E-Book, Deutsch, Band 108, 192 Seiten
Simenon Die Katze
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-311-70513-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 108, 192 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Die großen Romane
ISBN: 978-3-311-70513-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1
Die Zeitung war ihm aus den Händen geglitten, hattesich auf seinen Knien entfaltet und war dann auf den gebohnerten Fußboden gesegelt. Man hätte glauben können, er sei eingeschlafen, hätten sich seine Lider nicht immer wieder ein wenig geöffnet.
Ließ seine Frau sich täuschen? Sie saß strickend in ihrem niedrigen Sessel auf der anderen Seite des Kamins. Nie ließ sie sich anmerken, dass sie ihn beobachtete; aber er wusste schon lange, dass ihr nichts entging, nicht das leiseste Zucken seiner Muskeln.
Krachend fiel der Greifkorb mit dem stählernen Gebiss neben dem Betonmischer zu Boden. Jedes Mal erzitterte dabei das Haus, und jedes Mal fuhr die Frau zusammen und legte die Hand an die Brust, als träfe sie das längst vertraute Geräusch bis ins Mark.
Sie belauerten einander. Sie brauchten sich nicht anzusehen. Seit Jahren belauerten sie sich und erfanden immer neue Tricks bei ihrem Spiel.
Er lächelte. Die schwarze Marmoruhr mit den Bronzeverzierungen zeigte fünf Minuten vor fünf. Er bewegte die Lippen, als zählte er die Sekunden, die Minuten. Und er zählte wirklich. Auch er wartete darauf, dass der große Zeiger senkrecht stand. Der Lärm der Mischmaschine und des Krans würde schlagartig verstummen. Die Männer in ihrem Ölzeug, denen der Regen vom Gesicht und von den Händen tropfte, würden einen Augenblick innehalten und dann zur Baracke am Rand der Baustelle gehen.
Es war November. Ab vier Uhr arbeiteten sie im Licht von Scheinwerfern. Gleich würde es ausgehen, und mit einem Mal würde es dunkel und still sein, nur eine Gaslaterne würde noch die Sackgasse beleuchten.
Als Émile Bouin, dem in der Wärme die Beine eingeschlafen waren, die Augen halb öffnete, sah er die gelben und bläulichen Flammen, die von den Holzscheiten aufstiegen. Wie die Uhr und die vierarmigen Kerzenleuchter zu ihren beiden Seiten war auch der Kamin aus schwarzem Marmor.
Im Haus rührte sich nichts. Wie auf einem Foto oder auf einem Gemälde, dachte er. Nur Marguerites Hände bewegten sich, und man hörte das leise Klappern der Stricknadeln.
Drei Minuten vor fünf. Zwei Minuten. Einige Arbeiter gingen schon mit langsamen schweren Schritten zu der Baracke, um sich umzuziehen, aber der Kran war noch in Betrieb, und der Greifkorb schwebte ein letztes Mal mit einer Betonladung hinauf zum künftigen ersten Stock des Gebäudes.
Eine Minute vor fünf. Fünf Uhr. Der Zeiger zitterte zögernd auf dem bleichen Zifferblatt; in großen Abständen folgten fünf Schläge, als müsste alles langsam vonstattengehen in diesem Haus.
Marguerite seufzte und horchte gespannt in die plötzliche Stille draußen, die bis zum nächsten Morgen anhalten würde.
Émile Bouin dachte nach, lächelte vage vor sich hin und betrachtete durch die halb geschlossenen Lider die men. Das unterste Holzscheit war nur noch ein geschwärztes Skelett, von dem Rauchfäden aufstiegen. Die beiden anderen glühten noch, aber ihr Knistern verkündete schon, dass auch sie bald in sich zusammenfallen würden.
Marguerite fragte sich, ob er aufstehen, neue Scheite aus dem Korb nehmen und sie ins Feuer legen würde.
Sie hatten sich beide an die Hitze des Kamins gewöhnt und genossen sie so lange, bis ihre Gesichter brannten und sie ihre Sessel etwas abrücken mussten.
Er lächelte weiter. Sein Lächeln galt nicht ihr, galt nicht dem Feuer, sondern einem Gedanken, der ihm gerade durch den Kopf gegangen war.
Er hatte es nicht eilig, ihn in die Tat umzusetzen. Sie hatten Zeit, beide, bis zu dem Moment, da einer von ihnen sterben würde. Wer würde der Erste sein? Bestimmt dachte auch Marguerite darüber nach. Sie dachten seit einigen Jahren mehrmals am Tag daran. Es war ihr wichtigstes Problem geworden.
Schließlich seufzte er ebenfalls. Er nahm die rechte Hand von der Lehne des Ledersessels, tastete nach der Tasche seiner Hausjacke und zog ein kleines Notizbuch heraus, das eine bedeutende Rolle in diesem Haus spielte. Die schmalen Seiten waren perforiert, sodass man drei Zentimeter breite Papierstreifen säuberlich herausreißen konnte.
Der Einband war rot. Ein winziger Bleistift steckte in einer Lederschlaufe.
War Marguerite zusammengezuckt? Fragte sie sich, was er ihr diesmal mitteilen würde?
Sie war daran gewöhnt, aber sie konnte nie wissen, was er schreiben würde.
Er blieb, den Bleistift in der Hand, absichtlich lange reglos sitzen, als würde er nachdenken.
Er hatte ihr nichts Besonderes mitzuteilen. Er wollte sie nur in Unruhe versetzen, in Atem halten, gerade dann, wenn der Lärm auf der Baustelle verstummte und Marguerite Erleichterung verspürte. Er hatte einige Einfälle, aber er verwarf sie einen nach dem anderen.
