Simenon | Die Glocken von Bicêtre | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 101, 304 Seiten

Reihe: Georges Simenon

Simenon Die Glocken von Bicêtre


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70089-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 101, 304 Seiten

Reihe: Georges Simenon

ISBN: 978-3-311-70089-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



René Maugras, vierundfünfzig, Herausgeber einer Pariser Zeitung, wacht nach einem Schlaganfall im Krankenhaus Bicêtre auf. Er, dessen Kapital die Worte waren, ist des Sprechens nicht mehr mächtig; halbseitig gelähmt, ist er gefangen in einer anderen Welt. Doch seine Fähigkeit zu denken ist unbeeinträchtigt. Langsam kämpft er sich ins Leben zurück, während seine Umgebung ihn weiter für besinnungslos hält. Maugras belauscht die Gespräche an seinem Bett, lässt sein Leben Revue passieren, seine Errungenschaften und Lebenslügen, die Erfolge und Misserfolge - als Verleger, als Ehemann, als Mensch. Die Glocken von Bicêtre sticht unter den vielen Meisterwerken Simenons hervor, durch den Verzicht auf jegliche Spannungselemente und durch die Tatsache, dass Simenon nicht wie üblich elf Tage für die Niederschrift brauchte, sondern ganze zweiundzwanzig.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1


Acht Uhr abends. Für Millionen Menschen – jeder in seiner kleinen, selbst erschaffenen oder erduldeten Welt – geht ein kalter, nebliger Tag zu Ende. Es ist Mittwoch, der 3. Februar.

Für René Maugras allerdings gibt es weder Tag noch Stunde, und die Frage nach der verstrichenen Zeit wird ihn erst später beunruhigen. Er befindet sich in einem tiefen Loch. Es ist darin so dunkel wie auf dem Meeresgrund, und es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Und doch, ohne dass er davon weiß, beginnt sich sein rechter Arm auf eine krampfhafte Art zu bewegen, während sich seine Wange bei jedem Atemzug merkwürdig bläht.

Das erste Zeichen, das von außen zu ihm dringt, ist ringförmig; klingende Ringe, die sich immer weiter ausdehnen und immer fernere Wellen bilden. Mit geschlossenen Augen versucht er ihnen zu folgen, sie zu begreifen, und da geschieht etwas, das er niemandem je erzählen wird: Er erkennt diese Wellen, und er möchte ihnen am liebsten zulächeln.

Als Kind lauschte er oft den Kirchenglocken von Saint-Étienne, deutete ernst in den blauen Himmel und sagte:

»Ninge …«

Das hat ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod erzählt. Er konnte das Wort »Ringe« noch nicht aussprechen, in seinem Mund wurde es zu »Ninge«, und »Ninge« nannte er die Glocken, weil sie klingende Ringe, konzentrische Kreise, in die Luft warfen.

Auch hier gibt es Glocken. Er versucht nicht, die Schläge zu zählen, dafür ist er zu träge. Auch diese Trägheit ist ihm nicht unbekannt. Er hat sie schon einmal erlebt, und eine Zeit lang verwirrt sich alles in seinem Kopf. Ist er vielleicht noch der achtjährige Junge, der in höchster Eile aus der Schule ins Krankenhaus von Fécamp gebracht worden ist, dem man, während er sich brüllend wehrte, eine Maske aufs Gesicht gepresst hat, um ihm dann den Blinddarm zu entfernen?

Auch damals war da ein Loch und später, viel später, ein seltsamer Geschmack im Mund, eine tiefe Müdigkeit im ganzen Körper und schließlich, als er fortzutreiben begann, waren da die klingenden Ringe der vertrauten Glocken.

Er möchte jetzt lächeln, denn ihm geht ein Gedanke durch den Kopf, der ihn amüsiert. Auch wenn er nicht wirklich daran glaubt, ganz verwerfen mag er ihn nicht. Ist er vielleicht noch immer der kleine Junge in Fécamp, der in einem Krankenhauszimmer langsam aufwacht, und wird sein erster Blick auf eine dicke blonde rosige Schwester fallen, die an seinem Bett sitzt und strickt? Dann wäre alles Übrige nur ein Traum gewesen. Er hätte unter Narkose fast fünfzig Lebensjahre geträumt.

