E-Book, Deutsch, Band 46, 256 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
Simenon Maigret beim Minister
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70198-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 46, 256 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
ISBN: 978-3-311-70198-9
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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2 Der Anruf des Ministerpräsidenten
Wohl schon so manches Mal im Lauf seiner Karriere hatte er dieses Gefühl gehabt, aber nie, schien es ihm, hatte er es so intensiv gespürt. Die Intimität dieses kleinen warmen Zimmers, ebenso der Geruch des Eau de Vie, der Schreibtisch, der dem seines Vaters ähnelte, die Fotos der »Alten« an den Wänden, all das trug dazu bei, dass Maigret sich wirklich wie ein Arzt vorkam, den man in höchster Not gerufen und in dessen Hände der Patient sein Schicksal gelegt hat.
Das Seltsamste war, dass der Mann, der ihm hier gegenübersaß und auf seine Diagnose zu warten schien, ihm so ähnlich war, wenn nicht wie ein Bruder, so doch zumindest wie ein naher Verwandter. Die Ähnlichkeit war nicht nur äußerlich. Ein Blick auf die Familienfotos sagte dem Kommissar, dass Point und er in etwa aus der gleichen Welt kamen. Sie beide waren auf dem Land geboren, beide kamen aus einer recht fortschrittlichen Bauernfamilie. Wahrscheinlich hatten die Eltern des Ministers wie Maigrets Eltern schon bei seiner Geburt den Ehrgeiz gehabt, aus ihm einen Arzt oder Anwalt zu machen.
Point hatte ihre Hoffnungen weit übertroffen. Hatten sie es noch erlebt?
Er wagte es noch nicht, diese Fragen zu stellen. Vor ihm saß ein gebrochener Mensch, und der Grund dafür, das spürte Maigret, war nicht Schwäche. Wie er ihn so ansah, erfüllten ihn die verschiedensten Gefühle: Ekel, Zorn, aber auch Mutlosigkeit.
Einmal in seinem Leben hatte er sich in einer ähnlichen, wenn auch weniger dramatischen Lage befunden, und das ebenfalls wegen einer politischen Affäre. Er war ganz zufällig da hineingestolpert. Er hatte gehandelt, wie er handeln musste, hatte sich nicht nur anständig verhalten, sondern ganz so, wie es seiner Pflicht als Beamter entsprach.
Trotzdem war er in den Augen aller oder fast aller im Unrecht gewesen. Er hatte vor einem Disziplinargericht erscheinen müssen, und da alles gegen ihn sprach, war man gezwungen gewesen, ihm die Schuld zuzuweisen.
Er hatte für eine Weile aus der Kriminalpolizei ausscheiden müssen und war für ein Jahr zur Polizei in Luçon in der Vendée strafversetzt worden, genau in das Département, das Point in der Kammer vertrat.
Obwohl seine Frau und seine Freunde ihm immer wieder versicherten, dass er nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hatte, nahm er manchmal unbewusst die Haltung eines Schuldigen ein. Während seiner letzten Tage bei der Kriminalpolizei, als sein Fall an höherer Stelle noch diskutiert wurde, wagte er nicht einmal mehr seinen Untergebenen Anweisungen zu geben, auch nicht Lucas oder Janvier. Und wenn er die große Treppe hinunterstieg, schlich er immer dicht an der Wand entlang.
Und jetzt war Point nicht mehr in der Lage, seine Situation nüchtern zu überdenken. Er hatte nun alles gesagt, was er zu sagen hatte. Sein Verhalten in den letzten Stunden war das eines Menschen gewesen, der spürt, dass er untergeht, und der nur noch auf ein Wunder hoffen kann.
War es nicht seltsam, dass er gerade Maigret um Hilfe gebeten hatte, den er nicht kannte, den er nie gesehen hatte?
Unbewusst nahm Maigret ihn jetzt an der Hand, und seine Fragen ähnelten denen eines Arztes, der versucht, eine Diagnose zu stellen.
»Haben Sie Piquemals Identität inzwischen überprüft?«
»Ich habe meine Sekretärin bei der Hochschule für Straßen- und Brückenbau anrufen lassen, und man hat ihr bestätigt, dass Jules Piquemal dort seit fünfzehn Jahren als Aufseher beschäftigt ist.«
»Ist es nicht merkwürdig, dass er persönlich zu Ihnen gekommen ist, statt das Dokument dem Rektor der Hochschule zu übergeben?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht darüber nachgedacht.«
»Das weist doch darauf hin, dass er sich über die Bedeutung des Schriftstücks bewusst gewesen ist.«
»Ja. Vermutlich.«
»Piquemal ist jedenfalls außer Ihnen der Einzige, der seit dem Auftauchen des Berichts die Gelegenheit gehabt hat, ihn zu lesen.«
»Wenn man von dem oder denen absieht, die ihn jetzt in Händen haben.«
»Damit beschäftigen wir uns später. Wenn ich mich nicht irre, hat außer Piquemal eine einzige Person seit Dienstagmittag um ein Uhr gewusst, dass Sie im Besitz des Dokuments sind.«
»Sie meinen den Ministerpräsidenten?«
Point sah Maigret entsetzt an. Der jetzige Regierungschef, Oscar Malterre, war ein Mann von fünfundsechzig Jahren, der seit seinem vierzigsten Lebensjahr fast allen Kabinetten angehört hatte. Schon sein Vater war Präfekt gewesen, einer seiner Brüder war Abgeordneter und ein anderer Gouverneur einer Kolonie.
