Simenon | Die Verbrechen meiner Freunde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Die großen Romane

Simenon Die Verbrechen meiner Freunde

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-455-00710-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Die großen Romane

ISBN: 978-3-455-00710-7
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Simenons autobiographischster Roman
Lüttich, nach dem Ersten Weltkrieg. Georges Simenon, junger Reporter der Gazette de Liège, freundet sich mit einigen Gleichaltrigen an. Leidenschaftlich debattieren die Männer in den Cafés der Stadt bis tief in die Nacht über Politik, die Welt und das Leben. Von den dunklen Machenschaften seiner Freunde weiß Simenon da allerdings noch nichts. Erst Jahre später erfährt er von ihren grausamen Taten und verarbeitet sie in diesem autobiographischen Roman.
»Ich ahnte nichts, dabei waren meine Freunde Mörder! Auch einige Jahre später ahnte ich nichts, als ich Kriminalromane zu schreiben begann, das heißt Geschichten von erfundenen Verbrechen, während jene, mit denen ich gelebt, dieselbe Luft geatmet, dieselben Freuden geteilt, dieselben Vergnügungen genossen und über dieselben Dinge diskutiert hatte, auf einmal richtige Morde begingen.«

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Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
1
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6
7
8
9
Nachwort – Warum nicht ich?
Über Georges Simenon
Impressum