Das ist natürlich nicht wahr. Er weiß, dass es nicht wahr ist, er ist ein Mann von vierundfünfzig Jahren und hat das kleine Haus in der Rue d’Étretat schon vor langer Zeit verlassen. Und doch schien es ihm für ein paar Minuten, vermutlich nur Sekunden, möglich, und er möchte es überprüfen. Dazu braucht er nur die Augen aufzuschlagen, und etwas sehr Seltsames geschieht. Es ist gar nicht tragisch, im Gegenteil, eher komisch. Er tut, was man tun muss: Man lässt das Gehirn einen Befehl an bestimmte Nerven senden. Aber die Augenlider rühren sich nicht.

Er hat keine Schmerzen. Seine große Trägheit ist ziemlich angenehm, ein wenig, als wäre er nicht länger ein Mensch. Er hat keine Probleme, keine Verantwortung. Ein einziger Grund treibt ihn an, seine Bemühung fortzusetzen: Er muss die Gewissheit haben, die vollkommene Gewissheit, dass die dicke blonde rosige Krankenschwester nicht an seinem Bett sitzt und strickt.

Ist von außen zu erkennen, was in ihm vorgeht? Die Ringe haben sich in weiter Ferne in Luft aufgelöst, und er nimmt ein anderes Geräusch wahr, das ebenfalls Erinnerungen in ihm weckt. Er ist zu müde, um sich zu fragen, welche. Ein Stuhl hat geknarrt, als würde sich jemand plötzlich erheben. Es muss ihm gelungen sein, die Lider ein wenig zu öffnen, denn ganz in der Nähe sieht er eine weiße Tracht, ein junges Gesicht und braune Haare, die unter einer Schwesternhaube hervorlugen.

Es ist nicht seine Krankenschwester, und enttäuscht schließt er die Augen wieder. Er ist wirklich zu müde, um Fragen zu stellen, lieber sinkt er wieder tief hinab in sein Loch.

Wird er später, in einigen Stunden oder Tagen, unterscheiden können, was er im Koma tatsächlich wahrgenommen und was ihm darüber berichtet wurde? Gibt es zum Beispiel auf dem Flur neben seinem Zimmer ein Telefon, und hört er gerade wirklich eine Frau sagen:

»Professor Besson d’Argoulet? … Er ist nicht zu Hause? … Wissen Sie, wo man ihn erreichen kann? Er wollte benachrichtigt werden, sobald …«

Morgen wird er erfahren, dass es tatsächlich neben seiner Tür ein altmodisches Wandtelefon gibt. Noch ergibt das keinen Sinn, und wenn es so weit ist, dann nur für ihn.

Um halb zehn weiß er noch immer nicht, dass es halb zehn ist, und das Aufwachen ist schlagartig und dramatisch, wie nach einem Albtraum, als hätte er geträumt, er müsste sich um jeden Preis an etwas Hartem festklammern, aber er kann nicht, seine Kräfte haben ihn verlassen; seine Gliedmaßen sind wie ausgeleiert, er hat sie nicht in der Gewalt. Dann will er schreien, um Hilfe rufen. Sein Mund öffnet sich. Er ist fast sicher, dass er den Mund weit öffnet. Aber es kommt kein Ton heraus.

Er muss unbedingt sehen, was um ihn herum ist. Sein Körper ist schweißbedeckt, seine Stirn feucht, und doch friert ihn, und er zittert am ganzen Leib und kann nichts dagegen tun.

»Keine Sorge … Es ist alles in Ordnung … Alles läuft gut …«

Er kennt die Stimme. Er versucht sie zu identifizieren, und plötzlich sieht er nicht nur ein Gesicht und eine weiße Haube, sondern auch ein fremdes Zimmer mit grün gestrichenen Wänden.

Neben dem Bett steht Besson d’Argoulet – er nennt ihn Pierre, denn sie sind seit dreißig Jahren befreundet. Über seinen Anblick müsste er eigentlich lachen: Unter dem offenen Kittel trägt er eine Frackweste und eine weiße Fliege.

»Ganz ruhig, René, mein Lieber. Es ist alles in Ordnung.«

Vielleicht für den Professor, der ihm zerstreut den Puls fühlt. Schließlich liegt nicht Besson in dem, was offenbar ein Krankenhausbett ist, um das herum sich die braunhaarige Schwester geschäftig bewegt. Er hat sich vorhin nicht getäuscht. Er hat wirklich für ein paar Augenblicke das Bewusstsein wiedererlangt, denn er erkennt sie wieder.

