Simenon | Der Präsident | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Die großen Romane

Simenon Der Präsident

Die großen Romane
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-455-00839-5
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die großen Romane

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Die großen Romane

ISBN: 978-3-455-00839-5
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vom alten Mann und der Macht Augustin ist in seiner Welt »der Präsident«, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht mehr ist. Denn mit 82 Jahren hat er in der großen Politik längst ausgedient, lebt seit Jahren zusammen mit seinem Chauffeur und zwei Hausdamen in seinem kleinen Haus in der Normandie. Von hier aus verfolgt er, wie die Regierung in Paris zerbricht - und sieht in der Staatskrise seine große Chance, wieder ganz vorne mitzumischen und die Strippen zu ziehen. Da er über den neuen ersten Mann im Staat ein vernichtendes Schriftstück besitzt, wartet Augustin - auf ein Zeichen, den alles entscheidenden Anruf, die Unterwerfung. Simenons Roman vom alten Mann und der Macht ist Simenons großer politischer Roman, ein psychologisches Meisterwerk, 1961 verfilmt mit Jean Gabin.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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Cover
Titelseite
1
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In ein Stück Holz geschnitzt
Über Georges Simenon
Impressum


1


Seit über einer Stunde saß er bewegungslos in dem alten, abgenutzten Louis-Philippe-Sessel aus schwarzem Leder mit der fast senkrechten Lehne, den er vierzig Jahre lang von einem Ministerium zum andern geschleppt hatte und der zur Legende geworden war.

Er schien zu schlafen, wie er so dasaß mit geschlossenen Augen und nur ab und zu träge ein Lid hob. Er schlief aber nicht. Vielmehr konnte er sich genau vorstellen, welchen Anblick er bot mit seinem etwas steifen Oberkörper in dem weiten schwarzen Jackett, das an einen Gehrock erinnerte, und mit dem hohen gestärkten Hemdkragen unter dem Kinn, der auf allen Fotos von ihm zu sehen war und den er von dem Augenblick an, da er morgens sein Schlafzimmer verließ, wie eine Uniform trug.

Seine Haut wurde von Jahr zu Jahr feiner und glatter. Mit ihren weißen Flecken sah sie aus wie Marmor, und sie spannte sich über seine Wangenknochen und den Schädel, sodass sich seine Züge zu läutern schienen, indem sie immer klarer wurden. In einem Dorf hatte er einmal gehört, wie ein Junge zu einem andern sagte:

»Schau mal, der Totenkopf!«

Kaum einen Meter von dem Kaminfeuer entfernt, in dem von Zeit zu Zeit ein Windstoß die Holzscheite knistern ließ, saß er regungslos mit auf dem Bauch gefalteten Händen, als ob man ihn nach der Totenwaschung an diesen Platz gesetzt hätte. Ob sie sich wohl trauen würden, ihm einen Rosenkranz um die Hände zu wickeln wie einem seiner Kollegen, der auch mehrmals Ministerpräsident und einer der höchsten Würdenträger der Loge gewesen war?

Immer häufiger und unabhängig von der Tageszeit, vor allem aber in der Abenddämmerung, wenn Mademoiselle Milleran, seine Sekretärin, lautlos und unmerklich die Lampe mit dem Pergamentschirm in seinem Arbeitszimmer anknipste und sich dann nach nebenan zurückzog, umgab er sich mit dieser Ruhe und Stille. Es war, als ob er eine Mauer um sich herum aufrichtete, oder eher noch, als ob er sich fest in eine Decke einwickelte, um ganz mit sich allein zu sein.

Nickte er dabei gelegentlich ein? Das hätte er jedenfalls nie zugegeben, überzeugt davon, dass sein Verstand wach blieb, und als Beweis für sich und seine Umgebung machte er sich einen Spaß daraus, aufzuzählen, wer hereingekommen war und wann er wieder hinausging.

