Simenon | Die Komplizen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Simenon Die Komplizen


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-455-01670-3
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-455-01670-3
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In einem Moment der Unachtsamkeit - genauer: der erotischen Ablenkung durch seine Affäre auf dem Beifahrersitz - verursacht der Bauunternehmer Joseph Lambert einen schweren Verkehrsunfall mit einem Schulbus, bei dem zahlreiche Kinder zu Tode kommen. Lambert begeht Fahrerflucht; statt sich zu seiner Schuld zu bekennen, setzt er mit Hilfe seiner Geliebten alles daran, seine Beteiligung am Unfall zu verschleiern. Doch die Schlinge zieht sich enger …
Mit einem Nachwort von Hermann Schmidt

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Cover
Verlagslogo
Titelseite
1
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Ein Unfall und seine Folgen
Biographie
Impressum


1
Es kam plötzlich und mit voller Wucht. Und dennoch war es so, als habe er schon immer darauf gewartet. Es durchzuckte ihn nicht. Er wehrte sich nicht dagegen. Von dem Augenblick an, in dem es hinter ihm durchdringend zu hupen begann, von einer Sekunde zur nächsten, wusste er, dass die Katastrophe unvermeidlich war, und zwar durch seine Schuld. Es klang nicht wie eine gewöhnliche Hupe, was ihm da im Nacken saß. Es war eine Mischung aus Wut und Entsetzen; ein unheilverkündendes Heulen, das durch Mark und Bein ging wie eine Schiffssirene in einer Nebelnacht im Hafen. Gleichzeitig sah er im Rückspiegel den rot-weißen Koloss herandonnern, sah das verkrampfte Gesicht und die ergrauten Haare des Busfahrers, merkte, dass er selbst auf die Fahrbahnmitte geraten war. Er kam nicht auf die Idee, seine Hand zurückzunehmen, die noch immer zwischen Edmondes Schenkeln steckte. Die Zeit hätte auch gar nicht gereicht. Er hatte das untere Ende der Grande Côte fast erreicht, die Stelle, wo die Straße im rechten Winkel nach links abbog; aus der Entfernung sah es so aus, als ende sie abrupt an der Außenmauer des Château Roisin. Seit einigen Minuten regnete es, gerade stark genug, dass sich ein schmieriger Film auf dem Asphalt hatte bilden können. Es war merkwürdig. In diesem Augenblick hatte er sich mit allem abgefunden: mit der Katastrophe, mit seiner Schuld. Er wusste, dass sein Leben gleich entzweigeschnitten sein, ja, dass er es vielleicht verlieren würde, und er tat, was ihm zu tun blieb, ohne wirklich daran zu glauben. Er versuchte, nur mit der linken Hand, wieder auf die rechte Seite hinüberzukommen. Wie zu erwarten gewesen war, brach der Wagen jedoch über das Heck aus, geriet ins Schleudern, drehte sich um die eigene Achse und rollte fast quer zur Fahrtrichtung aus. Wie durch ein Wunder kam der Bus noch an ihm vorbei. Lambert glaubte den Fluch zu hören, den ihm der Fahrer mit verzerrtem Gesicht entgegenschrie. Hinter den Scheiben sah Lambert die Köpfe von nichtsahnenden Kindern. Dann krachte es; Blech zerfetzte kreischend – der Koloss war gegen einen Baum geprallt und schlitterte jetzt schräg auf die Kurve zu. Sein eigener Wagen, der noch nicht völlig zum Stillstand gekommen war, fuhr indessen weiter – gefügig, als ob nichts geschehen sei. Der Bus dagegen prallte mit voller Wucht und der Gewalt einer riesigen Ramme auf die Außenmauer des Château Roisin auf. Lambert hielt nicht an. Er hatte nur den einen Gedanken: weg, fort von hier, um das nicht mit ansehen zu müssen. Er besaß die Geistesgegenwart, nicht auf