E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Die großen Romane
Simenon Die Marie vom Hafen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-455-00519-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: Die großen Romane
ISBN: 978-3-455-00519-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
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Nachwort – Nachts um eins am Telefon
Alle Neuerscheinungen im Juli [...]
Fußnoten
Über Georges Simenon
Impressum
1
Es war Dienstag, und die fünf oder sechs Kutter, die während der ganzen Woche vor der englischen Küste fischten, waren am Morgen zurückgekommen. Wie gewohnt hatten sie in der Nähe des Fischmarkts im Vorhafen festgemacht, und erst jetzt, bei Flut, öffnete man ihnen die Drehbrücke.
Der Oktober ließ die Tage schneller schwinden, und seine Nipptiden bespülten kaum den Fuß der Klippen. Der Kanal war auf Höhe der Brücke verengt durch die niedrigen Häuser von Port-en-Bessin mit ihren grauen Fassaden und den harten Schieferdächern.
Wie immer um diese Zeit waren die Alten zur Stelle und umrahmten die Brücke mit ihren blauen, mit dunkleren Flicken besetzten Silhouetten.
Es regnete nicht. Ein leichter Wind wehte von Nordosten, der Himmel war gleichmäßig grau.
Eins nach dem anderen fuhren die großen Holzschiffe dicht am Kai, ja scheinbar dicht an den Häusern entlang, um sich ganz hinten im Hafenbecken zusammenzudrängen. Die Männer standen reglos und geduldig an Deck. Sie schauten zu den Alten an Land. Die Alten schauten zu ihnen hinüber. Sie waren Väter, Söhne oder Cousins, aber vor lauter Verwandtschaft hatten sie sich nichts zu sagen und nickten einander nicht einmal zu.
Auch Frauen waren da, schwarz in ihren Umschlagtüchern, lackierte Holzschuhe an den Füßen, und liefen wie Ameisen hintereinander her in die kleinen Läden, wo gerade die Lampen angingen.
Man hörte die Kugeln auf dem Billardtisch des Café de la Marine klappern, und das gelbe Licht der Markise war voller Verheißung von Kaffee mit einem Schuss Calvados.
Es blieb noch eine knappe Stunde Tageslicht und Dämmerung; die Brücke war wieder geschlossen, die Schiffe vertäut, die Alten standen wieder reglos an ihrem Platz, ans Geländer gelehnt, es wurde noch etwas gearbeitet, Ordnung geschaffen, Leinen wurden aufgeschossen, Luken und Klappen geschlossen.
Neben den wuchtigen Kuttern bildeten die Schaluppen eine dichtere, beweglichere Masse, in der hier und da ein Mann ein Netz flickte, an seinem Motor bastelte oder manchmal einfach nur seine Pfeife rauchte, zufrieden, an Bord seines Schiffs zu sein.
Der dicke Charles mit seinem Holzbein kletterte über die Reling. Der Großvater folgte ihm ruhig, fast feierlich. Charles hielt jedem Fischer ein nicht sehr sauberes Blatt Papier und einen Kopierstiftstummel hin. Er wusste, wer lesen konnte und wer nicht. Zu denen, die es nicht konnten, sagte er nur: »Für die Marie vom armen Jules …«
Man zündet die Lampen immer zu früh an. Sie brannten, obwohl der Himmel noch weiß war, sodass sie nur ein trauriges Licht geben konnten.
»Wie viel gibt man denn?«, wurde meistens gefragt.
»Nach deinem Gutdünken … Louis hat zwanzig Franc gegeben … Manche zwei und manche fünf …«
»Trag mich mit fünf Franc ein …«
Der Großvater folgte unbewegt, wie ein Ministrant. Man hatte ihm gesagt, sie müssten zu zweit sein, damit niemand Schwindeleien unterstellen konnte.
»Wenn noch jemand zum Tragen gebraucht wird …«, wurde auch gesagt.
Es handelte sich um Jules, der am nächsten Morgen beerdigt wurde. Er war noch da, in seinem Haus am Fuß der Klippe, wo Licht brannte und alte Frauen ein und aus gingen.
Der dicke Charles zog sein Holzbein nach. Großvater folgte. Sie kamen zur Brücke zurück und streckten ihr Blatt Papier jetzt den Alten hin, die Invalidenrente bezogen.
»Für die Marie vom armen Jules …«
Und während die Männer, da sie nichts Besseres zu tun hatten, einer nach dem anderen in die Cafés traten, sich an die lackierten Tische setzten und die Beine ausstreckten, senkte sich endlich sanft die Nacht.
Es war, als gäbe es weder Morgen noch Mittag noch Abend, denn alles lag im selben Quadersteingrau da, alles außer den weißen Schaumschäfchen auf dem Meer und den schwarzen, harten Schieferdächern, die wie mit Tinte auf Glanzpapier gezeichnet wirkten.
Schwarz waren auch die Leute, allesamt, die Männer, die Frauen und die Kinder. Schwarz und steif, ungelenk in ihren guten Kleidern, wie sonntags.
Der Trauerzug hatte die Drehbrücke überquert; es waren vier Kapitäne, die den Sarg trugen, vier Kapitäne mit weißen Baumwollhänden an den langen Armen. Alle hatten bemerkt, dass gleich dahinter, neben der Marie mit einem ihrer Brüder an der Hand, die älteste Tochter Odile ging, die am Morgen aus Cherbourg gekommen war, wo sie ein loses Leben führte.
Man hatte auch bemerkt, dass sie nicht mit dem Bus gekommen war, sondern in einem Auto, mit einem Mann, der sicher ihr Liebhaber war. Als der Trauerzug an dem Auto vorbeikam, drehte man den Kopf zur Seite, um es in Augenschein zu nehmen, dann drehte man ihn noch etwas weiter, um den Fremden zu betrachten, der mit dem Hut in der Hand vor dem Eingang des Café de la Marine stand.
