E-Book, Deutsch, Band 37, 224 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
Simenon Maigret als möblierter Herr
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70146-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 37, 224 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
ISBN: 978-3-311-70146-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
1 Wie Maigret einen Abend als Strohwitwer verbringt und schließlich im Hôpital Cochin landet
»Kommen Sie doch zum Abendessen zu uns, ganz zwanglos.«
Wahrscheinlich hatte der gute Lucas hinzugefügt:
»Meine Frau wird sich sehr freuen, ganz bestimmt.«
Armer alter Lucas! Es stimmte ja gar nicht; denn seine Frau, die sich über jede Kleinigkeit aufregte und es als Martyrium empfand, einen Gast am Tisch zu haben, hätte ihn sicherlich mit Vorwürfen überhäuft.
Sie hatten den Quai des Orfèvres zusammen verlassen, gegen sieben, als die Sonne noch schien, waren zur Brasserie Dauphine gegangen und hatten in ihrer Ecke Platz genommen. Beim ersten Aperitif hatten sie ins Leere gestarrt, wie man das so tut nach vollbrachtem Tagewerk. Dann hatte Maigret gedankenverloren mit einer Münze an die Untertasse geschlagen, um den Kellner zu rufen, und noch einmal das Gleiche bestellt.
Das sind natürlich Banalitäten. Dinge, die man überbewertet, wenn man von ihnen spricht. Maigret war trotzdem davon überzeugt, dass Lucas gedacht hatte:
»Bloß weil seine Frau nicht da ist, trinkt der Chef ein zweites Glas.«
Vor zwei Tagen war Madame Maigret ins Elsass an das Krankenbett ihrer Schwester gerufen worden, die operiert werden sollte.
Ob Lucas glaubte, Maigret wisse nicht, wo er hinsollte, oder dass er unglücklich sei? Jedenfalls lud er ihn zum Abendessen ein mit einer Eindringlichkeit, die etwas zu freundlich war, dazu noch mit einem beinahe mitleidigen Blick. Oder bildete sich Maigret das alles nur ein?
Absurd, dass es gerade jetzt seit zwei Tagen keine dringende Angelegenheit gab, die ihn nach sieben abends im Büro festgehalten hätte. Er hätte sogar schon um sechs fortgehen können, während es sonst einem Wunder gleichkam, wenn er einmal pünktlich zum Essen nach Hause kam.
»Nein, ich nutze die Gelegenheit und gehe ins Kino«, hatte er geantwortet.
Die Gelegenheit nutzen – er hatte es unwillkürlich gesagt, obwohl er es gar nicht so meinte.
Sie hatten sich am Châtelet getrennt, Lucas und er; Lucas stürzte die Treppe zur Metro hinunter, Maigret blieb unschlüssig mitten auf dem Gehsteig stehen. Der Himmel war rosa, ja auch die Straßen wirkten rosa. Es war einer dieser ersten Abende, an denen man den Frühling spürt, und auf allen Terrassen saßen Menschen.
Worauf hatte er Appetit? Da er allein war und überallhin gehen konnte, stellte er sich ganz ernsthaft die Frage und dachte an die verschiedenen Restaurants, die ihn schon lange reizten. Erst ging er ein paar Schritte Richtung Place de la Concorde und hatte dabei fast ein schlechtes Gewissen, da er sich unnötig von zu Hause entfernte. Im Schaufenster eines Metzgers sah er fertig zubereitete Weinbergschnecken, übergossen mit Petersilienbutter, die wie Lack glänzte.
Seine Frau mochte keine Schnecken, deswegen gab es selten welche. Er beschloss, sich an diesem Abend welche zu gönnen, also »die Gelegenheit zu nutzen«, und machte kehrt, um zu einem Restaurant bei der Bastille zu gehen, das bekannt war für seine Schnecken.
Man kannte ihn dort.
»Sie sind allein, Monsieur Maigret?«
Der Kellner musterte ihn ein wenig erstaunt und vorwurfsvoll. Da er allein war, konnte er keinen guten Tisch bekommen, man wies ihm einen Platz in einer Art Gang zu, vor einer Säule.
In Wahrheit hatte er sich nichts Besonderes versprochen. Es stimmte nicht einmal, dass er Lust hatte, ins Kino zu gehen. Aber er wusste nicht, was er mit sich und seinem massigen Körper anfangen sollte, und konnte den Abend nicht recht genießen.
»Was für einen Wein möchten Sie?«
Er wagte es nicht, einen zu guten Wein zu nehmen, auch wieder um nicht den Eindruck zu erwecken, »die Gelegenheit zu nutzen«.
Und eine Dreiviertelstunde später, als im bläulichen Abend schon die Laternen brannten, stand er, immer noch allein, auf der Place de la Bastille.
Es war zu früh, um schlafen zu gehen. Er hatte im Büro Zeit gehabt, die Abendzeitung zu lesen. Er hatte keine Lust, ein Buch anzufangen, das ihn die halbe Nacht wach gehalten hätte.
Er ging die Grands Boulevards entlang, entschlossen, sich einen Film anzusehen. Zweimal blieb er stehen, um Plakate zu studieren, die ihm jedoch nicht zusagten. Eine Frau sah ihn eindringlich an, und er errötete fast, denn sie schien erraten zu haben, dass er Strohwitwer war.
Erwartete sie auch, dass er »die Gelegenheit nutzte«? Sie überholte ihn, drehte sich um, und je verlegener er wurde, umso mehr war sie davon überzeugt, dass es sich um einen schüchternen Kunden handelte. Sie flüsterte ihm sogar einige Worte zu, als sie an ihm vorbeiging, und er konnte sie nur abschütteln, indem er die Straßenseite wechselte.