1
Es ist verwirrend! Ursprünglich – was sage ich? Jetzt eben noch, als ich meinen Titel schrieb – wollte ich meine Erzählung wie einen Roman beginnen lassen, mit dem Unterschied, dass er diesmal auf Tatsachen beruhen sollte. Da entdeckte ich plötzlich, wie lebensfremd der Roman im Grunde ist, dass er das Leben nie wirklich wiedergeben kann, und zwar deshalb, weil er an einem Punkt anfängt und an einem anderen aufhört. Hyacinthe Danse hat am 10. Mai 1933 seine Geliebte und seine Mutter umgebracht. Aber was war der eigentliche Anfang dieses Verbrechens? War es damals, als er in Lüttich die erste Nummer seiner Zeitschrift La Nanesse herausbrachte, deren Mitbegründer ich, trotz meiner noch nicht mal siebzehn Jahre, aufgrund eines unwahrscheinlichen Zufalls geworden war? Oder fing es da an, als wir in Begleitung Deblauwes durch die Straßen der Stadt schlenderten? War es nicht viel früher, während des Krieges, als uns die Mädchen hinter vorgehaltener Hand zuflüsterten, dass in einer gewissen Buchhandlung hinter verschlossenen Läden …? Und Deblauwe? Wann fing er an, ein Mörder zu sein? Und der Fakir? Warum habe ich ausgerechnet gestern erfahren, dass er in einem Pariser Krankenhaus vor Armut, an der Trunksucht, an allen möglichen Krankheiten, Lastern und schändlichen Gebrechen einen jener Tode gestorben sei, die sich schon Tage im Voraus durch ihren Gestank ankündigen? Warum? Wieso? Wo sollte ich anfangen, da es zwischen den drei Verbrechen, den fünf oder sechs Toten, den wenigen Überlebenden zeitlich und räumlich keine andere Verbindung gibt als mich? Ich höre noch Danses hämmernde Stimme im Saal des Lütticher Schwurgerichts: »Als ich vier Jahre alt war, hat mich meine Mutter mit aufs Land genommen, und da sah ich, wie der Bauer auf dem Hof eine Sau schlachtete; zuerst schlug er mit einem Hammer auf sie ein, und dann schlitzte er ihr mit einem Messer die Kehle auf …« Den vierjährigen Danse konnte ich nicht kennen, denn damals war ich noch nicht geboren. Und ich war auch nicht dabei, als er vierzig Jahre später in einem französischen Landhäuschen seine Mutter und seine Geliebte auf genau dieselbe Art abstach wie damals der Bauer die Sau. Und wer vermöchte zu sagen, an welchem Tag der kleine K. mit seinen durchnässten Stiefeln beschloss, sich am Portal der Kirche von Saint-Pholien zu erhängen? Hatte ich ihn denn nicht wenige Stunden vorher, nachdem er sich alles aus dem Leibe gekotzt, bis zur Bewusstlosigkeit betrunken und immer noch sabbernd, auf meinem Rücken in sein Kabuff getragen? Drei Verbrechen! Das ist schnell gesagt. Aber was war vorher? Ich erinnere mich, dass ich damals täglich mindestens drei Romane verschlang, aber befriedigt haben sie mich alle nicht. »Und dann?«, seufzte ich immer nach der letzten Seite. Warum hörte es plötzlich auf, obgleich die Personen der Handlung noch längst nicht tot waren? Warum beschloss der Autor einfach so, nach eigenem Gutdünken und ohne Grund, dass es von einem gegebenen Augenblick an nur noch eine leere Seite mit dem Namen des Druckers gab? Heute ist es nicht mehr das Ende, das mich stört, sondern der Anfang. Mit welchem Recht werde ich plötzlich einen fünfunddreißigjährigen Deblauwe zeigen, als ob es ihn bis zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben hätte? Und die andern, die ich auch nur eine gewisse Zeit ihres Lebens gekannt habe? Und die Verbindung, von der ich eben sprach? … Eine Szene im Jahre 1915, an die ich mich erinnere … Eine andere, zwei Jahre später, als ich meine ersten langen Hosen bekam … Danse … Deblauwe … Dann der Fakir und der kleine K. Ich ahnte nichts, dabei waren meine Freunde Mörder! Auch einige Jahre später ahnte ich nichts, als ich Kriminalromane zu schreiben begann, das heißt Geschichten von erfundenen Verbrechen, während jene, mit denen ich gelebt, dieselbe Luft geatmet, dieselben Freuden geteilt, dieselben Vergnügungen genossen und über dieselben Dinge diskutiert hatte, auf einmal richtige Morde begingen: der eine, indem er auf der Rue de Maubeuge durch die Tasche seines Regenmantels einen Mann niederknallte, der andere in Boullay, weit von dem Ort entfernt, wo er das Licht der Welt erblickt und gelebt hatte, umgeben von französischen Bauern, die ihm fremd waren, was ihn vielleicht dazu trieb, nach Lüttich zurückzukehren, in den vertrauten Straßen herumzuirren und dann aus unmittelbarer Nähe das Magazin seines Revolvers auf einen Jesuitenpater abzufeuern, der früher sein und auch mein Beichtvater gewesen war. Ist es nicht merkwürdig, dass ich just in dieser Zeit anfing, Kriminalromane zu schreiben, und mich bemühte, Verbrecher zu schildern? Bei Lichte besehen und wenn man meine Bücher genau liest, vielleicht doch nicht so merkwürdig, denn in meinen