»Sie vermuten doch nicht etwa …«
»Ich vermute nichts, Herr Minister. Ich versuche, mir ein Bild zu machen. Der Calame-Bericht befand sich gestern Abend hier in diesem Zimmer. Seit heute Nachmittag ist er nicht mehr hier. Sind Sie sicher, dass die Tür nicht aufgebrochen wurde?«
»Sie können selbst nachsehen. Weder am Holz noch am Schloss sind Spuren zu erkennen. Vielleicht wurde ein Dietrich benutzt?«
»Und das Schloss an Ihrem Schreibtisch?«
»Hier, sehen Sie, es ist ein ganz einfaches Schloss. Wenn ich meinen Schlüssel vergessen hatte, habe ich es schon manchmal mit einem Stück Draht geöffnet.«
»Wenn Sie erlauben, mache ich mit den üblichen Fragen eines Polizeibeamten weiter – nur, um die Situation zu überblicken. Wer außer Ihnen besitzt einen Wohnungsschlüssel?«
»Meine Frau natürlich.«
»Sie sagten, dass sie von dem Calame-Bericht nichts weiß.«
»Ich habe mit ihr nicht darüber gesprochen. Sie weiß nicht einmal, dass ich gestern und heute hier war.«
»Verfolgt sie das politische Geschehen?«
»Sie liest die Zeitung, hält sich einigermaßen auf dem Laufenden, damit wir über meine Arbeit sprechen können. Als man mir vorschlug, mich zur Wahl zu stellen, hat sie versucht, mich davon abzubringen. Sie wollte auch nicht, dass ich Minister werde. Sie hat keinen Ehrgeiz.«
»Stammt sie auch aus La Roche-sur-Yon?«
»Ihr Vater war dort Anwalt.«
»Kommen wir wieder auf die Schlüssel zurück. Wer hat sonst noch einen?«
»Meine Sekretärin, Mademoiselle Blanche.«
»Wie lautet ihr Nachname?«
Maigret machte sich Notizen in sein schwarzes Notizbuch.
»Blanche Lamotte. Sie ist … warten Sie … einundvierzig … nein, zweiundvierzig Jahre alt.«
»Kennen Sie sie schon lange?«
»Sie ist mit siebzehn gleich nach ihrem Abschluss als Stenotypistin in meinen Dienst getreten und seitdem immer bei mir geblieben.«
»Stammt sie auch aus La Roche?«
»Aus einem Dorf in der Nähe. Ihr Vater war Metzger.«
»Hübsch?«
Point schien nachzudenken, als ob er sich die Frage noch nie gestellt hätte.
»Nein, das kann man nicht sagen.«
»Ist sie in Sie verliebt?«
Maigret lächelte, als er sah, wie der Minister errötete.
»Woher wissen Sie das? Sagen wir, sie ist auf ihre Art in mich verliebt. Ich glaube nicht, dass in ihrem Leben je ein Mann eine Rolle gespielt hat.«
»Ist sie eifersüchtig auf Ihre Frau?«
»Nicht im üblichen Sinn des Wortes. Ich denke, sie ist eifersüchtig auf das, was sie als ihren Besitz betrachtet.«
»Das heißt, im Büro wacht sie über Sie.«
Obwohl Point selbst schon vieles erlebt hatte, war er überrascht über die einfachen Wahrheiten, die Maigret da aufdeckte.
»Sie war in Ihrem Büro, sagten Sie, als Piquemal gemeldet wurde, und Sie haben sie hinausgeschickt. Hatten Sie, als Sie sie wieder hereinriefen, den Bericht noch in der Hand?«
»Ich glaube, ja … aber ich versichere Ihnen …«
»Verstehen Sie mich richtig, Herr Minister, ich klage niemanden an, ich verdächtige niemanden. Wie Sie versuche ich, mir Klarheit zu verschaffen. Gibt es noch weitere Schlüssel zu dieser Wohnung?«
»Meine Tochter hat einen.«
»Wie alt ist sie?«
»Anne-Marie? Vierundzwanzig.«
»Verheiratet?«
»Sie will, genauer gesagt, sie wollte im nächsten Monat heiraten. Bei dem Unwetter, das sich über uns zusammenbraut, weiß ich nicht, ob es noch möglich sein wird. Kennen Sie die Familie Courmont?«
»Dem Namen nach.«
So berühmt wie die Malterres in der Politik waren die Courmonts seit mindestens drei Generationen in der Diplomatie. Robert Courmont, der eine Villa in der Rue de la Faisanderie besaß und einer der letzten Franzosen war, die ein Monokel trugen, war dreißig Jahre lang Botschafter gewesen, unter anderem in Tokio und London, und war Mitglied im Institut de France.
»Sein Sohn?«
»Alain Courmont, ja. Er ist zwar erst zweiunddreißig, aber er war schon Attaché an drei oder vier Botschaften, und jetzt leitet er eine wichtige Abteilung im Außenministerium. Er hat eine Berufung nach Buenos Aires, wohin er sich drei Monate nach seiner Hochzeit begeben soll. Sie verstehen jetzt, dass die Situation noch tragischer ist, als es den Anschein hat. Ein Skandal wie der, der mich morgen oder übermorgen erwartet …«
»War Ihre Tochter oft hier?«
»Seitdem wir offiziell im Ministerium wohnen, nicht mehr.«
»Ist sie nicht trotzdem manchmal hergekommen?«
»Ich will Ihnen lieber alles sagen, Herr Kommissar. Ich hätte Sie sonst nicht herzubemühen brauchen. Anne-Marie hat ihr Abitur gemacht und dann Geisteswissenschaften studiert. Sie ist anders als die jungen Frauen unserer Zeit. Vor etwa einem Monat habe ich einmal Zigarettenasche hier gefunden. Mademoiselle Blanche raucht nicht, ebenso wenig wie meine Frau. Ich habe Anne-Marie dazu befragt, und sie hat zugegeben, dass sie hin und wieder mit Alain in...