Simenon | Das Testament Donadieu | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

Reihe: Die großen Romane

Simenon Das Testament Donadieu

Die großen Romane
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-455-00634-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die großen Romane

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

Reihe: Die großen Romane

ISBN: 978-3-455-00634-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Oscar Donadieu, erfolgreicher Reeder und Oberhaupt einer einflussreichen Großfamilie aus La Rochelle, als vermisst gemeldet wird, ist die Aufregung in der Hafenstadt groß. Wenig später wird der Zweiundsiebzigjährige tot aus einem Kanal geborgen. Unwahrscheinlich, dass es sich um einen Unfall oder um Selbstmord handelt. Er muss ermordet worden sein. Doch von wem? Und dann ist da noch das Testament, das für einen handfesten Skandal sorgt - und das auf einmal alles bröckeln lässt, was sich die stolze Dynastie über Generationen erarbeitet hat ...

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Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
Für Professor Lucien Pautrier
Ich dachte, es sei [...]
Erster Teil Die Sonntage von La Rochelle
Zweiter Teil Die Sonntage von Saint-Raphaël
Dritter Teil Die Sonntage von Paris
Nachwort – Vom Bannen der Dämonen
Über Georges Simenon
Impressum


Erster Teil Die Sonntage von La Rochelle
1
Die Platzanweiserin durchquerte den Vorraum, öffnete die Glastüren sperrangelweit, streckte die Hand vor, um sich zu vergewissern, dass es nicht mehr regnete, und ging wieder hinein, wobei sie ihre schwarze Strickweste über der Brust zuknöpfte. Wie auf ein Signal verließ nun auch die Frau, die Karamellbonbons, Erdnüsse und Nougatstangen verkaufte, den überdachten Türeingang und ging zu ihrem Stand hinüber, den sie am Rande des Bürgersteigs aufgebaut hatte. Drüben an der Ecke der Rue du Palais, der Polizist … Alles hier war Ritual, griff ineinander, nach verlässlichen Gesetzen. Denn man war in La Rochelle, und das gelbe Band mit der Aufschrift Neues Programm auf den Kinoplakaten genügte, um zu wissen, dass Mittwoch war, während anderswo der Wechsel freitags oder samstags oder montags stattfand. Über dem Karren der Süßwarenverkäuferin war ein Regenschirm aufgespannt, und die Zuschauer, die endlich aus dem Kino kamen, streckten, wie vorher die Platzanweiserin, die Hand vor. Fünfzig, hundert Personen vielleicht sagten, als sie auf den Bürgersteig traten, der eine zu seiner Frau, die andere zu ihrem Mann: »Sieh an! Es regnet nicht mehr …« Aber es war kühl. Es hatte sozusagen keinen Sommer gegeben. Das Casino du Mail hatte vierzehn Tage früher als üblich geschlossen, und schon jetzt, Ende September, hätte man glauben können, man sei mitten im Winter. Und der Himmel war in dieser Nacht zu hell, mit blassen Sternen, unter denen tiefhängende Wolken schnell hinwegzogen. Zehn Autos, fünfzehn Autos? Anlasser wurden betätigt. Scheinwerfer leuchteten auf, und die Wagen fuhren langsam in dieselbe Richtung, ohne zu hupen, wegen des Polizisten, und gaben erst Vollgas, als sie die Menschenmenge hinter sich gelassen hatten. Es war ein Mittwoch wie jeder andere. Zwei weitere Dinge wiesen darauf hin, dass man nur in La Rochelle sein konnte. An der Straßenecke schauten die Leute gewohnheitsmäßig zum Uhrturm hinauf: es war fünf Minuten vor Mitternacht. Im Alhambra endete die Vorstellung nie vor elf Uhr wie in anderen Kinos, wegen der Varieténummer, die fest