Der Zug schritt langsam voran. Er hielt zweimal an, um die weiß behandschuhten Träger abzulösen. Die Glocken klangen über den leeren Straßen, und nur der Fremde blieb im Café, während alle anderen in der Kirche und auf dem Friedhof waren, sogar der Gastwirt.
Der Mann kam nicht aus der Gegend, das sah man, sondern aus der Stadt. Er nannte die Serviererin , obwohl sie Mutter von fünf Kindern war, und er ging ungeniert in die Küche, wo die Wirtin persönlich arbeitete.
»Sagen Sie, Mutti, was könnten Sie mir denn zum Mittagessen machen?«
Worauf diese, die Vertraulichkeiten nicht schätzte, antwortete: »Sie bleiben also zum Mittagessen?«
Er schaute in die Kochtöpfe, er schnitt sich sogar eine Scheibe Kuttelwurst ab und wischte sich an der Schürze der Wirtin die Finger ab.
»Versuchen Sie mir doch eine schöne dicke Seezunge aufzutreiben, mit viel Muscheln und Krabben …«
»Die Seezungen standen heute früh bei dreißig Franc das Kilo …«
»Na und?«
Er mochte vielleicht nicht unsympathisch sein, aber er gab sich allzu vertraulich, mit einem gewissen Ausdruck, als mache er sich über alles und jeden lustig. Er bildete sich wohl ein, dass ihm die Welt gehörte, dass die Leute von Port-en-Bessin allesamt seine Dienstboten waren!
Die Hände in den Taschen, spazierte er über den Kai, dann die Hafenmole entlang. Er konnte den Trauerzug sehen, der sich wie eine schwarze Raupe von der Kirche zum Friedhof ausdehnte, und die Luft füllte sich erneut mit unsichtbaren Glocken.
Er ging wieder hinein, wie er hinausgegangen war, trat hinter den Tresen und roch an den Flaschen, ohne die wütenden Blicke der Serviererin zu beachten.
»Decken Sie mir den Tisch am Fenster …«
Die Serviererin, die wie alle anderen geweint hatte, als der Trauerzug vorbeigekommen war, hatte noch eine rote Nase. Es war niemandem entgangen, dass keine einzige Schaluppe ausgelaufen war, was bewies, wie sehr man die Familie Le Flem schätzte. Und oben auf dem Hügel lagen jetzt dreimal mehr Blumen, als nötig waren, um das lehmige Grab zu bedecken.
Erst um elf Uhr füllten sich die Cafés mit Männern im Sonntagsanzug, die noch mehrere Minuten lang ihr ernstes Beerdigungsgesicht beibehielten.
Dann begann man nach und nach, von diesem und jenem zu reden, von Odile, die in vollem Trauerstaat aus Cherbourg gekommen, unter dem Schleier jedoch geschminkt war wie eine Schauspielerin, von der Marie, die aussah wie fünfzehn in ihrem kleinen schwarzen Kostüm, das sie sich zwei Jahre zuvor beim Tod ihrer Mutter hatte nähen lassen; man redete von den beiden Familien, die mit dem Pferdewagen gekommen waren, den Boussus und den Pincemins, Landwirte aus der Nähe von Mayeux, die über die Frauen mit dem armen Jules verwandt waren.
Die Wagen mit den hohen Rädern und dem braunen Verdeck standen neben der Drehbrücke, denn die Straße, in der die Le Flems wohnten, war zu schmal und zu steil.
Sie lag gleich hinter der Brücke. Ihre zehn Häuser standen eher übereinander als nebeneinander. Das Pflaster war holprig, ein Rinnsal von Waschlauge lief ewig den Hang hinab, jahrein, jahraus hingen Hosen und Fischerhemden zum Trocknen auf Drahtleinen.
Oberhalb der Straße trat man aus der Stadt heraus, auf die endlosen Wiesen, steil darunter das Meer.
Marie bediente und putzte sich dabei hin und wieder die Nase, doch wie Tante Mathilde – die Tante Pincemin aus Pré-aux-Bœufs – bemerkte, hatte man sie den ganzen Morgen nicht weinen sehen.
Odile dagegen, mit der niemand sprach und an der alle geflissentlich vorbeischauten, war zweimal in Tränen ausgebrochen, einmal in der Kirche, als der Priester Weihwasser auf den Sarg gesprengt hatte, ein zweites Mal auf dem Friedhof, beim Geräusch der ersten Schaufel Erde, die ins Grab fiel. Sie hatte so laut geweint, mit so herzzerreißenden Schluchzern, dass es, wäre sie kein gefallenes Mädchen gewesen, zwei Frauen gebraucht hätte, um sie zu stützen.
Marie putzte sich lediglich die Nase, mit ihrer Art, niemanden anzusehen, immer ins Leere zu schauen und die Lider zu senken, sobald man sie beobachtete.
Dabei hatte sie getan, was zu tun war: Es gab einen guten Fleischeintopf, den eine Nachbarin während der Beerdigung beaufsichtigt hatte, und der Bäcker war gerade mit dem Braten gekommen, den man ihm zum Garen gegeben hatte.
Die beiden Schwager legten jenen Ernst an den Tag, der sich geziemt, wenn man Verantwortung trägt. Pincemin zog hin und wieder an seinem langen blonden Schnurrbart, der nicht dicht genug wuchs, um ihm das Aussehen eines Galliers zu verleihen, und seine Wangen waren so merkwürdig rosa gefärbt, dass viele dachten, er sei schwindsüchtig.
»Ich will mich gerne des...