Der Rhythmus der Stricknadeln hatte sich verändert. Es war ihm gelungen, sie zu verunsichern oder jedenfalls ihre Neugier zu wecken.
Er kostete sein Vergnügen noch fünf Minuten aus, bis die Schritte eines Arbeiters zu hören waren, der sich dem Ende der Sackgasse näherte. Dann schrieb er in Druckbuchstaben:
Die Katze
Eine ganze Weile saß er reglos da, ehe er das Notizbuch, aus dem er den Papierstreifen herausgerissen hatte, wieder in die Tasche steckte.
Den Streifen faltete er so zusammen, wie es Kinder mit einem Blatt Papier tun, das sie mit einem Gummiband wegschnipsen wollen. Er brauchte kein Gummiband. Er hatte bei diesem Spiel eine erstaunliche, gleichsam machiavellistische Geschicklichkeit entwickelt.
Er nahm das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, krümmte den Daumen zu einem Abzughahn und beförderte die Botschaft in Marguerites Schoß.
Er verfehlte nie sein Ziel und triumphierte jedes Mal innerlich.
Marguerite würde sich nicht rühren, das wusste er. Sie würde so tun, als hätte sie nichts bemerkt, würde weiterstricken und dabei die Lippen wie zu einem Gebet bewegen, während sie lautlos die Maschen zählte.
Manchmal wartete sie, bis er das Zimmer verließ oder ihr den Rücken kehrte, um Holz nachzulegen.
Dann wieder ließ sie nach einigen Minuten scheinbarer Gleichgültigkeit die rechte Hand über ihre Schürze gleiten und ergriff das zusammengefaltete Papier.
Es gab immer wieder Variationen. Heute zum Beispiel wartete sie, bis alle Geräusche von der Baustelle verstummt waren und in die Sackgasse, an deren Ende sie wohnten, völlige Stille eingekehrt war.
Als hätte sie ihre Arbeit beendet, legte sie ihr Strickzeug auf einen Hocker und schloss halb die Augen, als wäre auch sie von der Wärme des Feuers ganz schläfrig geworden.
Erst sehr viel später tat sie so, als bemerkte sie plötzlich das gefaltete Papier auf ihrer Schürze, und nahm es zwischen ihre mit feinen Falten überzogenen Finger.
Man mochte glauben, sie würde es gleich ins Feuer werfen. Aber er wusste, das gehörte zur täglichen Komödie. Er ließ sich nicht täuschen.
In einem bestimmten Alter spielen Kinder Tag für Tag zur gleichen Zeit dasselbe Spiel, als wäre es ganz neu. Sie tun »als ob«.
Allerdings war Émile Bouin dreiundsiebzig Jahre alt und Marguerite einundsiebzig. Ihr Spiel dauerte schon vier Jahre, und sie wurden seiner offenbar nicht müde.
In dem stickigen und stillen Zimmer entfaltete die Frau schließlich das Papier und las, ohne die Brille aufzusetzen, die beiden Wörter, die der Mann darauf geschrieben hatte:
Die Katze
Sie rührte sich nicht, zuckte nicht mit der Wimper. Es hatte längere, überraschendere, dramatischere Botschaften gegeben, auch solche, die ein echtes Rätsel darstellten.
Diese war die banalste und kam am häufigsten vor, dann nämlich, wenn Émile Bouin keine andere Bosheit einfiel.
Sie warf das Papier in den Kamin, eine schmale Flamme loderte auf und erlosch gleich wieder. Die Hände auf dem Bauch, blieb sie still sitzen, und nichts regte sich mehr im Zimmer, außer den Flammen im Kamin.
Die Uhr zitterte und schlug ein Mal. Marguerite, klein und dünn, stand auf, als wäre das ein Zeichen.
Ihr Wollkleid war blassrosa wie ihre Wangen, die karierte Schürze hellblau. Ein paar blonde Strähnen durchzogen ihr weißes Haar.
Ihre Züge waren mit den Jahren spitz geworden. Für jene, die sie nicht kannten, spiegelten sich Sanftheit, Melancholie und Resignation in ihrem Gesicht.
»Eine so gute Frau!«
Émile Bouin grinste nicht. Sie waren nicht mehr in dem Alter, in dem man seine Gefühle deutlich zeigt. Ein Zucken, ein Verziehen der Mundwinkel, ein flüchtiges Aufleuchten der Augen genügten.
Sie blickte um sich, als überlegte sie, was zu tun sei. Er ahnte es, so wie man im Damespiel voraussieht, welchen Zug das Gegenüber machen wird.
Er hatte sich nicht getäuscht. Sie ging zum Käfig, einem großen blau-weißen Käfig mit goldenen Stäben. Ein buntgefiederter Papagei hockte wie erstarrt auf der Stange. Es dauerte eine Weile, ehe man entdeckte, dass er Glasaugen hatte und ausgestopft war.
Sie betrachtete ihn liebevoll, als ob er noch leben würde, und steckte einen Finger zwischen die Stäbe. Ihre Lippen bewegten sich wie vorhin, als sie die Maschen gezählt hatte.
Sie sprach mit dem Vogel. Man war fast darauf gefasst, dass sie ihn gleich füttern würde.
Er hatte geschrieben:
Die Katze
Sie antwortete ohne Worte:
Der Papagei
Die übliche Antwort.
Er beschuldigte sie, seinen Kater vergiftet zu haben, den er schon geliebt hatte, ehe er seine Frau kannte.
Jedes Mal, wenn er vor dem Fenster saß, eingehüllt in die Wärme, die von den brennenden Scheiten aufstieg, war er versucht, die Hand auszustrecken, um das weiche schwarzgestreifte Fell des Tiers zu streicheln, das früher, sobald er sich hingesetzt hatte, auf seinen...