E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Die großen Romane
Simenon Der Grenzgänger
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01341-2
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Die großen Romane
ISBN: 978-3-455-01341-2
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
Cover
Verlagslogo
Titelseite
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Über Georges Simenon
Impressum
Erster Teil
1
Ich habe die Grenze dreimal überschritten, das erste Mal widerrechtlich, gewissermaßen mit Hilfe eines Schmugglers, mindestens einmal auch rechtmäßig, und vermutlich bin ich einer der wenigen, die aus freien Stücken zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt sind.
Jene Menschen, die den Himalaya bestiegen, einen der Pole erkundet oder die Ozeane in kleinen Booten überquert haben, konnten ihre Erfolge in dicken Büchern ausbreiten. Sie haben allesamt gelogen oder zumindest einiges verschwiegen. Sie beschreiben etwa, welche Schwierigkeiten sie überwinden mussten, aber offenbaren sie auch die wahren Gründe, die tief liegenden Gründe für ihren Aufbruch?
Bei jedem menschlichen Unterfangen gibt es ein Vorher, ein Während und ein Nachher.
Einige haben in aller Ausführlichkeit von ihren Vorbereitungen berichtet. Doch was war davor? Wo liegt die eigentliche Wurzel? Die Wurzel der Wurzel?
Und was folgte darauf, auf den Himalaya, die Pole, den Atlantik oder den Pazifik, auf den von Apparaturen begleiteten Tauchgang zweitausend Meter unter dem Meer, den Aufstieg in die Stratosphäre?
In der angeblich unterworfenen Natur konnte all das nicht einmal den verschwindend geringen Wirbel bewirken, den ein vorbeifliegender Vogel für einen Augenblick in der Luft hinterlässt.
Die Menschen, denen diese Erfolge gelungen sind, hat man ausgezeichnet, gefeiert, von Stadt zu Stadt kutschiert. Sie haben Konferenzen abgehalten, und ich kenne einige, die bis zum Ende ihrer Tage von nichts als demselben unablässig wiederholten Bericht gelebt haben.
Ist es verständlich, was ich meine, wenn ich ihnen vorwerfe, gelogen oder, wenn es beliebt, betrogen zu haben? Das wahre Vorher und das wahre Nachher werden vertuscht, wahrscheinlich weil ihre Geschichten ansonsten nicht mehr derart beflügelnd wären.
Da meine eigene Erkundung, meine dreifache Erkundung, nie dem Zweck der Beflügelung diente, möchte ich von allem berichten: vom Vorher, vom Während, vom Nachher. Ich werde sogar, vielleicht weil ich Unvollständigkeit oder Unaufrichtigkeit fürchte, von Dingen berichten, die keinerlei Belang haben – oder nur für mich. Ebenfalls werde ich versuchen, meine Motive nicht zu verschleiern, auch wenn das am schwersten fällt.
Die Frage nach dem Warum – warum ich mich plötzlich ans Schreiben begebe; ich bin nicht sicher, ob ich sie beantworten kann. Manch einer wird behaupten, ich wollte Rache üben. Rache woran? Am Schicksal? Bevor ich anfange, möchte ich betonen, dass mir das Schicksal niemals Lasten auferlegt hat, dass ich nie das Gefühl hatte, es erleiden zu müssen, sondern ihm ganz im Gegenteil von Gleich zu Gleich gegenüberstand.
Ich muss mich daher nicht rächen, nicht einmal für meine Abstammung, für die ich dem Schicksal vielmehr danken möchte.
Allem, was ich getan habe, lag eine Entscheidung zugrunde, auch jenen Dingen, auf die ich nicht stolz sein kann.
Ich empfinde keine Bitterkeit, keinen Eifer. Will ich behaupten, dass ich für jene Millionen von Menschen schreibe, die ihrerseits gern die Grenze überschreiten würden, aber noch zögern oder zurückgewiesen wurden?
Einmal habe ich an diese Menschen gedacht, und es ist gut möglich, dass ich mich von dieser Vorstellung habe rühren lassen. Mein Bericht hätte dadurch leicht zu einer Art brüderlichen Botschaft werden können. Ich bin aufrichtig, wie Sie sehen. Es war verlockend. Es erweckte in mir dieselbe vage Zärtlichkeit, die Männer erweichen lässt, wenn sie nach einem Trinkgelage im Chor ein Lied singen.
Aber ich habe nicht getrunken. Ich werde nicht trinken, mich nicht erweichen lassen. Womöglich werden andere den Grund ermitteln, der mich zum Schreiben drängt. Mich interessiert er nicht mehr. In meinen Augen ist das so, wie wenn man eine Flaschenpost ins Meer wirft. Man schaut zu, wie sie sich entfernt, und sobald sie verschwunden ist, kehrt man zurück in seine Einöde.
Für viele Menschen zählen allein der Ausgangspunkt und sein Verhältnis zur Demarkationslinie, also die Frage danach, ob man sich mehr oder weniger diesseits oder jenseits von ihr befindet, und ich gebe zu, dass dies in manchen Fällen einen Einfluss hat. Was mich betrifft – und Gott weiß, wie sehr ich über dieser Frage gegrübelt habe! –, so bin ich mir recht sicher, dass dieser Einfluss, wenn es ihn denn gegeben hat, nicht ausschlaggebend war und dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach an genau demselben Punkt stünde, wenn ich anderswo zur Welt gekommen wäre als in einem Entbindungsheim in Cherbourg.
