E-Book, Deutsch, Band 23, 208 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
Simenon Maigret contra Picpus
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70239-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 23, 208 Seiten
Reihe: Georges Simenon. Maigret
ISBN: 978-3-311-70239-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1 Hat Picpus gelogen?
Drei Minuten vor fünf. Auf dem riesigen Plan von Paris, der eine ganze Wand bedeckte, leuchtete ein weißes Lämpchen auf. Ein Beamter legte sein Sandwich ab und steckte einen Stöpsel in eins der tausend Löcher der Telefonzentrale.
»Hallo! Vierzehntes? … Euer Wagen ist eben abgefahren?«
Maigret, der gern gleichgültig gewirkt hätte, stand in der Sonne und wischte sich den Schweiß ab. Der Beamte brummte etwas vor sich hin, zog den Stöpsel heraus, nahm sein Sandwich wieder in die Hand und murmelte, an den Kommissar gewandt: »Ein Bercy!«
Im Polizeijargon bedeutete das Säufer. Es war August. Paris roch nach Asphalt. Der Lärm der Stadt drang durch die weitgeöffneten Fenster in den Raum, der so etwas wie das Gehirn der Notrufzentrale war. Unten im Hof des Polizeipräsidiums konnte man zwei Wagen voller Polizisten sehen, bereit, auf das erste Zeichen hin loszufahren.
Wieder ein Lämpchen, diesmal im 18. Arrondissement. Weg mit dem Wurstsandwich. Stöpsel.
»Hallo? … Ach du, Gérard … Auf Wache? … Was gibt’s bei dir, mein Lieber? … Gut, geht in Ordnung …«
Ein Fenstersturz. Auf diese Art brachten sich die armen Leute um, besonders die älteren, und merkwürdigerweise vor allem im 18. Arrondissement. Maigret klopfte seine Pfeife auf der Fensterbank aus, stopfte sie von Neuem und sah auf die Uhr. Zwei Minuten nach fünf. Hatte man die Wahrsagerin getötet oder nicht?
Die Tür wurde geöffnet. Lucas kam herein, klein, rundlich, geschäftig. Auch er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Immer noch nichts, Chef?«
Wie Maigret hatte er nur den Boulevard überqueren müssen, der die Kriminalpolizei vom Polizeipräsidium trennte.
»Hören Sie, dieser Typ ist da.«
»Mascouvin?«
»Er ist kreidebleich. Er will Sie unbedingt sprechen. Er behauptet, es bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich umzubringen.«
Ein Lämpchen leuchtete auf. Ob diesmal …? Nein, eine Schlägerei an der Porte de Saint-Ouen.
Telefon. Der Direktor der Kriminalpolizei verlangte den Kommissar.
»Hallo, Maigret … Und? … Nichts?«
Man spürte die Ironie in seiner Stimme. Maigret war wütend. Ihm war heiß. Was hätte er jetzt für ein ordentlich gezapftes Bier gegeben! Und zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich fast, dass ein Verbrechen – das Verbrechen, auf das er wartete – begangen wurde. Sehr richtig! Wenn die Wahrsagerin nicht genau um fünf Uhr – oder vielmehr um fünf Uhr nachmittags, wie es auf der Schreibunterlage stand – ermordet wurde, müsste er monatelang das spöttische Lächeln seiner Umgebung und mehr oder weniger geistreiche Scherze über sich ergehen lassen.
»Bring Mascouvin her.«
Der Mann sah weiß Gott nicht wie ein Spaßvogel aus! Er hatte sich tags zuvor am Quai des Orfèvres eingefunden, düster, stur, mit einem nervösen Zucken im Gesicht. Um jeden Preis wollte er mit Kommissar Maigret persönlich sprechen.
»Es geht um Leben und Tod!«, sagte er.
Ein kleiner, hagerer, ziemlich unscheinbarer Mann mittleren Alters, der den muffigen Geruch eines ungepflegten Junggesellen ausströmte. Während er seine Geschichte erzählte, zog er an seinen Fingern und ließ sie knacken, wie ein Schüler, der etwas aufsagt.
»Ich arbeite seit fünfzehn Jahren bei Proud et Drouin, den Immobilienmaklern am Boulevard Bonne-Nouvelle. Ich lebe allein in einer Zweizimmerwohnung an der Place des Vosges 21. Jeden Abend spiele ich eine Partie Bridge in einem Klub in der Rue des Pyramides. Seit zwei Monaten bin ich vom Pech verfolgt. Alle meine Ersparnisse sind dabei draufgegangen. Ich schulde der Comtesse achthundert Franc …«
Maigret hörte kaum zu und dachte, dass halb Paris im Urlaub war und der Rest gerade kühle Getränke unter den Markisen der Terrassen genoss. Was für eine Comtesse? Der traurige Mann erklärte es. Eine Dame von Welt, die Unglück gehabt hatte und einen Bridgesalon in der Rue des Pyramides betrieb. Eine sehr schöne Frau. Man spürte, dass der Mann verliebt in sie war.
»Heute um vier Uhr, Herr Kommissar, habe ich einen Tausendfrancschein aus der Kasse meiner Chefs genommen.«
Seine Miene war so tragisch, als hätte er eine ganze Familie umgebracht. Während er mit seiner Beichte fortfuhr, ließ er unaufhörlich die Finger knacken. Nachdem er bei Proud et Drouin Feierabend gemacht hatte, war er mit seinem Tausendfrancschein in der Tasche über die Boulevards geirrt. Geplagt von Gewissensbissen. Er war ins Café des Sports an der Ecke Place de la République und Boulevard Voltaire gegangen, wo er jeden Abend vor dem Essen allein einen Aperitif trank.
