E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Simenon Die Selbstmörder
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-01205-7
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-455-01205-7
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
Cover
Verlagslogo
Titelseite
1
2
3
4
5
6
7
8
9
Über Georges Simenon
Impressum
1
Wie jeden Abend, wenn sie sich von Bachelin trennte, überquerte Juliette hastig die Straße und kramte dabei schon ängstlich und ungeschickt in ihrer Handtasche, erreichte dann die Türschwelle und steckte den Schlüssel klimpernd ins Schloss.
Als die Tür aufsprang, bildete sich ein helles Rechteck, das sich immer mehr verjüngte und schließlich gleichzeitig mit dem jungen Mädchen verschwand.
Die Tür war grün. Auf einem mit Reißnägeln befestigten Schild stand: Es fiel eiskalter Regen. Bachelin triefte vor Nässe, selbst die Hände in seinen Taschen waren nass.
Es war das letzte Haus in der Rue Creuse. Die beiden beleuchteten Fenster im ersten Stock bildeten außer einer Gaslaterne die einzige Lichtquelle in der dunklen Straße, auf die das Wasser herabstürzte.
Bachelin wusste, dass Juliette jetzt die Treppe hinaufstieg. Auch sie war durchnässt, sie hatte wundgeküsste Lippen und hielt ihre Notenmappe umklammert. Er ging nie weg, bevor er sie hinter dem gelben Vorhang vorübergehen sah.
Aber die Tür war gerade erst zugefallen. Juliette befand sich erst auf der vierten oder fünften Stufe. Da wurde der Vorhang beiseitegeschoben, und man konnte eine magere Männergestalt erkennen, die langsam ein Jagdgewehr emporhob.
Der Schatten machte keine Anstalten zu zielen und fuchtelte auch nicht mit der Waffe herum. Er zeigte sie einfach wie ein Emblem, und das war so unerwartet und passte auch so wenig zu dem friedlichen Rahmen des Fensters, dass Bachelin von Panik erfasst bis zur beleuchteten Kreuzung lief. Als er dann beruhigt vom regen Betrieb, der auf der Geschäftsstraße herrschte, stehen blieb, wurde ihm bewusst, dass er gerannt war; nun aber ging er mit glühenden Wangen und hochroten Ohren ganz ruhig weiter.
Er hatte Angst gehabt! Der kleine Monsieur Grandvalet mit den stets zusammengekniffenen Lippen hatte ihn Fersengeld geben sehen! Und lachte jetzt im Esszimmer, wo Juliette gerade ihre Noten aufs Klavier legte, hämisch vor sich hin! Er zeigte seiner Tochter bestimmt das Gewehr, das Fenster und den Ausblick auf die regennasse Rue Creuse.
»Der Angsthase ist getürmt!«
Sein Regenmantel war an den Schultern ganz durchnässt, und Bachelin hatte Fieber. Seine Pupillen wurden immer kleiner und starrer, seine Nase vorspringender, sein Kinn spitzer.
Die Welt, in die er jetzt mit zusammengebissenen Zähnen eintauchte, verlor den tröstlichen Halt des Realen. Das letzte positive Bild war das der grünen Tür und des Schildes mit dem Hinweis auf das zu vermietende Erdgeschoss. Mit der Gestalt und dem Gewehr am erleuchteten Fenster begann der Bereich des Phantastischen, in dem Monsieur Grandvalet eher die Rolle eines niederträchtigen Gnoms als die eines Schalterangestellten beim Crédit Lyonnais spielte.
Juliette hatte gesagt:
»Wir dürfen uns nicht mehr treffen. Mein Vater leidet zu sehr darunter.«
Als sie das sagte, stand sie von den Knien bis zur Stirn eng an Bachelin gepresst da, beider Lippen hatten sich gerade voneinander gelöst, ihre nassen Haare waren ineinander verflochten, und die Wärme ihrer Haut, das Beben, das ihnen durch Brust und Bauch ging, drangen durch den Stoff.
Was hatte er darauf geantwortet? Ach, ja! Er hatte mit zusammengezogenen Brauen und zu Boden gerichtetem Blick gesagt:
»Da bringe ich uns lieber beide um!«
Sie hatte das nicht geglaubt, aber ihre Hand hatte trotzdem gezittert.
»Du wirst schon sehen, ich schwöre dir, dann gibt es ein Unglück!«
Und dann war er davongelaufen, als er die Doppelflinte gesehen hatte!
Entschlossen wie jemand, der etwas Dringendes zu erledigen hat, schritt er nun weiter, doch er wusste gar nicht, wohin er gehen wollte. Sein Fieber stieg weiter. Er reizte seinen Gesundheitszustand, so wie man einen kranken Zahn peinigt. Die Dinge und die Leute waren übernatürlich groß, und wie er die Stadt so mit Riesenschritten durchmaß, kam er sich furchterregend vor.
Die vertrauten Straßen von Nevers, die Place Carnot, das Hôtel de Ville, in dem sich sein Büro befand, die Geschäfte, die er alle kannte, und dann die lange Bahnhofstraße machten jetzt einen unheimlichen Eindruck, den die glänzenden Pflastersteine, die Regenschlieren, das verschwommen schimmernde Licht und die Rücken der ins Trockene flüchtenden Passanten noch verstärkten.
Nachdem er die Tür zum Café de la Paix aufgestoßen hatte, wo seine Freunde Karten spielten, blieb Émile Bachelin einen Augenblick lang triefend, mit starrem Blick und eingezogenem Nacken stehen. Von irgendwoher ertönte ein Lachen.
»Was trinkst du?«
»Einen Grog.«
»Hat dich deine Verlobte in diesen Zustand versetzt?«
Er fühlte sich noch immer wie im Traum, denn bestimmte Personen und Gegenstände traten mit peinlicher Deutlichkeit hervor, während andere aus unerfindlichen Gründen im Dunkel blieben.
