Simenon | Der Glaskäfig | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Simenon Der Glaskäfig


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01478-5
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-455-01478-5
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Émile und die Frauen Émile und Jeanne Virieu führen ein zurückgezogenes Leben mit sorgfältig gepflegten Ritualen. Als Korrektor in einer Druckerei arbeitet Émile Tag für Tag in einem Glaskäfig und korrigiert Druckfahnen. Hier fühlt er sich sicher, als Beobachter, der auf das Leben der anderen blickt. Doch dann wird Émiles Ruhe gestört: Sein Schwager hat eine Geliebte und will die Scheidung, Émiles Schwester sucht seinen Rat, und dann ziehen auch noch neue Nachbarn ein. Die Frau nebenan fasziniert den gebeutelten Émile - und sie lockt ihn aus seinem Glaskäfig heraus. Ein packender später Roman des Meisters psychologischer Dramen. 

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1


Das abgehackte Geklapper der Schreibmaschine weckte ihn auf, und er erblickte wie gewöhnlich das fahle aufgeschlagene Bett seiner Frau auf der anderen Seite des Nachttischs.

Wer hatte das mit den Einzelbetten beschlossen? Heute, nach achtzehn Jahren, hätte er es nicht mehr mit Sicherheit sagen können. Die Ereignisse von damals waren im Übrigen verschwommen, und er wollte sie aus Gründen, die er nicht zu analysieren versuchte, lieber aus seiner Erinnerung verbannen. Wahrscheinlich war sie es gewesen. Und er hatte nicht protestiert. Er protestierte nie. Und so war es schließlich nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass sie eine Nacht gemeinsam in einem Bett verbracht hatten.

Er wäre auch ohne die Schreibmaschine aufgewacht, weil das seine Zeit war, sieben Uhr früh. Man hätte meinen können, dass die Geräusche von der Straße her jeden Tag von neuem um diese Zeit einsetzten. Das stimmte natürlich nicht. Das Leben draußen war früher angelaufen, unmerklich, aber um diese Zeit brach es eben abrupt in seinen Schlaf ein.

Er blieb eine Zeit lang benommen liegen, stand dann wie im Schlaf auf und ging mit verschwommenem Blick zum Badezimmer hinüber. Er stellte sich unter die Dusche, weil es ihm zuwider war, sich in der Wanne im warmen Wasser auszustrecken, wo er sich wie ein Gefangener vorkam.

Es war die Zeit der frühmorgendlichen Gedankenfetzen, die sich nicht unbedingt logisch aneinanderreihten. Er war unzufrieden mit sich, als er sich beim Rasieren aus der Nähe ansah. Er hatte kein gut geschnittenes Gesicht. Die Gesichtszüge waren weich, der Nasenrücken hob sich nicht klar ab. Die großen Augen mit den hervorquellenden Augäpfeln waren dunkel und ausdruckslos. Fast immer schauten ihm die Leute auf die Augen, und er hatte den Verdacht, dass sie dabei eine Art Unbehagen empfanden.

Bei der Wahl seiner Kleidung achtete er weder auf eine persönliche Note noch auf Eleganz. Er war stets dunkel gekleidet, wie um dadurch so wenig wie möglich aufzufallen. Und dennoch gab es auf der Straße Leute, die sich nach ihm umdrehten. Er wusste nicht, warum. Er stellte sich diese Frage seit seiner Kindheit. Er hatte das Gefühl, nicht so zu sein wie die anderen, und es kam vor, dass er sich an den Hauswänden entlangdrückte.

Jetzt machte er endlich die Tür zum Wohnzimmer auf. Seine Frau saß an der Schreibmaschine, und er gab ihr mit spitzen Lippen einen Kuss auf die Stirn.

»Bonjour, Jeanne.«

»Bonjour, Émile.«

Früher mal mussten sie sich ja wohl auf den Mund geküsst haben, aber das hatte nicht lange angehalten und in ihrem Verhältnis jedenfalls keinerlei Spur hinterlassen.

