E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Die großen Romane
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Die großen Romane
ISBN: 978-3-455-00473-1
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Georges Simenon ist der wichtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.«
Gabriel García Márquez
Der Uhrmacher Dave Galloway lebt mit seinem Sohn Ben in Everton, einer Kleinstadt im Nordosten der USA. Dave ist »wie manche Patienten, die so große Angst vor dem Ausbruch der Krise haben, dass sie gleichsam auf Sparflamme leben«. Doch hatte er eine andere Wahl, nachdem seine Frau plötzlich aus seinem Leben verschwand? Eines Tages ist auch sein Sohn verschwunden. Ben und seine Freundin Lillian werden einer schrecklichen Tat verdächtigt und von der Polizei quer durch Amerika gejagt. Dave Galloway muss sich den Dämonen der Vergangenheit stellen.
Bandnummer: 81
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
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Nachwort – Es war einmal in Amerika
Über Georges Simenon
Impressum
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Im Traum geschieht es mitunter, dass man sich am Rand einer fremden und zugleich vertrauten Landschaft wiederfindet, die sich unheimlich vor einem auftut wie ein Abgrund. Sie ähnelt keineswegs den Orten, die man im wirklichen Leben gesehen hat, dennoch regt sich etwas im Gedächtnis, sodass man beinahe mit Sicherheit sagen möchte, man sei dort schon einmal gewesen, habe in einem anderen Traum oder in einem früheren Dasein vielleicht sogar eine Zeitlang an dieser Stelle verbracht. Genau das spürte Dave Galloway. Die schlimme Stunde, die er jetzt durchlitt, hatte er schon einmal erlebt. Das Gefühl des völligen körperlichen und seelischen Zusammenbruchs war ihm nicht neu, ebenso wenig die Leere ringsum. Schon beim ersten Mal hatte er in sich zusammengesunken in diesem grünen Sessel gesessen, gegenüber dem dazupassenden Sofa. Beide Möbelstücke hatten seine Frau und er einst in Hartford auf Kredit gekauft, zusammen mit den beiden niederen Tischen, den zwei Stühlen und der Konsole für das Radio, denn damals hatte es noch kein Fernsehen gegeben. Ihr Wohnzimmer dort war kleiner gewesen und das Haus neu, wie überhaupt die ganze Siedlung. Sie waren die ersten Mieter, und als sie einzogen, fingen die Bäume zu beiden Seiten der eben angelegten Straße gerade an auszuschlagen. Sie lebten damals in Waterbury in Connecticut. Er arbeitete in einer Manufaktur, in der Uhren und Präzisionsinstrumente hergestellt wurden. Die Vorkommnisse jenes Abends waren ihm in allen Einzelheiten im Gedächtnis haftengeblieben; später würde er sich wohl ebenso genau an den Abend bei Musak erinnern. Er hatte damals einen befreundeten Kollegen zu Hause aufgesucht, um eine Pendeluhr, die dieser von seinem Urgroßvater geerbt hatte, zu reparieren. Diese Standuhr deutschen Fabrikats hatte ein Zifferblatt aus Zinn mit feinen Gravierungen und ein von Hand gefertigtes Räderwerk. Dave war in Hemdsärmeln auf einen Stuhl gestiegen, sodass er mit dem Kopf beinahe an die Zimmerdecke stieß. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er die Zeiger gedreht hatte, um das Schlagwerk zu regeln, damit die Uhr die vollen, die halben und die Viertelstunden anzeigte. Die Fenster standen offen. Es war ebenfalls Frühling gewesen, aber doch ein wenig früher im Jahr. Auf dem Tisch standen eine große Schale mit Erdbeeren, daneben eine Whiskyflasche und Gläser. Die Frau seines Kollegen hieß Patricia. Sie war italienischer Herkunft, hatte dunkles Haar und eine sehr feine Haut. Um ihnen Gesellschaft zu leisten, hatte sie das Bügelbrett ins Wohnzimmer gebracht, den ganzen Abend über Windeln gebügelt und den Raum nur einmal verlassen, als eines der Kinder aus dem Schlaf geschreckt war und sie es beruhigen musste. Sie hatten drei Kinder, eines war vier, eines zweieinhalb und das jüngste ein Jahr alt. Sie war wieder schwanger und dabei ruhig und strahlend wie eine prächtige Frucht. »Auf dein Wohl!« »Auf das deine!« Auch damals hatte er zwei Gläser Whisky getrunken. Sein Freund wollte sich ein drittes einschenken, doch Patricia hatte ihn liebevoll davon abgebracht. »Wirst du dann morgen früh nicht arges Kopfweh haben?« Als die Uhr schlug, lauschten sie gerührt, denn seit sie ihnen als Erbteil zugefallen war, hatte sie noch nie funktioniert. Auch Galloway war glücklich darüber, den Abend bei ihnen verbracht und eine so kunstvolle Mechanik wieder in Gang gebracht zu haben. Ihm fiel auch wieder ein, dass sie damals auszurechnen versucht hatten, was eine solche Pendeluhr, wenn man sie jetzt neu anfertigen ließe, kosten würde. »Ein letztes Gläschen?« Genau wie bei Musak! »Nein, danke.« Er war zu Fuß nach Hause gegangen. Er wohnte nur zwei Straßen weiter. Der Mond schien. Schon an der Straßenecke war ihm aufgefallen, dass sein Haus nicht erleuchtet war. Ruth hatte sich offenbar schon schlafen gelegt, ohne seine Rückkehr abzuwarten. Das schien ihm sonderbar, denn seine Frau hatte abends nie Lust, zu Bett zu gehen, und suchte ständig nach einem Vorwand, um noch aufzubleiben. Vielleicht hätte er früher aufbrechen sollen? Er beschleunigte seine Schritte, die auf der betonierten Chaussee widerhallten. Er war noch zwanzig Meter von seiner Haustür entfernt, als er schon seine Schlüssel aus der Westentasche fischte. Kaum hatte er die Tür geöffnet, da spürte er schon die Leere, die ihn auch an diesem Abend bei seiner Rückkehr förmlich angesprungen hatte. Der Mond schien hell durch die Fenster, die nicht mit Jalousien versehen waren. Er rannte ins Schlafzimmer, rief: »Ruth!« Das Bett war unberührt. Niemand da. Ein altes Paar Schuhe lag auf dem Bettvorleger. Daraufhin öffnete er die andere Tür und blieb zitternd stehen, so sehr lähmte ihn die Furcht, die eben in ihm aufgestiegen war. Ruth hatte den Säugling nicht mitgenommen! Ben lag warm und friedlich in seiner Wiege und duftete nach frischem Brot. »Findest du nicht, dass er nach frischem Brot riecht?«, hatte er einmal zu seiner Frau gesagt. Sie hatte es nicht böse gemeint, das wusste er genau, als sie in ihrer schnoddrigen Art entgegnete: »Ach was! Er riecht halt nach Pipi wie alle Kleinkinder.« Am liebsten hätte er Ben aus seiner Wiege gehoben, um ihn zu herzen. Doch er beugte sich nur über ihn und lauschte lange auf seinen Atem. Dann kehrte er auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer zurück und schaltete das Licht ein. Sie hatte den Wandschrank nicht geschlossen, auch eine Schublade des Frisiertischs stand offen, zwei schwarze Haarklammern lagen noch darin. Im Raum hing ihr schweres, aufdringliches Parfüm, mit dem sie sich anscheinend vor ihrem Aufbruch besprüht hatte. Alle ihre Kleider waren verschwunden, außer einem geblümten Baumwollkittel und zwei zerrissenen Schlüpfern. Er hatte weder geweint noch die Fäuste geballt, sich nur in den Wohnzimmersessel neben dem Radio gesetzt. Nach einer langen Weile ging er in der Küche nachsehen, ob kein Brief von ihr auf dem Tisch lag. Das war nicht der Fall. Aber sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Im