Bachelin nahm die Geräusche im Café, den Pfeifen- und Zigarettenrauch, ein zartes Klicken wie von Dominosteinen auf der Marmorplatte eines Tisches undeutlich wahr, aber von manchen Sätzen, die seine Freunde sagten, verstand er kein Wort.
Er erkannte auch Dieudonné vom kaum, obwohl dieser ihm doch gegenübersaß, und ebenso wenig Berthold, der beim Crédit Lyonnais arbeitete. Hingegen sah er das blasse schmallippige Gesicht des buckligen Jacquemin gestochen scharf vor sich. Jacquemin sagte mit seiner wie aufgezogen klingenden Stimme:
»Wetten, dass auch diese Kleine verrückt nach ihrem Klavierlehrer ist.«
Bachelin verzog keine Miene, aber der Satz prägte sich ihm tief ein.
»Wegen einer Frau darf man sich nicht verrückt machen«, warf nun Lasserre, der Sohn des Radio- und Grammophonhändlers, ein.
Bachelin schluckte eine heiße Flüssigkeit hinunter, die nach Rum und Zitrone schmeckte. Während er trank, sah er sich im Spiegel und krauste die Stirn, um seinen dramatischen Gesichtsausdruck noch zu verstärken.
Er hatte ein mageres Jungengesicht mit hervortretenden Zügen, tiefliegenden Augen und unreiner Haut. Sein sehr langes, schmutzig blondes Haar verlieh ihm das Aussehen eines armen und ungesunden Poeten.
»Noch einen Grog, bitte!«
Das erste Glas hatte ihn aufgewärmt. Die Welt wurde immer seltsamer. Neben seinem Spiegelbild entdeckte Bachelin Olgas Kopf. Olga war die Geliebte eines Obersten und verbrachte ihre Nachmittage immer am selben Platz, wo sie Zeitungen las oder Briefe schrieb oder auch, in ihren Pelzmantel gehüllt, einfach nur vor sich hin sah.
Ihre Blicke kreuzten sich, und Bachelin begriff, dass er an diesem Abend wohl ziemlich beängstigend aussah.
Seine Freunde spielten Karten. Der Kellner brachte ihm den zweiten Grog. Von den Tischen und Bänken stieg noch immer Lärm auf, in den sich der Rauch und das Bullern des Ofens mischten, während man von draußen das Pfeifen eines in den Bahnhof einfahrenden Zuges hörte.
Als er an ihre Türschwelle dachte, hätte Bachelin plötzlich fast losgeweint, denn Juliette und er hatten ihre ganz bestimmte Türschwelle. Vorher aber, um sieben Uhr, wartete er immer in der Rue des Ardilliers, wo sie ihre Klavierstunden hatte. Wenn sie herauskam, winkte sie ihm leicht zu, und er holte sie ein paar Meter weiter entfernt in einer ruhigeren Straße ein. Er küsste sie gleich zweimal, fünfmal, zehnmal, fasste sie dann um die Taille und begleitete sie nach Hause. Auf ihrem Weg, der durch die dunklen Seitenstraßen führte, gingen sie immer dicht an den Häusern entlang.
Ihre Türschwelle lag in der Rue Creuse, fünfzig Meter von Juliettes Haus entfernt und nicht zu nah an einer Straßenlaterne. Sie lehnten sich an die Haustür und standen so eng umschlungen da, dass Vorübergehende sie für eine einzige Gestalt halten mussten.
Auch an diesem Tag war genau über ihnen im ersten Stock ein Fenster aufgegangen. Daran waren sie nun schon gewöhnt, es machte ihnen keine Angst mehr. Sie wussten, dass sich da immer eine Alte herausbeugte, die ganze Zeit über, solange sie da waren, unbeweglich verharrte und dann, Verwünschungen murmelnd, das Fenster wieder schloss.
Eines Tages würde sie sich bestimmt einmal so weit herausbeugen, dass sie wie eine überreife Pflaume auf den Gehsteig plumpste.
»Willst du mich ablösen?«, fragte Lasserre plötzlich, weil er keine Lust mehr zum Weiterspielen hatte.
»Nein!«
Er betrachtete sich immer noch im Spiegel links neben Olgas Gesicht, das wiederum ihn beobachtete. Er hatte sein zweites Glas geleert und bestellte sich noch ein weiteres.
»Das Trinken tröstet einen über die Frauen hinweg!«, sagte der bucklige Jacquemin, dessen Mund sich wie ein langer Riss quer durch sein kreideweißes Gesicht zog.
Juliette war nicht verzweifelt gewesen, als sie ihm zur Beruhigung den Arm um den Hals gelegt hatte und sagte:
»Hör zu, Émile, es ist besser, du kommst nicht mehr, zumindest eine Zeitlang. Mein Vater ist schon ganz krank. Er stellt sich die fürchterlichsten Dinge vor.«
Sie standen im Regen. Durchsichtige Tropfen fielen von Bachelins Hut herab und rollten über die Wange des jungen Mädchens mit seiner zugleich kindlichen und ernsten Miene und den stets ruhig blickenden Augen.
»Sei so nett. Vielleicht geht es später wieder.«
Er konnte sich nicht erinnern, was er geantwortet hatte. Unzusammenhängende Sätze! Er hatte sie angefleht und beschimpft! Und er hatte sogar vorgeschlagen, Monsieur Grandvalet sofort aufzusuchen und ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten.
»Das ist unmöglich«, hatte Juliette sanft und mit einem traurigen, resignierten Lächeln erwidert.
Darauf hatte er mit flackerndem Blick...