An diesem Nachmittag zum Beispiel war Mademoiselle Milleran – abgesehen von einem Buchstaben war es genau der Name eines früheren Kollegen, der, wenn auch nur kurz, Präsident der Republik gewesen war –, an diesem Nachmittag also war Mademoiselle Milleran zweimal auf Zehenspitzen ins Zimmer gekommen. Das zweite Mal hatte sie sich vergewissert, dass er lebte und seine Brust sich noch im Rhythmus seines Atems hob und senkte, und anschließend ein Holzscheit in die Glut zurückgeschoben, das beinahe auf den Teppich gefallen wäre.

Für sich, als sein eigenes Reich, hatte er den unmittelbar neben dem Schlafzimmer liegenden Raum ausgesucht. Der Tisch darin war aus massivem Holz, war weder lackiert noch gewachst und sah so unbearbeitet aus wie ein Metzgertisch.

Das war sein berühmter, so oft fotografierter Schreibtisch, der, wie auch jeder kleinste Winkel in Les Ébergues, schon seit langem zu der Legende um seine Person gehörte. Alle Welt wusste, dass sein Schlafzimmer mit den weiß getünchten Wänden und dem Eisenbett aussah wie eine Mönchszelle.

Man kannte die vier niedrigen Zimmer, die früher Kuh- oder Pferdeställe gewesen waren, aus jedem Blickwinkel. Die Verbindungstüren waren herausgenommen worden, und an den Wänden standen bis hinauf zur Decke Tannenholzregale voller Bücher.

Was Milleran wohl tat, wenn er die Augen geschlossen hatte? Er hatte ihr nichts diktiert. Sie musste keinen Brief beantworten. Sie strickte nicht, nähte nicht. Nur am Morgen ging sie die Zeitungen durch und strich mit einem Rotstift die Artikel an, die ihn vielleicht interessierten.

Er war überzeugt, dass sie sich Notizen machte, so wie manche Tiere alles, was sie finden, in ihrem Bau zusammentragen; und dass sie nach seinem Tod ihre Memoiren schreiben würde. Oft hatte er, ohne Erfolg, sie dabei zu ertappen versucht oder, ebenso erfolglos, eine scherzhafte Bemerkung gemacht, um ihr etwas zu entlocken.

Man hätte schwören können, dass sie im Zimmer nebenan genauso reglos dasaß wie er und dass sie sich gegenseitig belauerten.

Ob sie an die Fünfuhrsendung dachte?

Seit dem Morgen tobte ein Sturm, drohte die Schieferplatten vom Dach und von der Westmauer abzuheben und rüttelte an den Fenstern, sodass man immer wieder meinte, es klopfe jemand. Das Fährschiff Newhaven–Dieppe hatte, wie im Radio gemeldet worden war, nach einer gefährlichen Überfahrt und nachdem es beinahe umgekehrt wäre, dreimal ansetzen müssen, um in Dieppe anzulegen.

Trotzdem hatte der Präsident gegen elf Uhr auf seinem Spaziergang bestanden, eingemummt in seinen alten Persianermantel, der so viele internationale Konferenzen zwischen London und Warschau, dem Kreml und Ottawa gesehen hatte.

»Sie wollen heute doch nicht etwa hinausgehen?«, hatte Madame Blanche, seine Pflegerin, eingewandt.

Obwohl sie wusste, dass es vergebliche Liebesmüh war, ihn von einem Vorsatz abzubringen, ließ sie sich auf eine Auseinandersetzung ein.

»Doktor Gaffé hat Ihnen gestern Abend noch einmal gesagt …«

»Geht es um das Leben des Doktors oder um meines?«

»Hören Sie, Herr Präsident … Lassen Sie mich wenigstens den Arzt anrufen und fragen …«

Er sah sie nur mit seinen hellgrauen, von der Presse gern als stählern beschriebenen Augen an. Sie hielt seinem Blick zuerst immer stand, und in diesen Momenten hätte jeder angenommen, sie hassten sich.

Vielleicht hasste er sie wirklich nach den zwölf Jahren, die er sie nun ertrug? Er hatte sich diese Frage schon gestellt, konnte sie aber nicht klar beantworten. Vielleicht war sie der einzige Mensch, dem seine Berühmtheit nicht imponierte? Oder tat sie nur so?

Früher hätte er die Frage, seines Urteilsvermögens sicher, ohne zu zögern beantwortet; aber mit zunehmendem Alter wurde er vorsichtiger.