zum Programm gehörte. Das Zweite war der Lärm, den man schon gar nicht mehr hörte, weil man daran gewöhnt war: ein dumpfes Platschen hinter den Häusern, und dazu, schrill, das Quietschen der Flaschenzüge auf den Fischerbooten. Ohne nachzusehen, wusste jeder, dass das Wasser im Hafenbecken, durch die Flut angestiegen, die Quais erreichte und die Schiffe nun direkt aus dem Pflaster herauszuwachsen schienen. Unterdessen betrat der Kinobesitzer wie gewohnt den Glaskasten der Kasse, wo eine alte Frau, den Hut bereits auf dem Kopf, ihm den gelben Umschlag mit den Einnahmen und den auf die Rückseite mit Bleistift gekritzelten Zahlenreihen übergab. Sie wechselten ein paar Worte, die von draußen nicht zu verstehen waren. Der Barmann ging als einer der Letzten. Der Kinobesitzer brauchte nur noch die Türen zu schließen und zum Schlafen in die Kammer hinaufzugehen, die er sich neben der Vorführkabine eingerichtet hatte. Der Kinosaal war kalt und leer, nur eine einzige Nachtlampe ließ noch seine Ausmaße erahnen. »Gute Nacht, Madame Michat.« »Gute Nacht, Monsieur Dargens.« Und schon eilte die Kassiererin davon, wobei sie sich wie jede Nacht an jeder Straßenecke ängstlich umdrehte. An der Ecke zur Rue du Palais stieß sie beinahe mit einem jungen Mann zusammen, der eine Zigarette rauchte und am Rand des Bürgersteigs wartete. »Oh! Entschuldigen Sie, Monsieur Philippe … Ich habe Sie erst nicht erkannt …« »War viel los?«, fragte der junge Mann. »Sechshundertfünfzig Franc.« Es war Philippe Dargens, der Sohn des Kinobesitzers. Er warf seine Zigarette fort, zündete sich eine neue an und schaute gelangweilt zum Uhrturm hoch. Dann erst bog er langsam in ein Gässchen ein, das in vielen Schleifen zum Stadtpark führte. Jedermann ging jetzt nach Hause, man hörte Schritte, die plötzlich innehielten, Türen, die auf- und wieder zugingen, Stimmen – die Leute waren sich offenbar nicht bewusst, dass sie nachts in menschenleeren Straßen weithin zu hören waren. Salzig feuchte Luft, die auf der Haut klebte, zog vom Hafen herüber. Philippe schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und beleuchtete seine Armbanduhr mit der Zigarette. Ein letztes Auto – zwei Scheinwerfer in der Ferne – verließ den Park, wo es noch von den Blättern der Bäume tropfte. Der junge Mann bog nach rechts ab und ging an den Mauern der Gärten entlang. Diese Gärten gehörten zu den Häusern der Rue Réaumur, deren Fronten nach der anderen Seite zeigten, stattliche Häuser, die meisten von ihnen Villen. Ein kleines Gartentor öffnete sich, eine Gestalt erschien, oder besser, ließ sich erahnen, und der junge Mann schlüpfte in das Dunkel, nachdem er zuvor seine Zigarette weggeworfen und ausgetreten hatte. »Warum sind Sie gestern nicht gekommen?«, stammelte eine Stimme. Er zuckte nur die Achseln, was seine Gesprächspartnerin nicht sehen konnte. Um sich verständlich zu machen, kniff er sie in den Arm. Die Platanen und Kastanienbäume hoben sich dunkel gegen den Nachthimmel ab. Auf den Gartenwegen lag schon welkes Laub. Das Haus im Hintergrund war nur ein Tintenfleck, allein das Schieferdach war von Mondlicht schwach erhellt. »Bleiben Sie, nur eine Minute …«, flehte die Stimme. »Pst … Nachher …« »Hören Sie, Philippe …« »Pst!