Romanen beschreibe ich, kaum verbrämt, dieselben Schauplätze, dieselbe Atmosphäre, dieselben Seelenzustände, die die beiden dazu führten, dass sie … Die Verbrechen meiner Freunde ähneln den Verbrechen, die ich in meinen Büchern erzählt habe. Und nur weil sie wahr sind, weil ich die Täter kenne, kann ich unmöglich schreiben: »Er hat getötet, weil …« Weil nichts es erklärt! Weil alles es erklärt! Zuweilen glaube ich, alles zu verstehen, und meine, in wenigen Worten … Doch im nächsten Moment löst sich die schon fast greifbare Wahrheit in Luft auf, und ich sehe wieder einen ganz anderen Deblauwe vor mir, und einen Danse, wie er lächelnd und schmerbäuchig dasteht, höre ihn reden … Oder dann stößt mir der muffige Geruch des Fakirs wieder auf, und ich sehe mich unter den blau getarnten Laternen der Kriegszeit in den Straßen umherirren. Es ist unmöglich, die Wahrheit ordentlich und klar zu erzählen: Sie wirkt immer unwahrscheinlicher als ein Roman.   Man müsste sich fast die ganze deutsche Besatzungszeit in Erinnerung rufen, denn ich denke, dass sie die jungen Leute damals ebenso geprägt hat wie die Inflation einige Jahre drauf eine ganze Generation von Deutschen. Aber gleich wie die Inflation lässt sich die Besatzungszeit nicht erzählen. Denn da geht es nicht um Tatsachen: Es ist eine gewisse Atmosphäre, der Kasernengeruch in den Straßen, die Tupfen der fremden Uniformen in der Menge; es sind die Markscheine, die die Francs in der Tasche ersetzen, es ist die alles verdrängende Sorge um das Essen, die fremdartige Musik, die fahrbaren Feldküchen auf den Gehsteigen; es ist auch die neue Angewohnheit des Auges, nach Maueranschlägen mit den ständig wechselnden Ausgangssperren und Zuckerrationen Ausschau zu halten, oder nach Aufrufen an alle Männer über achtzehn, sich allwöchentlich bei der Kommandantur zu melden, oder nach einem roten Plakat mit den Namen weiterer erschossener Zivilisten … Natürlich geht das Leben weiter, hat man pünktlich auf dem Gymnasium zu sein, die Schularbeiten zu machen, doch in der Pause redet man über einen Mitschüler, dessen Vater Butter an die Deutschen verkauft, oder über einen anderen, dessen Mutter mit einem Ulanenoffizier gesehen wurde. Was einen dreizehnjährigen Jungen beschäftigt, ist immer das Gleiche, nur dass bei uns noch ein paar Dinge hinzukamen. Zum Beispiel flüsterte ein Schüler der fünften Klasse auf der Treppe: »Mein Vater hat zehn Kilo Weizen auf einem Bauernhof ergattert. Als er damit in die Stadt zurückkehrte, wurde er beinahe erwischt …« Oder: »Die Franzosen haben eine Schlacht gewonnen. Meine Eltern haben es von jemandem gehört, der über die holländische Grenze kam und eine Zeitung mitgebracht hat …« Doch natürlich ist vor allem von den Mädchen der Schule nebenan die Rede, von gewissen Dingen, von denen die einen nichts wissen und die andere zu kennen und sogar vollbracht zu haben behaupten und die eine ganze Klasse einen Monat lang dank einem vergilbten und abgegriffenen Foto, auf dem man genau sieht, wie es gemacht wird, in helle Aufregung versetzen. Die zu Abertausenden durch die Stadt marschierenden Soldaten, auf dem Weg zur Front oder zurück, sind wild darauf, und die Plakate an den Mauern sagen es unverblümt: »Jede Frau, die mit einem Soldaten Verkehr hat, ohne sich vorher der Kontrolluntersuchung zu stellen …« Es gibt auch Einzelheiten bezüglich der Vorsichtsmaßnahmen. Die Straßen sind dunkel. Aus Angst vor Fliegerangriffen sind die Schaufenster nicht erleuchtet, und das Licht der Gaslaternen hinter einer dicken Schicht blauer Farbe ist nur ein schwacher Schimmer. Die Rue Féronstrée ist eine enge und belebte Straße, in der die Straßenbahnen mit ohrenbetäubendem Lärm dicht an den zu schmalen Gehsteigen vorbeirattern. In dieser Straße befand sich eine antiquarische Buchhandlung, in der ich gewöhnlich meine Schulbücher kaufte und wieder verkaufte. Sie nahmen, nach Schulen geordnet, ein ganzes Schaufenster ein. Die unseren waren von Jesuiten verfasst: Im Schaufenster daneben lagen Bücher mit bunten Einbänden aus, vor denen wir aus Angst vor dem spöttischen Lächeln eines Passanten nicht stehen zu bleiben wagten. Denn wenn Hyacinthe Danse auch die meisten Schüler des Gymnasiums belieferte, so war er außerdem ein Spezialist der sogenannten galanten Literatur, und ich erinnere mich, wie außer mir ich war, als ich ganz hinten in seinem Laden ein Regal entdeckte, das mit »Flagellation« überschrieben war. Der Buchhändler war ein ungeheuer dicker Mann, der seine hundertdreißig Kilo wog und dessen rosiges Gesicht stets fröhlich lächelte. Er war einer, der einem das Handbuch für Literatur von...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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