»Was zu schreiben, Nestor!«
Denn er nannte den Kellner beim Vornamen. Ja, er würde seinen Vorgesetzten schreiben. Er würde ihnen alles beichten und den Tausendfrancschein zurückschicken. Was für eine Pechsträhne! Seit zwei Monaten verlor er unentwegt. Die Comtesse, die er heimlich anbetete, hatte nur Augen für einen pensionierten Kapitän. Von Mascouvin hatte sie unerbittlich die Summe gefordert, die er ihr schuldete.
Inmitten der rings um ihn wimmelnden Menge starrte der Angestellte auf die Schreibunterlage vor ihm. Geistesabwesend hatte er seine Brille daraufgelegt, die er mit großen, kurzsichtigen Augen betrachtete. Da geschah es: Eines der Gläser diente als Spiegel und reflektierte die auf der Unterlage getrockneten Tintenstriche. Mascouvin erkannte ein Wort: Er sah aufmerksamer hin. Das Brillenglas stellte das ursprüngliche Schriftbild wieder her:
Morgen Nachmittag um fünf töte ich die Wahrsagerin. Gezeichnet: Picpus.
Fünf nach fünf. Der Beamte aus der Zentrale hatte Zeit gehabt, sein nach Knoblauch riechendes Wurstsandwich aufzuessen, da keins der weißen Lämpchen auf dem Pariser Stadtplan aufgeleuchtet hatte. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Lucas, der den zerknirschten Mascouvin hereinführte.
Am Vortag hatte Maigret ihm geraten, wieder nach Hause zu gehen, sich wie gewohnt in sein Büro zu begeben und die tausend Franc wieder an ihren Platz zu legen. Für alle Fälle war Lucas dem Mann gefolgt. Gegen neun Uhr abends hatte er sich in der Rue des Pyramides herumgetrieben, aber nicht das Haus der Comtesse betreten. Er hatte zu Hause an der Place des Vosges geschlafen. Morgens war er ins Büro gegangen, und mittags hatte er in einem billigen Lokal am Boulevard Saint-Martin gegessen.
Gegen halb fünf hatte er plötzlich – als hielte er es dort nicht mehr aus – die düsteren Büros von Proud et Drouin verlassen, um sich zum Quai des Orfèvres zu begeben.
»Ich kann nicht mehr, Herr Kommissar. Ich traue mich nicht mehr, meinen Chefs ins Gesicht zu blicken. Es kommt mir vor …«
»Setzen Sie sich, und halten Sie den Mund.«
Acht Minuten nach fünf! Eine strahlende Sonne schien über dem lebhaften Treiben von Paris. Die Männer gingen in Hemdsärmeln durch die Straßen, und die Frauen waren fast nackt unter ihren leichten Kleidern. Währenddessen überwachte die Polizei vierhundertzweiundachtzig mehr oder weniger hellsichtige Wahrsagerinnen!
»Meinen Sie nicht, Maigret, dass es ein Witz ist?«
Lucas machte sich Sorgen um seinen Chef, weil dieser riskierte, sich lächerlich zu machen. Im 3. Arrondissement ging ein Lämpchen an.
»Hallo! … Gut! … Geht in Ordnung!«
Und der Beamte sagte seufzend zu Maigret:
»Wieder ein Bercy. Dabei ist noch nicht mal Samstag.«
Mascouvin, der nicht still sitzen konnte und wieder seine Finger knacken ließ, öffnete den Mund.
»Pardon, Herr Kommissar. Ich wollte Ihnen sagen …«
»Ich will nichts hören«, fuhr Maigret ihn an.
Würde sich der Mann namens Picpus entschließen, die Wahrsagerin zu töten oder nicht?
Ein Lämpchen. Wieder das 18. Arrondissement.
»Hallo! … Kommissar Maigret? … Einen Augenblick …«
Maigrets Herz machte einen kleinen Sprung, als er zum Hörer griff.
»Hallo! … Ja … Die Wache in der Rue Damrémont? … Was sagen Sie? … Rue Caulaincourt 67a? … Mademoiselle Jeanne? … Eine Wahrsagerin?«
Seine Stimme schmetterte wie eine Trompete. In seinem Gesicht spiegelte sich Aufregung.
»Los, Kinder! Nimm ihn mit, Lucas! Man kann nie wissen …«
Wie ein Schlafwandler – einer von der trübseligen Art – folgte Joseph Mascouvin den beiden Männern die staubige Treppe hinunter. Im Hof wartete ein Polizeiwagen.
»Rue Caulaincourt 67a. Schnell!«
Unterwegs studierte Maigret die Liste der Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, die er tags zuvor hatte erstellen lassen und die man diskret überwacht hatte. Natürlich war Mademoiselle Jeanne nicht darunter!
»Schneller, mein Lieber.«
Und dann noch dieser Dummkopf Mascouvin, der ängstlich fragte:
»Ist sie tot?«
Maigret fragte sich, ob er wirklich so naiv war, wie er tat. Es würde sich bald herausstellen.
»Revolver?«, murmelte Lucas.
»Messer.«
Man brauchte nicht die Hausnummer zu suchen. Genau gegenüber der Place Constantin-Pecqueur wies eine Menschenansammlung auf das Haus hin, in dem sich soeben das Drama abgespielt hatte.
»Soll ich auf Sie warten?«, stammelte Mascouvin.
»Kommen Sie mit rein! Los, kommen Sie!«
Die Polizisten traten zur Seite,...