der Landstraße zu bleiben, sondern rechts in den Chemin de la Galinière einzubiegen. Edmonde hatte nicht geschrien. Sie hatte sich nicht gerührt. Er hatte nur gespürt, wie sie erstarrt war. Sie hatte sich zurückgelehnt, und ihm schien, dass sie die Augen geschlossen hatte. Er hatte nicht den Mut, in den Rückspiegel zu schauen, um zu sehen, was hinter ihnen vor sich ging. Aber vor der ersten Kurve warf er doch einen Blick in den Spiegel, und da erblickte er einen riesigen Feuerschein. Er hatte sich im ganzen Leben noch nie so schrecklich gefühlt; nicht einmal, als er nach einer Granatexplosion verschüttet gewesen war. Es war doch völlig unmöglich, dass er hier in seinem Auto saß und fuhr, dass er vor sich auf die Straße schaute, dass er atmete. Irgendetwas musste gleich bersten, in seinem Kopf oder in der Brust. Er war so schweißgebadet, dass seine Hände vom Steuerrad abrutschten. Ihm kam die Idee, anzuhalten und kehrtzumachen. Aber er schaffte es nicht. Das ging über seine Kräfte. Er wollte nichts sehen. Panik, eine Macht, über die er keine Kontrolle hatte, trieb ihn weiter. Trotz allem war er fähig, an Einzelheiten zu denken. Etwa hundert Meter hinter der Kurve und der Mauer, auf die der Bus aufgeprallt war, befand sich die Tankstelle der Despujols, die auch einen kleinen Laden mit Getränkeausschank betrieben. Er kannte sie wie alle in einem Umkreis von etwa zehn Kilometern um die Stadt. Die alte Despujols war taub, aber ihr Mann, der zu dieser Tageszeit höchstwahrscheinlich im Garten arbeitete, hatte zweifellos den Lärm gehört. Ob die Despujols Telefon hatten? Es fiel ihm nicht ein. Wenn nicht, musste Despujols in das Dörfchen Saint-Marc, etwa einen Kilometer entfernt, hinüber, um Hilfe herbeizurufen. Ein Auto hatte er nicht. Er würde sein Fahrrad nehmen. Lambert wagte immer noch nicht, Edmonde anzusehen, die nach wie vor regungslos neben ihm saß. Sie hatte offenbar den Saum ihres Kleides wieder tiefer gezogen, ohne dass er etwas davon gemerkt hatte, denn er hatte den hellen Fleck ihrer Knie nicht mehr im Augenwinkel. Er musste etwas tun, musste irgendwohin. Bloß – wohin? Das wusste er noch nicht. Jetzt, nachdem er die Kurve hinter sich gelassen und in den Chemin de la Galinière eingebogen war, hatte er das Recht verwirkt, wieder zurückzukehren. Er durfte sich auch nicht im Dorf, etwa achthundert Meter entfernt, blicken lassen. Er schlug deshalb den ersten Feldweg zu seiner Linken ein, wobei er voller Schrecken an die Möglichkeit dachte, dass ihnen ein Bauer begegnen könnte. Wenn er die große Umgehungsstraße, die Route du Coudray, erreichte, war er gerettet. Dann konnte er behaupten, von jedem x-beliebigen Ort zu kommen, von gar nichts zu wissen, an diesem Tag nicht über die Grande Côte gekommen zu sein. Rechts lag jetzt ein Bauernhof, aber es war niemand zu sehen. Es regnete immer noch, ein typischer spätsommerlicher Landregen. Eigentlich fast schon ein Herbstregen. Sein Herz schlug weiterhin sehr schnell. Seine Hand lag feucht und zitternd am Lenkrad. Er schämte sich. Er war unsagbar unglücklich. Dennoch zwang er sich, alles Mögliche zu bedenken, sich gegen alle Eventualitäten zu wappnen. Er hörte sich laut sagen: »Wir halten in Tréfoux.