Seine Frau war nicht im Negligé, obwohl es noch so früh war. Er hatte sie so gut wie nie im Negligé gesehen, oder etwa mit Lockenwicklern im Haar. Sie war immer vor ihm aufgestanden. Sie stand geräuschlos auf, schloss sich im Badezimmer ein und ging danach zum Kaffeekochen in die Küche. Sie aß zwei oder drei Croissants, die zusammen mit einer frischen Stange Brot täglich vor der Wohnungstür bereitlagen.

All dies lief mit der Genauigkeit eines Uhrwerks ab, und er war so gewöhnt daran, dass er nichts Ungewöhnliches in ihrem Verhalten bemerkte.

Sie war es, die ihm frühmorgens manchmal einen kurzen Blick zuwarf, wie um sich von seiner jeweiligen Verfassung zu überzeugen.

»Ich schreib nur eben den Satz fertig, dann koch ich dir deine Eier …«

Weiche Eier, wie in seiner Kindheit … Er war in Étampes geboren, wo sein Vater eine Bäckerei und Konditorei hatte. Seine Mutter hatte morgens vom Laden aus das angrenzende Zimmer und den Hof überquert, hinter dem die Küche lag. Auch seiner Mutter hatte er einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Sein Vater, der die ganze Nacht am Backofen gestanden hatte, lag dann schon oben im Bett und schlief. Émiles Frühstück hatte auf dem mit Wachstuch gedeckten Tisch bereitgestanden. Damals hatte er noch Milch in den Kaffee getan. Seine Mutter hatte graues Haar gehabt; sie war sehr früh grau geworden, wodurch ihr frischer Teint besonders hervorgehoben wurde. Später allerdings waren ihre Wangen von violetten Äderchen durchzogen.

Sie lebte noch. Sie waren alle beide noch am Leben und führten nach wie vor ihr Geschäft.

Jetzt, wo er dreiundvierzig war, fand er es etwas genierlich, zum Frühstück zwei weiche Eier zu essen. Es kam ihm kindlich vor. Seine Frau behielt den auf dem Kamin abgestellten Wecker im Auge, und er trank langsam die ersten Schlückchen Kaffee.

Sie sprachen nicht miteinander. Sie hatten sich nichts zu sagen. Jeanne trug einen schwarzen Rock, dazu eine eng anliegende weiße Bluse mit einer am Kragen befestigten Kamee, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Das Mobiliar stammte von ihr, außer den beiden Einzelbetten, die sie zusammen gekauft hatten. Sie war vorher sechs Monate lang verheiratet gewesen und hatte die Wohnung gemeinsam mit ihrem ersten Mann eingerichtet. Er war innerhalb weniger Tage von einer Lungenentzündung dahingerafft worden. Er hatte als Buchhalter in einem Textilgroßhandel in der Rue du Sentier gearbeitet.

Im Wohnzimmer hing ein Porträtfoto von ihm. Er hatte einen blonden Schnurrbart, und die Haare bildeten ein kleines Büschel über dem Kopf. Sie hatte ihm angeboten, das Foto abzuhängen, aber er hatte Nein gesagt. Es störte ihn nicht. Es kam sogar vor, dass er es voller Sympathie betrachtete.

Er strich sich Butter aufs Brot, tunkte es in das Eigelb und verzehrte es langsam. So hatte er es auch schon in seiner Kindheit gemacht. Damals war seine Mutter fast immer von der Ladenklingel nach unten gerufen worden, und er hatte allein weitergegessen. Er war daran gewöhnt.

Im lycée spielte er nicht mit den anderen im Hof. Und er redete auch nicht mit seinen Mitschülern. Die Lehrer nahmen ihn selten dran, weil er unweigerlich die richtigen Antworten gab. Er wusste alles. Was hätte er auch anderes tun sollen, als zu lernen, wenn er nach Hause kam? Er ließ sich an einer Ecke des Küchentischs nieder. Hier war zwar der Mittelpunkt des Hauses, die Eltern tauchten dennoch nur kurz und sporadisch auf.