Mülleimer neben dem Spülbecken entdeckte er eine ganze Menge Papierschnipsel, die er geduldig zusammensetzte, als bildeten sie ein Puzzle. Sie hatte ihm also einen Abschiedsbrief schreiben wollen, aber nicht die richtigen Worte gefunden, in ihrer unbeholfenen Schrift mehrmals dazu angesetzt und wie immer Rechtschreibfehler gemacht. Mein lieber Dave. Den ›lieben‹ Dave hatte sie durchgestrichen und ihn durch den ›armen‹ Dave ersetzt. Ansonsten stand auf diesem Blatt nur ein Satzanfang. Wenn du diesen Brief lesen wirst … Sie hatte den Zettel zerrissen. Er stammte von dem Block, der in der Küche hing und auf dem sie ihre Bestellungen für den Lebensmittelhändler notierten, der jeden Morgen vorbeikam. Sicher hatte sie die Zeilen am selben Tisch geschrieben, wo sie sonst immer das Gemüse putzte. Mein lieber Dave, Ich weiß, dass ich Dir weh tun werde, aber ich kann es nicht länger aushalten, und es ist immer noch besser, es passiert jetzt und nicht erst später. Ich habe oft mit Dir reden wollen, aber … Die Worte gaben wohl ihre Gefühle nicht wirklich wieder, und so hatte sie auch dieses Blatt zerrissen. Auf dem dritten fehlte die Anrede: Wir passen einfach nicht zusammen, das ist mir schon in den ersten Tagen klargeworden. Das Ganze war ein Irrtum. Ich lasse Dir den Kleinen. Alles Gute. Sie hatte ›Alles Gute‹ durchgestrichen und stattdessen darübergeschrieben: ›Werdet beide glücklich.‹ In letzter Minute hatte sie es sich wieder anders überlegt und auch diesen Brief verworfen, der wie die anderen im Mülleimer landete. Sie hatte sich dafür entschieden, ihn ohne eine Erklärung zu verlassen. Was war da schon viel zu sagen? Worte brachten sie auch nicht weiter. Sollte er sich doch selber einen Reim darauf machen! Er hatte sich wieder in den Sessel gesetzt, sicher, dass er die ganze Nacht kein Auge zutun würde. Bens Weinen schreckte ihn dann aus dem Schlaf. Es war sechs Uhr morgens, das ganze Haus war bereits von Sonne durchflutet. Es war immer seine Aufgabe gewesen, morgens und abends dem Kind das Fläschchen zu geben. Seit einigen Wochen fütterten sie Getreide zu und inzwischen sogar Gemüsebrei. Er verstand sich auch darauf, den Säugling zu wickeln. Gleich nachdem Ruth mit dem Kind aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, hatte er darauf bestanden, es zu lernen. Das alles lag fünfzehneinhalb Jahre zurück. Ruth hatte er nie wiedergesehen, nur einmal auf indirekte Weise von ihr gehört, als drei Jahre später ein Anwalt kam und ihm Papiere vorlegte, mit denen er in die Scheidung einwilligen sollte. Er schlief nicht, starrte mit weit geöffneten Augen auf das Sofa, das er mit dem übrigen Hausrat von Waterbury nach Everton hatte transportieren lassen. Er hatte Ben ganz allein aufgezogen. Nur während seiner Arbeitsstunden gab er ihn in die Obhut einer Nachbarin, die selbst vier Kinder hatte. Jede freie Minute, alle seine Nächte verbrachte er mit seinem Sohn, ohne je abends auszugehen oder sich einen Film anzusehen. Als er sich mit dem Gedanken trug, das Haus in Waterbury aufzugeben, brach der Krieg aus, und er wurde von seinem Betrieb eingezogen, der nun für das Verteidigungsministerium tätig war. Jahre später erst kam er dazu, nach einem Ort Ausschau zu halten, an dem er sich selbständig machen konnte, sodass er nicht mehr außer Haus arbeiten musste. Mit voller Absicht, um Ben eine glückliche Kindheit zu bieten, hatte er sich für einen kleinen Ort entschieden, wo sie ein ruhiges, friedliches Leben führen konnten. Plötzlich packte ihn eine unsinnige Hoffnung. Er hatte...