Jedenfalls beschäftigte ihn diese weder junge noch hübsche Frau allmählich mehr als sogenannte ernsthafte Probleme. Zweimal hatte er sie in einem Wutanfall hinausgeworfen und ihr verboten, sich in Les Ébergues wieder blicken zu lassen. Er wollte im Übrigen auch nicht, dass sie über Nacht blieb, obwohl ein Zimmer frei gewesen wäre, und sie hatte sich eine Bleibe im Dorf suchen müssen.

Beide Male stand sie morgens, als es Zeit für seine Spritze war, wieder da, und er hatte in dem ausdruckslosen, harten Gesicht dieser fünfzigjährigen Frau keine Gefühlsregung entdecken können.

Er hatte sie sich nicht einmal ausgesucht. Als er zehn Jahre zuvor das letzte Mal Ministerpräsident gewesen war, geschah es, dass er eines Abends in der Abgeordnetenkammer nach einer dreistündigen Rede vor einer unerbittlichen Opposition ohnmächtig geworden war, und da hatte sie neben ihm gestanden.

Er erinnerte sich noch, wie überrascht er gewesen war, als er sich auf dem staubigen Fußboden wiederfand und diese Frau in einem weißen Mantel und mit einer Spritze in der Hand sah, die als Einzige inmitten der allgemeinen Aufregung heiter und gelassen dreinblickte.

Eine Zeitlang war sie jeden Tag zur Krankenpflege in die Rue Matignon gekommen und später, nach dem Sturz der Regierung, in seine Junggesellenwohnung am Quai Malaquais.

Les Ébergues war damals noch ein bescheidenes Bauernhaus, das er durch einen Zufall kaufen konnte, um dort ab und zu einen Kurzurlaub zu machen. Als er beschlossen hatte, sich endgültig dorthin zurückzuziehen, hatte sie, ohne eine Zustimmung seinerseits abzuwarten, erklärt:

»Ich komme mit.«

»Und wenn ich keine Krankenschwester brauche?«

»Man wird Sie nicht dorthin lassen ohne jemanden, der Sie versorgen kann.«

»Wer, ?«

»Erstens Professor Fumet …«

Er war seit über dreißig Jahren sein Arzt und Freund.

» eben …«

Er wusste, was sie meinte, und der Ausdruck hatte ihn amüsiert. So blieb er bei der Bezeichnung für die paar Dutzend Leute – waren es überhaupt so viele? –, die das Land in Wahrheit regierten.

Diese Herren, das waren nicht nur der Ministerpräsident und seine Minister, Mitglieder des Staatsrates, der Verwaltung, der Banque de France und ein paar hohe Beamte auf Lebenszeit, sondern auch die Verantwortlichen der Sûreté Générale in der Rue des Saussaies, die darüber wachten, dass dem berühmten Staatsmann nichts Unangenehmes zustieß.

Waren nicht zwei Polizeiinspektoren eigens ins benachbarte Dörfchen Bénouville geschickt worden? Sie hatten sich im Gasthaus einquartiert und bewachten ihn; ein dritter, der mit Frau und Kindern in Le Havre wohnte, kam mit dem Motorrad, um seinen Wachdienst zu versehen.

In diesem Augenblick stand bestimmt einer von ihnen trotz des Sturmes und der Wassermassen, die vom Meer und vom Himmel gleichzeitig zu kommen schienen, an einem nassen Baumstamm in der Nähe der Haustür und ließ das erleuchtete Fenster nicht aus den Augen.

Madame Blanche war nach Bénouville mitgekommen. Lange Zeit hatte er geglaubt, sie sei Witwe oder aber ledig und lasse sich mit Madame anreden, wie es viele unverheiratete, berufstätige Frauen taten, um sich mehr Respekt zu verschaffen.

Es dauerte drei Jahre, bis er dahinterkam, dass ihr Mann, ein gewisser Louis Blain, in Paris lebte und in Saint-Sulpice eine Buchhandlung besaß, die auf religiöse Literatur spezialisiert war. Sie hatte ihm nie etwas davon erzählt und fuhr...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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