»Geh doch ein wenig spazieren, Émile. Du gehst ja nie an die Luft. Wie blass du bist …«

Er war eben so veranlagt, auch jetzt noch. Er hatte keine Lust, in den Straßen herumzulaufen, sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen. Und er hatte ebenso wenig Lust gehabt, spielen zu gehen. Die beiden Schlafzimmer, das seiner Eltern und sein eigenes, lagen über dem Laden. Sie waren niedrig, recht geräumig und stets dunkel, weil die Fenster nicht groß genug waren. Diese Zimmer waren nicht zu heizen; so fand er nur im Sommer in seinem Zimmer Zuflucht, wo er sich mit einem Buch flach auf den Boden legte.

War daran etwas absonderlich? Wenn nein, warum sahen die anderen ihn dann immer irgendwie erstaunt an? Sogar seine Eltern, die offenbar um ihn besorgt waren. War es etwa seine Schuld, wenn er nicht wusste, worüber er mit ihnen reden sollte? Hier ging jeder seiner Arbeit nach. Sein Vater ging abends zu Victor, dem Lehrling, in die Backstube hinunter, und um die gleiche Zeit legte sich seine Mutter oben schlafen, nachdem sie im Geschäft die Läden zugemacht hatte. Morgens machte sie ihrem Mann das Frühstück fertig, und gleich danach ging er seinerseits nach oben und legte sich hin.

Es lief sehr gut so. Émile hatte sich nicht beklagt. Und auch jetzt beklagte er sich nicht.

»Hast du was dagegen, wenn ich weiterarbeite? Sie schicken um elf jemanden vorbei zum Abholen, und ich muss noch zwei Seiten übersetzen …«

Sie war nicht schön, ebenso wenig wie Émile. Man hätte sie sogar hässlich nennen können. Sie hatte sehr dunkles Haar, einen gedrungenen, massigen Leib, und sie hielt sich recht steif. Das Gesicht konnte man nur als missglückt bezeichnen.

Er hatte das schon immer gewusst. Er hatte sich nie Illusionen gemacht. Vielleicht hatte er sich gerade wegen ihres wenig anziehenden Äußeren für sie interessiert.

Sie war drei Jahre älter als er, sogar etwas mehr. Er musste nachrechnen, wenn er an den Anfang zurückdachte, so weit weg erschien ihm das, im Nebel versunken. Er war fünfundzwanzig gewesen, beziehungsweise zwei oder drei Monate darüber, als er sie kennengelernt hatte, und sie war damals neunundzwanzig gewesen.

Wie hatte sich das ergeben zwischen ihnen? Es hatte Monate gedauert, bis es so weit war. Sie hatten beide in einer Druckerei gearbeitet, den Imprimeries Jodet et Fils, in der Rue du Saint-Gothard, der Bahnlinie gegenüber. Émile Virieu war Korrektor und saß in seinem Glaskäfig im Erdgeschoss, wo auch die Druckmaschinen standen.

Jeanne hingegen saß im ersten Stock, zu dem eine Wendeltreppe hinaufführte, im Büro von Monsieur Jodet an der Schreibmaschine.

Virieu musste immer wieder zum Chef hinauf. Er hatte wochenlang von der jungen Frau kaum Notiz genommen, und dann hatte er sich so ganz allmählich an ihre Anwesenheit gewöhnt.

Er musste ja ohnehin einmal eine Entscheidung treffen, früher oder später. Er konnte nicht sein ganzes Leben lang allein bleiben. Er hatte ein Zimmer im Hôtel des Carmes in der Nähe der Place de la République, weil er früher auf dem Boulevard Saint-Martin gearbeitet hatte. Die Mahlzeiten nahm er damals in einem kleinen und altmodischen Lokal in der Rue du Faubourg-Saint-Jacques ein, wo seine Serviette in einem für ihn bestimmten Fach lag.

Er ging einmal in der Woche ins Kino. An den übrigen Abenden las er. Er hatte seit seiner Kindheit so viel gelesen, dass sein Kopf mit Wissen vollgestopft war wie ein Lexikon.

Eines Abends, als sie zur gleichen Zeit wie er den Betrieb verließ, hatte er sich ein Herz gefasst und sie angesprochen. »Würden Sie mit mir ins Kino gehen?«

Sie hatte ihn überrascht...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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