»Es ist nichts Ernstes, René … Alle Untersuchungen bestätigen das … Wir machen noch ein paar weitere Tests, das ist lästig, aber leider unerlässlich. Audoire wird gleich hier sein …«

Wer ist Audoire? Ein Name, den er kennt oder kennen müsste, er, der alle wichtigen Leute in Paris kennt? Die Schwester hat auf ein Tablett eine Spritze mit einer sehr langen, sehr dicken Nadel gelegt. Sie scheint nervös auf die Geräusche im Flur zu lauschen, während sie Maugras nicht aus den Augen lässt, und als draußen eine Tür auf- und wieder zugeht, stürzt sie hinaus.

»Wunder dich nicht, wenn …«

Doch, er wundert sich. Denn er hat soeben den Mund geöffnet. Weder um sich zu beklagen, noch um Fragen zu stellen. Sondern weil er, den Blick auf die gestärkte Hemdbrust und die weiße Fliege gerichtet, sagen wollte:

»Es tut mir unendlich leid, mein Lieber, dass ich dir deinen Abend verderbe …«

Aber er hat keinen Ton herausgebracht. Er hat keine Stimme mehr. Nichts! Nicht einmal ein Röcheln. Nur etwas wie ein Pfeifen oder vielmehr Glucksen, denn immer wieder bläht sich seine Wange auf groteske Weise. Als versuchte ein Kind, Pfeife zu rauchen.

»Du wirst vermutlich einige Tage nicht sprechen können.«

Auf dem Flur wird geflüstert. Seine Sinne sind wach, ein paar zumindest, denn er nimmt Zigarettenrauch wahr.

»Du vertraust mir doch, nicht wahr? … Du weißt, dass ich dich nicht belügen würde?«

Wozu ihm eine Frage stellen, da er ja doch nicht antworten kann? Er würde gern Ja sagen, um seinem Freund Pierre eine Freude zu machen. Ein Ja ohne Überzeugung. Ein höfliches, gleichgültiges Ja. Denn ihm ist alles egal, und er möchte am liebsten wieder in seinem Loch versinken, wo er vielleicht die Klangringe der Glocken wiederfindet.

Nein! Er kennt Audoire nicht, er ist ihm nie begegnet. Das weiß er, denn er hat ein gutes Gedächtnis für Gesichter und erinnert sich an jeden Namen, auch wenn er den Menschen nur ein Mal vor Jahren ein paar Minuten lang gesehen hat. Audoire ist Arzt, denn er trägt einen weißen Kittel und eine runde Kappe auf dem Kopf. Sein Gesicht ist nichtssagend. Selten hat Maugras ein so leeres, ausdrucksloses, ja banales Gesicht gesehen und derartig mechanische Bewegungen.

Die beiden Männer geben sich die Hand und sehen sich stumm an, als bedürfte es keiner Worte, um einander zu verstehen, oder als hätten sie diese Szene geprobt. Dann wendet sich Audoire vom Fuß des Bettes aus an René.

»Sie sind ganz ruhig … Das ist gut. Wir müssen Ihnen noch ein wenig wehtun, und dann werden Sie friedlich schlafen.«

Man spricht also zu ihm wie zu einem Menschen, darüber ist er fast erstaunt. Gleichzeitig behandelt man ihn wie einen Gegenstand. Die junge Schwester schlägt die Decke zurück, und beschämt stellt er fest, dass er unten nackt ist. Zwischen den Beinen hat er eine Urinflasche, wie ein Greis, der sich einnässt.

Sie hält jetzt das eine seiner Knie fest, das zu zittern begonnen hat, und Professor Audoire nimmt eine Spritze vom Tablett, aber nicht die große mit der langen Nadel, sondern eine kleinere, und sticht ihm damit in den Hintern. Er spürt nichts. Auch das würde er ihnen gerne...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Madlung, Mirjam
Mirjam Madlung studierte Literaturwissenschaften, arbeitete in Verlagen, lebt als freiberufliche Lektorin in Schleswig-Holstein und u¨bersetzt aus dem Niederländischen, Englischen und Französischen.



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