Sogar allein ins Kino zu gehen kam ihm sündig, zumindest lächerlich vor. Er betrat eine Bar und trank einen Calvados. Aber auch da warf ihm eine Frau einen einladenden Blick zu.
Tausendmal hatte er sich auf einen Bartresen gestützt und nie dieses Gefühl gehabt.
Um seine Ruhe zu haben, ging er schließlich in ein kleines Kellerkino, in dem nur Wochenschauen gezeigt wurden.
Um halb elf lief er wieder draußen herum. Er kehrte in dieselbe Bar ein, trank noch einen Calvados, als wäre das schon Tradition, und ging dann, seine Pfeife stopfend, langsam zum Boulevard Richard-Lenoir.
Im Grunde hatte er den ganzen Abend das Gefühl gehabt, sich falsch zu verhalten, und obwohl er nichts Tadelnswertes getan hatte, nagte in einem Winkel seines Gewissens etwas wie ein Vorwurf.
Er zog den Schlüssel aus der Tasche, als er die Treppe hinaufstieg. Kein Lichtschein unter der Tür, kein Essensgeruch, der ihn empfing. Er musste selber das Licht anknipsen. Als er an der Anrichte vorbeiging, beschloss er, sich einen Schluck zu genehmigen, was er heute tun konnte, ohne einen Blick mit seiner Frau zu wechseln.
Er fing an sich auszuziehen, ohne vorher die Vorhänge zuzuziehen, ging dann zum Fenster und nahm gerade die Hosenträger ab, als das Telefon klingelte.
Im selben Augenblick wurde ihm klar, dass etwas Unangenehmes passiert war, das sich den ganzen Abend in seinem Unwohlsein angekündigt hatte.
»Hallo!«
Es war nicht seine Frau, die anrief, also war seine Schwägerin nicht gestorben. Das Gespräch kam aus Paris.
»Sind Sie es, Chef?«
Also die Kriminalpolizei. Er erkannte die laute Stimme von Torrence, die am Telefon wie eine Trompete klang.
»Bin froh, dass Sie wieder zu Hause sind. Ich habe Sie schon vier Mal angerufen. Lucas hat mir gesagt, dass Sie im Kino sind. Aber ich wusste nicht, in welchem …«
Torrence war ganz durcheinander und wusste offenbar nicht, womit er anfangen sollte.
»Es geht um Janvier.«
Maigret schlug unbewusst einen brummigen Ton an:
»Was will der denn?«
»Man hat ihn vorhin ins Cochin gebracht. Eine Kugel hat ihn in die Brust getroffen.«
»Was sagst du?«
»Im Augenblick wird er wohl gerade operiert.«
»Wo bist du?«
»Am Quai. Einer muss ja hierbleiben. Ich habe das Nötige in der Rue Lhomond veranlasst. Lucas ist mit dem Taxi zum Cochin. Ich habe auch Janviers Frau benachrichtigt. Inzwischen muss sie da sein.«
»Bin gleich da.«
Er wollte schon den Hörer auflegen und streifte mit einer Hand die Hosenträger wieder über, da fragte er noch:
»War es Paulus?«
»Man weiß es nicht. Janvier war allein auf der Straße. Er hat um sieben den Dienst angetreten. Der kleine Lapointe sollte ihn morgen früh um sieben ablösen.«
»Hast du Leute in das Haus geschickt?«
»Sie sind noch dort. Sie halten mich telefonisch auf dem Laufenden. Sie haben nichts gefunden.«
Maigret musste bis zum Boulevard Voltaire gehen, um ein Taxi zu bekommen. Die Rue Saint-Jacques war fast menschenleer, nur in wenigen Lokalen brannte noch Licht. Er eilte durch den Torbogen des Cochin, und ein Geruch wie aus allen Krankenhäusern zusammen, die er je betreten hatte, schlug ihm entgegen.
Warum werden die Kranken, die Verletzten, die Menschen, die man am Leben erhalten will, und jene, die sterben müssen, einer so schaurigen, so trüben Atmosphäre ausgesetzt? Warum ist das Licht hier zugleich armselig und grausam, wie man es sonst nur aus manchen Ämtern kennt? Und warum wird man schon an der Tür von mürrischen Gesichtern empfangen?
Es fehlte nicht viel, und er hätte sich ausweisen müssen. Der Assistenzarzt war noch ein halbes Kind und hatte seine weiße Kappe herausfordernd schief aufgesetzt.
»Gebäude C. Man wird Sie hinbringen.«
Er kochte vor Ungeduld, und in seiner Wut auf alle Welt verübelte er es nun der Krankenschwester, die ihn führte, dass sie geschminkte Lippen und ondulierte Haare hatte.
Schlecht erleuchtete Höfe, Treppen, ein langer Gang und am Ende des Ganges drei Gestalten. Der Abstand zwischen ihm und jenen Gestalten schien nicht kleiner werden zu wollen, und der Fußboden kam ihm rutschiger vor als irgendwo sonst.
Der kleine Lucas kam ihm einige Schritte entgegen in der schrägen Gangart eines Hundes, den man geschlagen hat.
»Sie sagen, er kommt durch«, sagte er sofort mit leiser Stimme. »Er ist schon seit einer Dreiviertelstunde im Operationssaal.«
Madame Janvier, rote Augen, verrutschter Hut, sah ihn Hilfe suchend an, als könnte er etwas tun, und plötzlich schluchzte sie in ihr Taschentuch.
Die dritte Person kannte er nicht: ein Mann mit langem Schnurrbart, der sich diskret abseitshielt.
»Das ist ein Nachbar«, erklärte Lucas. »Madame Janvier konnte die Kinder nicht allein lassen; sie hat eine Nachbarin gerufen, deren Mann sich erboten hat, sie zu...