« Das war fast am anderen Ende der Stadt, um die die Route du Coudray herumführte. Er kannte sich dort überall aus; er hatte in der ganzen Gegend Baustellen, die er fast täglich inspizierte. Gerade kamen sie von einer dieser Baustellen auf dem Renondeau-Hof, wo seine Leute dabei waren, das Stahlgerüst für eine Scheune aufzustellen. Lambert hatte auch die Gebäude der Molkereigenossenschaft von Tréfoux errichtet, zu der eine mustergültige Käserei gehörte, und zweihundert Meter weiter entstand jetzt eine großangelegte Schweinemast, in der die Abfallprodukte Verwendung finden sollten. Lambert hatte viel gearbeitet – mehr noch als sein Vater und mehr als sonst jemand in der Stadt. Und nun war mit einem Schlag die ganze Anstrengung von fünfundzwanzig Jahren bedroht. Wie viele Sekunden hatte es dafür gebraucht? Nur wenige! Nicht einmal die Zeit, die er gebraucht hätte, um seine rechte Hand zurückzuziehen. Der Bus hatte bestimmt auf halber Strecke zum ersten Mal gehupt, aber Lambert war sich nicht sicher. Er hatte nicht darauf geachtet. Und doch hatte er das Hupen wieder im Ohr; es stieg in ihm auf, wie Fetzen aus einem Traum bisweilen vor einem aufsteigen. Der Fahrer hatte Hupzeichen gegeben, um sich von weitem bemerkbar zu machen. Der Bus war schnell gefahren, er brachte Kinder aus einem Ferienlager zurück nach Paris oder in irgendeine Stadt im Norden. Lambert fuhr jetzt auf die Route du Coudray, und von nun an war es fast so, als sei er dem Leben wiedergegeben worden. Auf der gut ausgebauten Straße herrschte reger PKW- und LKW-Verkehr. Etwa dreihundert Meter weiter vorn wurde eine rote Tankstelle sichtbar und noch ein Stückchen weiter weg eine Gastwirtschaft mit Terrasse. Lambert hätte beinahe angehalten, um etwas zu trinken; vielleicht könnte er sich dabei auch ein Alibi verschaffen, indem er so ganz nebenbei einflocht, er käme gerade vom Renondeau-Hof und sei auf dem Weg nach Tréfoux. Aber war das nicht übervorsichtig? Vielleicht würde er damit gerade auf sich aufmerksam machen? Es kam zwar oft vor, dass er an einem Landgasthaus anhielt und sich einen Weißwein bestellte, aber nie, wenn er seine Sekretärin dabeihatte. Edmonde begleitete ihn selten. Er hätte nicht erklären können, was ihn an diesem Tag, als er schon am Aufbrechen war, gepackt hatte. »Nehmen Sie die Pläne, Mademoiselle Pampin«, hatte er zu ihr gesagt, »und warten Sie unten im Wagen auf mich.« Marcel, sein Bruder, der auch im Büro war, hatte ihm, wie es seine Art war, schweigend einen Blick zugeworfen und ihn damit aufgebracht. Als ob Marcel da mitreden konnte! Jeder zimmert sich sein Leben nach seiner Fasson zurecht. Marcel hatte das Leben gewählt, das ihm gefiel, und schien damit zufrieden. Kein Grund, anderen seine Prinzipien aufzuerlegen. »Du brauchst die Pläne?«, hatte Marcel gefragt. »Ja.« Joseph Lambert hatte seinem Bruder dabei in die Augen gesehen. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf Kollisionskurs gingen, wenn man das überhaupt so nennen konnte, denn Marcel trat mit schöner Regelmäßigkeit den Rückzug an. Oder besser gesagt: Marcel begnügte sich damit, nicht nachzuhaken und stattdessen ein Lächeln aufzusetzen, das so dünn war wie sein flaumiges blondes Schnurrbärtchen. Zu dem Zeitpunkt hatte es noch nicht geregnet; die Büroräume waren voller Sonne gewesen. Sie hatten sie drei Jahre zuvor renoviert und, wie in modernen Firmen üblich, mit Glastrennwänden versehen. Nur Joseph hatte ein Büro, in das man keinen Einblick hatte. Wenn er dann zusätzlich unter dem Vorwand, dass die Sonne blendete, die Jalousien herunterließ, brauchte er nur noch Mademoiselle Pampin zu sich hereinzurufen, wie zum Diktat oder einer anderen Arbeit. Niemand, noch nicht einmal Marcel,...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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