E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Simenon Die Tür
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01476-1
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-455-01476-1
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1
Wie in vielen alten Häusern des Viertels waren die Fenster hoch und schmal und lagen dreißig Zentimeter über dem Fußboden. Die Brüstung davor wurde von einem verschnörkelten schmiedeeisernen Geländer getragen. Durch diese Verzierung hindurch sah Foy von seinem Stuhl aus hinaus und verfolgte mehr oder minder bewusst das Geschehen auf der Straße. Er zog die Stirn kraus, als er das kleine blaue Auto von Dr. Aubonne sah, es kam um die Ecke der Rue des Francs-Bourgeois, bog in die Rue de Turenne, und nachdem es die Fahrbahn überquert hatte, hielt es hinter dem Lieferwagen der Papierwarenhandlung Herbiveaux. Der Arzt streckte den Kopf aus der Wagentür, um nachzuprüfen, wie weit er vom Gehsteig entfernt stand, fuhr ein wenig zurück, dann wieder ein Stückchen nach vorn und zwängte sich aus dem winzigen Gefährt.
Foy wusste nicht genau, der Wievielte heute war. Er wusste das nie. Der 5. oder 6. Juli. Höchstens der 7. Noch eine Woche, und sie würden wieder die ganze Nacht von dem Gedudel und Geknall des 14.-Juli-Festes auf der Place des Vosges wach gehalten.
Die Kinder hatten noch keine Ferien. Vor einer halben Stunde waren sie laut schreiend aus der Schule gestürmt und hatten sich ins ganze Viertel verteilt.
Foy wusste das Datum nicht, doch er konnte mit Sicherheit sagen, dass heute Montag war, denn am Tag zuvor hätten Nelly und er bei weit geöffneten Fenstern in ihrer Wohnung fast meinen können, ganz allein in Paris zu sein, so still und verlassen war die Straße. Einmal, so um die Mittagszeit, hatte er einen Hund über den menschenleeren Gehsteig streunen sehen.
Jedenfalls war der Arzt zu früh dran. Sonst kam er immer in der dritten Woche des Monats an einem Spätnachmittag in die Rue de Turenne, nachdem er zuvor seine bettlägerige alte Patientin in der Rue de Sévigné besucht hatte.
Warum fragte Foy sich plötzlich, ob diese Geschichte stimmte, ob es die alte Frau wirklich gab? Dr. Aubonne ließ sich seine allmonatliche Visite nie bezahlen und behauptete, dass er ja weniger als Arzt denn als Freund käme, und das mochte nach ihrer zwanzigjährigen Bekanntschaft auch glaubhaft sein.
Gewöhnlich streckte er nach seinem mehr oder weniger geglückten Rückwärtsmanöver den Kopf aus der Wagentür und sah zum vierten Stockwerk hinauf, wo er sicher sein konnte, Bernard Foy an einer der Fensterbrüstungen sitzen zu sehen, genau wie man an einem Fenster auf der anderen Straßenseite über der Papierwarenhandlung jahraus, jahrein einen Kanarienvogel in seinem Käfig erblickte.
Dann machte Aubonne immer, wie jemand, der zufällig vorbeikommt, eine Geste, die besagen sollte:
»Kann ich hinaufkommen?«
Warum hätte er nicht heraufkommen können? Er störte nie. Er wusste ja, dass Foy um diese Stunde, wie überhaupt die meiste Zeit des Tages, allein inmitten seiner Lampenschirme und seiner Pinsel saß. Diese Geste war zur Tradition geworden. Durch sie erhielt sein Kommen einen kameradschaftlichen Charakter und gleichzeitig auch etwas Zufälliges.
Trotzdem brachte er seine braun gewordene Arzttasche mit, die schon nicht mehr neu war, als die beiden Männer sich zu Anfang des Krieges kennengelernt hatten.
Warum hob nun der Arzt heute nicht den Kopf und verhielt sich so, als wüsste er nicht, dass Bernard ihn mit den Augen fixierte? Warum vor allem kam er mindestens eine Woche zu früh?
Hatte Nelly ihn vielleicht angerufen und gebeten, den Besuch vorzuverlegen? Und war ihm, da er das nicht zugeben konnte, die Vorstellung peinlich, dass er jetzt würde lügen und eine Rolle spielen müssen?
Auf dem Lieferwagen, von dem zwei Männer in blauem Arbeitsanzug flache und sehr schwere Pakete abluden, stand in gelben Buchstaben zu lesen: Witwe Herbiveaux. Papierwaren en gros. Aber Madame Herbiveaux verkaufte auch en détail, denn die Schulkinder versorgten sich in ihrem Geschäft, das zwei Schaufenster hatte.
Der Arzt machte zwei Versuche, die Wagentür zu schließen, und beim zweiten Mal knallte er sie allzu heftig zu, dann überquerte er mit wackelndem Kopf, als sei dieser zu schwer von Gedanken, und mit seiner Tasche in der Hand die Fahrbahn, ohne auf den Verkehr zu achten.
Woran dachte er? Was dachte er über Bernard und seine Frau, über das Leben, das die beiden seit zwanzig Jahren in ihrer Wohnung über der Konditorei Escandon, Ecke Rue de Turenne und Rue des Minimes, führten?
Er kannte Bernard gewiss besser als jeder andere, kannte ihn als Arzt und als Mensch; er hatte ihn so oft mit seinen großen hervorquellenden Augen, die ihm einen durchdringenden und gleichzeitig naiven Blick verliehen, beobachtet. Aber kannte er ihn wirklich?
