiden Frauen, die wegen der Narbe angerufen hatten, und natürlich der Mörder.
Maigret ging zur Tür und trat in den Flur. Der kleine, dürre Mann sprang wiederum auf und kam auf ihn zu.
»Ich hatte schon Sorge, Sie würden mich nicht mehr empfangen.«
An seiner Art zu gehen, zu sprechen, an seiner aufrechten Haltung, war irgendetwas, das Maigret besonders auffiel.
»Ich heiße Émile Hugon und wohne in der Rue Lepic, in derselben Wohnung, in der schon meine Eltern lebten.«
»Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Ich bin jetzt fünfundachtzig Jahre alt.«
Er schien sehr stolz darauf zu sein, dieses Alter in derart guter Verfassung erreicht zu haben.
»Ich bin zu Fuß von Montmartre heruntergekommen und gehe täglich zwei Stunden spazieren.«
Maigret sah ein, dass es sinnlos war, ihm Fragen zu stellen.
»In meinem Viertel nennt man mich den Colonel. Aber ich bin niemals Oberst gewesen, nur Hauptmann. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war ich auf der Unteroffiziersschule. Ich habe Verdun und Chemin des Dames miterlebt. Vor Verdun ist mir nichts geschehen. Aber am Chemin des Dames bin ich am Bein verwundet worden. Seitdem hinke ich … Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war ich schon zu alt, da wollte man mich nicht mehr.«
Er schien sehr zufrieden mit sich zu sein. Der Kommissar wappnete sich mit Geduld und hoffte inständig, der Colonel würde ihm nicht sein Leben in allen Einzelheiten schildern.
Aber stattdessen fragte der Alte plötzlich:
»Haben Sie ihn identifiziert?«
»Noch nicht.«
»Wenn ich mich nicht täusche, und das würde mich wundern, ist es Marcel Vivien.«
»Kannten Sie ihn persönlich?«
»Er hatte seine Werkstatt in dem Hof genau unter meiner Wohnung. Wenn ich hinausging, schaute ich oft bei ihm vorbei, um guten Tag zu sagen.«
»Wann war das?«
»Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1945.«
»Wie alt war er da?«
»Etwa fünfunddreißig. Es war ein großer, kräftiger Mann mit einem offenen, intelligenten Gesicht.«
»Welchen Beruf hat er ausgeübt?«
»Er war Kunsttischler und hat auch eine Kunstgewerbeschule besucht. Sein Fachgebiet war es, antike Möbel wieder herzurichten. Ich habe wunderbare Stücke bei ihm gesehen, mit Intarsien verziert.«
»Wohnte er im selben Haus wie Sie?«
»Nein. Er hatte nur seine verglaste Werkstatt dort. Morgens kam er, und abends ging er wieder nach Hause.«
»Sah er wirklich so aus wie auf dem Foto, das Sie in der Zeitung gesehen haben?«
»Ich könnte schwören, dass er es ist. Allerdings trug er damals keinen Bart.«
»Wissen Sie, ob er verheiratet war?«
»Bestimmt. Eine Frau in seinem Alter hat ihn manchmal abends abgeholt. Er hatte auch eine kleine Tochter, sieben oder acht Jahre alt. Wenn sie von der Schule kam, ging sie oft in die Werkstatt, um ihm einen Kuss zu geben.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Ende 1945 oder Anfang 1946 … Eines Morgens ist er nicht in die Werkstatt gekommen, am nächsten nicht und an allen anderen auch nicht. Ich habe zuerst gedacht, er sei krank. Dann ist seine Frau gekommen. Sie hatte einen Schlüssel, ist in die Werkstatt gegangen und sehr lange dort geblieben. Als würde sie Inventur machen.«
»Haben Sie sie danach wiedergesehen?«
»Sie wohnt immer noch in meinem Viertel und kauft oft bei den kleinen Gemüsekarren in der Rue Lepic ein. Ich habe auch ihre Tochter noch jahrelang gesehen. Sie ist zu einer jungen Frau geworden und inzwischen wahrscheinlich verheiratet.«
»Was ist aus den Möbeln geworden, die noch in der Werkstatt waren?«
»Die hat eine Möbelhändlerin abgeholt. Und nun hat sich ein Schlosser dort niedergelassen.«
Maigret zeigte ihm sämtliche Fotos von dem Mann aus der Impasse du Vieux-Four, und der Oberst schaute sie sich aufmerksam an.
»Ich bleibe bei meiner Meinung. Ich bin fast sicher, dass er es ist. Ich bin schon lange pensioniert. Im Sommer setze ich mich in einen Park oder vor ein Café und betrachte die Menschen. Ich versuche mir vorzustellen, welchen Beruf sie haben und wie sie leben. Das hat mich zu einem guten Beobachter gemacht.«
»Wissen Sie, ob der Mann irgendwann einen Unfall hatte?«
»Er besaß keinen Wagen.«
»Es gibt auch andere Unfälle. Hatte er jemals eine Kopfverletzung?«
Der Oberst schlug sich gegen die Stirn.
»Aber natürlich. Es war mitten im Sommer und so heiß wie heute. Er hat im Hof an einem Stuhl gearbeitet, dem ein Bein fehlte. Ich sah vom Fenster aus zu, als ihm plötzlich ein Geranientopf auf den Kopf fiel. Mademoiselle Blanche aus dem dritten Stock hatte ihn beim Blumengießen versehentlich hinuntergestoßen.
Er wollte weder ins Krankenhaus noch zu einem Arzt. Er hat die Wunde desinfiziert und sich von dem Apotheker gegenüber einen Verband anlegen lassen.«
»Hat man die Narbe sehen können?«
»Eigentlich nicht, er hatte dichtes und ziemlich langes Haar.«
»Erinnern Sie sich sonst noch an irgendetwas? Haben Sie den Mann noch einmal in Ihrem Viertel gesehen?«
»Nein.«
»Aber seine Frau und seine Tochter wohnten weiterhin dort? Er ist also nicht mit seiner Familie weggezogen?«
»In der Tat.«
»Wissen Sie, ob er trank?«
»Nein, sicher nicht. Jeden Morgen gegen zehn schloss er für ein paar Minuten seine Werkstatt und ging in ein kleines Bistro, um einen Kaffee zu trinken.«
»Leben in Ihrem Haus noch andere Mieter, die schon 1945 dort wohnten?«
»Lassen Sie mich nachdenken … Die Concierge … Ja, sie ist noch dieselbe. Ihr Mann war Polizist. Er ist bereits gestorben. Sie ist inzwischen sehr alt. Mademoiselle Blanche, die ich eben erwähnt habe, wohnt auch noch dort, aber sie schafft es nicht mehr aus ihrem Lehnstuhl heraus und scheint auch nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein. Und in den anderen Stockwerken … Die Trabuchets im dritten. Er war Finanzbeamter. Jetzt ist er auch pensioniert. Sie sind natürlich alle älter geworden.«
»Glauben Sie, dass sie Marcel Vivien wiedererkennen würden?«
»Das ist möglich. Die Fenster der Trabuchets gehen allerdings auf die Straße. Sie...