Ich habe mich durch meine Abstammung nie entwürdigt gefühlt, habe mit ihr sogar recht bald meinen Frieden geschlossen, denn es ist zwar zumeist möglich, von unten her die mittleren und oberen Schichten zu erkunden, hinterhältig oder gewaltsam in sie einzudringen, doch es ist wesentlich schwieriger, sich von oben herab kommend unter die kleinen Leute zu mischen, geschweige denn unter ihnen zu leben.
Ich wurde in Cherbourg geboren, und in Saint-Saturnin, einem finsteren Dorf bei Bayeux, öffneten sich meine Kinderaugen zum ersten Mal.
An dieser Stelle würde es wohl von Ehrlichkeit zeugen, wenn ich eine klare Linie zöge zwischen meinen tatsächlichen Erinnerungen und dem, was durch Erzählungen Einzug in sie gehalten hat, und wenn ich auch Kenntnisse und Überlegungen kennzeichnete, die erst später hinzukamen.
Dazu bin ich jedoch nicht fähig, und nun habe ich meinen Bericht kaum begonnen und ahne bereits, dass mir wohl oder übel eine gewisse Unordnung unterlaufen wird.
Zum Beispiel verspüre ich eine instinktive Notwendigkeit, von Saint-Saturnin zu berichten, von meinen Großeltern also, bevor ich auf Cherbourg und meine Mutter zu sprechen komme, und das erscheint mir auch sinnvoll, denn ich habe Cherbourg im Alter von wenigen Monaten verlassen, meine ersten Bilder sind die des maroden Häuschens am Rande des Dorfes.
Von draußen konnte ein Mann ohne weiteres die Dachtraufe berühren. Die niedrige Tür war doppelschlägig, einer Stalltür ähnlich, der untere Flügel blieb nahezu immer geschlossen, der obere offen, damit Luft und Licht hereindringen konnten, denn das Fenster hatte kaum die Größe einer Luke.
Soeben habe ich errechnet, dass meine Großmutter damals nicht älter war als vierundvierzig, doch in meinen Kinderaugen war sie immer schon eine alte Frau gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals anders gesehen zu haben als schwarz gekleidet, dürr und mager, den Körper vornübergebeugt, als wäre in ihr eine Feder defekt.
Sie hatte fünf Töchter und einen Sohn geboren, die allesamt bereits in die Stadt gezogen waren, abgesehen von der jüngsten Tochter Louise, die bei meiner Geburt vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war.
Von dieser Zeit sehe ich noch immer einige Bilder so deutlich wie Gravuren vor mir, doch da ich nie zurückgekehrt bin, um sie zu bestätigen, kann ich für die Richtigkeit der Details nicht garantieren.
Zum Beispiel erzählte mir später eine meiner Tanten, Louise, im Haus habe ein Küchenofen gestanden. Wenn es diesen allerdings schon in meiner frühsten Kindheit gegeben haben soll, was ich bezweifle, so wurde er nicht benutzt, denn ich sehe noch vor mir, dass sommers wie winters ein offenes Feuer unter einer hängenden Kasserolle den Raum mit Qualm füllte. Ich weiß auch noch, wie meine vornübergebeugte Großmutter dieses Feuer schürte, um darüber Heringe oder Speckschwarten zu räuchern, während meine Augen dem Widerschein der tanzenden Flammen auf den kalkweißen Wänden folgten.
Das Bett meiner Großeltern stand hinten im Raum, darauf lag eine dicke, rote Daunendecke, und es gab nur ein weiteres Zimmer im Haus, das ich mir mit Tante Louise teilte und in dem auch ihre Schwestern oder ihr Bruder schliefen, wenn sie zu Besuch kamen. Soweit ich mich erinnere, gab es nicht genügend Betten für alle. Vermutlich kam es nicht mehr vor, dass sich die gesamte Familie unter einem Dach befand?
Eine weitere Erinnerung, die deutlichste von allen: die Regentonne rechts neben der Tür, die durch ein Zinkrohr das Wasser vom Dach auffing. Nicht nur sehe ich das Bild noch immer vor mir, das stets feuchte Holz, die Wasserläufer und Kaulquappen an der Oberfläche, auch kann ich das eintönige Geräusch des Wassers an regnerischen Tagen und Nächten noch hören.
Wir schöpften das Wasser aus der Tonne, um alles Mögliche zu säubern, das Geschirr, die Wäsche, uns selbst, und neben ihr, an einem rostigen Nagel, hing eine blaue Emaillekaraffe, die wir hineintauchten, wenn wir Durst hatten.
Die Pumpe neben dem Verschlag für Hühner und Kaninchen funktionierte dann und wann bestimmt auch, ich erinnere mich an ihr Knarzen, doch ich bin mir sicher, dass sie die meiste Zeit über trockenlag.
Mein Großvater hieß Nau, Barnabé Nau, und er stammte aus einem anderen Dorf, weit genug weg, sodass seine Familie niemals zur Sprache kam, während in Saint-Saturnin und den umliegenden Orten damals, und zweifellos auch heute noch, einige Prêteux lebten, wie der Name meiner Großmutter lautete. Dass dieser auch schwarz auf weiß über einem Laden in Bayeux zu lesen war, erfüllte sie mit nicht geringem Stolz, wenngleich sie nie sicher war, ob diese Prêteux zu ihrer Familie gehörten.
Eigentlich hätte Tante Louise mit vierzehn Jahren als Kinderfräulein oder als Lehrmädchen in die Stadt ziehen sollen, darüber wurde viel diskutiert; ich glaube aber, dass sie nur zu Hause blieb, um für mich zu sorgen, denn meine Mutter schickte monatlich einen gewissen Betrag für meinen Unterhalt.
Ich werde mir Mühe geben, all das auf den Punkt...