Er kam nur einmal im Monat vorbei, früher kam er häufiger. Er hatte auch noch andere Patienten, interessantere Fälle, im Saint-Antoine-Krankenhaus und auch unter seinen Privatpatienten. Er operierte bis zu fünf Kranke am Tag, verkehrte mit Kollegen und Freunden, spielte ab und zu Bridge, und schließlich besaß er auch noch seine Familie, eine Frau, die er einmal geliebt hatte, vielleicht immer noch liebte, drei Kinder, lauter Jungen, von denen zwei verheiratet waren.
Was mehr, als ein kleiner Teil seiner Welt und seiner Sorgen, hätte Bernard schon sein können? Der Arzt blieb ihm treu, gewiss. Nach so langer Zeit suchte er ihn noch immer auf, als sei dies nötig. Machte er sich Gedanken über ihn? Oder meinte er, alle seine Probleme seien gelöst?
Es herrschte eine Gluthitze. Die Sonne war noch nicht hinter den gegenüberliegenden Dächern verschwunden und warf lange flimmernde Rechtecke auf den lackierten Fußboden.
Da zwei Fenster auf die Rue de Turenne und eines auf die Rue des Minimes hinausgingen, strich ihm ein Luftzug wie frisches Wasser über die Haut.
Bernard blieb an seinem Platz, er fühlte sich unbehaglich und beunruhigt, ohne genau zu wissen, warum. Er verfolgte in Gedanken den Arzt, der eben das Haus betrat und beim Vorübergehen an der Portiersloge gewiss an die Krempe seines grauen Hutes, den er jahrein, jahraus auf dem Kopf trug, getippt hatte.
Aufzug gab es keinen. Die Treppenstufen waren ausgetreten, aber sorgfältig gebohnert. Bei jeder Kehre zwischen zwei Stockwerken kam eine schlecht beleuchtete Stelle, und gewöhnlich blieb der Arzt dort einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen.
Als Foy ihn zum ersten Mal gesehen hatte, damals in Uniform, mit den hellbraunen Ledergamaschen an den dicken Beinen, da war er ihm wie ein als Offizier verkleideter Zivilist erschienen, ein Mann von vierundvierzig oder fünfundvierzig Jahren, dessen Stirn sich zu lichten begann, was seinen gewaltigen Schädel noch mehr hervorhob.
Jetzt musste er fünfundsechzig sein. Er hatte ein Herzleiden und war zuckerkrank. Einmal, als auch Nelly dabei gewesen war, hatte er gebeten, sich ins Badezimmer zurückziehen zu dürfen, um sich eine Dosis Insulin zu spritzen.
Foy verfolgte Aubonne in Gedanken beim Treppensteigen, erriet, welche Geräusche er durch die Türen hören mochte, das Schreibmaschinengeklapper im ersten Stock bei Monsieur Jussieu, dem Gerichtsübersetzer, das Klavier im Zweiten bei Mademoiselle Strieb, die kleinen Mädchen Musikunterricht gab, vielleicht den Plattenspieler oder das Radio bei Mademoiselle Renée im dritten Stock oder die Stimme der alten Madame Meilhan gegenüber, die versuchte, sich ihrem tauben Mann verständlich zu machen.
Es schien ihm heute länger zu dauern als gewöhnlich, und ohne besonderen Grund wurde seine Stirn feucht. Er erhob sich, noch bevor die Schritte des Arztes auf dem Treppenabsatz zu hören waren, näherte sich der Tür und bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen.
Es war lächerlich, er wusste das. Er schämte sich ein wenig, dass er so reagierte. Vielleicht war seit einiger Zeit alles an ihm lächerlich. Aber dann war es ja noch schlimmer.
Er stand reglos und bedrückt neben der geschlossenen Tür und horchte auf die Schritte des Arztes, der die letzten Stufen heraufkam und vor dem Anklopfen einen Augenblick abwartete, um Atem zu schöpfen. Foy erriet seine Bewegungen, sah im Geiste, wie er sich mit dem Taschentuch über Stirn und die schlecht rasierten Wangen fuhr, die Zigarette wieder anzündete, die ihm beim Treppensteigen ausgegangen war.
Endlich klopfte Aubonne, und Foy machte zum Schein ein paar Schritte im Kreis, bevor er öffnete.
»Ich hatte schon Angst, Sie nicht anzutreffen …«
Er blickte ihn offen und geradeheraus an. In den letzten Jahren hatte er wegen der Zuckerkrankheit zugenommen. Er trug seinen ewigen marineblauen Anzug, dessen Stoff schon ein wenig glänzte, und die Krawatte hing schief wie gewöhnlich.
Bernard antwortete:
»Es ist schon so lange her, seit ich das letzte Mal vor die Tür gegangen bin …«
»Das ist ein Fehler!«
Er ließ seinen Blick in dem großen, ihm vertrauten Zimmer umherwandern, das gleichzeitig als Ess- und Wohnzimmer und darüber hinaus auch als Werkstatt diente, da Foy seine Lampenschirme hier bemalte. Drei dieser Schirme standen auf dem Tisch, denn er dekorierte immer drei gleichzeitig und malte dabei zuerst alle roten, dann die blauen, die violetten und grünen Flächen aus. Seit mehreren Wochen malte er von der Vorlage, die sie ihm mitgeliefert hatten, immer dasselbe Motiv ab: eine Rose, eine Iris, eine Rose, eine Iris … Warum gerade diese Iris? Er hatte keine Ahnung, und es kümmerte ihn auch nicht.
»Ich bin heute zu Ihnen gekommen, ebenso wie zu meiner gelähmten alten Patientin, weil ich am Samstag zu einem Kongress nach Lissabon fahre. Ich nehme meine Frau mit, auf diese Weise werden wir uns eine oder zwei Wochen Ferien in Portugal gönnen.«
Er verhielt sich nicht wie ein...