« »Schwören Sie mir …« Es war ein denkbar unangenehmer Augenblick: Zwanzig Meter Garten waren zurückzulegen, bevor man zu einem weiteren niedrigen Tor gelangte, das in den Nachbargarten führte. Kaum eine Minute! Aber eine Minute, in der sich die schmächtige Gestalt Charlottes an ihn klammerte, flehend und drohend zugleich, eine gefährliche, peinliche, ja unheilvolle Minute. »Nachher …« »Am Montag haben Sie dasselbe gesagt, und doch sind Sie weggegangen, ohne …« Er packte sie an beiden Schultern, schwächlichen Schultern, die in rauen Wollkleidern steckten, und gab ihr einen Kuss irgendwohin, in einen Augenwinkel, was ihn einige Überwindung kostete. »Pst! … Ich werde bestimmt kommen, ich schwöre es, meine kleine Charlotte …« Sie zog die Nase hoch. Er wusste genau, dass sie, bis er wiederkam, eine Stunde, zwei Stunden lang weinend und fröstelnd hinter dem Gartentor auf ihn warten würde. Ihre Sache! Sobald er allein in dem andern Garten war, dachte er schon nicht mehr daran, und sein Gang wurde geschmeidiger und energischer. Ihr Problem! Anders ließ es sich nicht ausdrücken. Er hatte nicht anders handeln können und mochte lieber nicht an nachher denken und auch nicht an Charlottes klamme Umarmung vorhin und an ihre atemlosen Fragen. Er streifte Eisenstühle, einen Gartentisch, ging über eine Rasenrabatte, um den knirschenden Kies zu meiden, und sah schon, wie ein Widerschein sich auf der Scheibe bewegte, als er noch etwa vier Meter entfernt war. Kein Licht im Haus. Das Fenster öffnete sich langsam, wie von selbst, so wie vorher das Tor zum Garten. Ohne sich um die weiße Gestalt zu kümmern, die er im Zimmer erahnte, bog Philippe einen Rosenzweig zurück, den er kannte, wie man den Lichtschalter in seinem Zimmer kennt, setzte den Fuß auf eine steinerne Fensterbank, dann ein Knie auf den Fensterrahmen und war drinnen.   Das halb offene Fenster ließ einen frischen Luftzug herein, die Vorhänge flatterten, und ein Bett, in dem jemand gelegen hatte, kühlte aus, während Philippe sich besorgt fragte, warum die Lippen auf den seinen weniger nachgiebig waren als sonst. Er wunderte sich auch, dass Martine unter ihrem Nachthemd ihre Unterwäsche anbehalten hatte und dass ihr Körper sich seiner Umarmung widersetzte. »Was hast du?«, hauchte er, so leise, dass man ihn sehr gut kennen musste, um ihn zu verstehen. Trotz der Dunkelheit konnte er ihr sehr blasses Gesicht erkennen und ihre fiebrigen Augen, und er spürte – er wusste es einfach! –, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Er hatte Martine zum Bett hinüberziehen wollen, aber sie schob ihn energisch zum Fenster zurück, wo sie seine Gesichtszüge besser sehen konnte. »Schau mich an«, sagte sie und umklammerte seine Handgelenke, damit er sie nicht umarmen konnte. »Was hast du, Martine?« Und gerade weil sie ihn darum gebeten hatte, wagte er nicht, sie anzuschauen, so als hätte er etwas vor ihr zu verbergen. »Schau mich an, Philippe …« In Martines Haltung lag etwas Dramatisches, sie hatte Angst. Ein Knacken, ein etwas lauter gesprochenes Wort, und schon würde das Haus wach werden. Wer? Martines fünfzehnjähriger dickköpfiger, ewig argwöhnischer Bruder, der im Nebenzimmer lag? Oder ihre Mutter, die zwei Zimmer weiter schlief? Das Haus war von oben bis unten mit Donadieus bevölkert, mit alten und jungen, mit Brüdern, Söhnen, Schwiegertöchtern, und er stand mit der jüngsten Tochter, der gerade mal siebzehnjährigen Martine, am Fenster. Es war nicht das erste Mal, aber plötzlich wurde ihm angst und bange vor diesen starren Augen, in denen keine Zärtlichkeit lag. »Schau mich an!« Und wieder entwand sie sich ihm, die doch sonst so anschmiegsam war … »Sei ehrlich, Philippe …« Anders als sonst war sie es, die die Stimme erhob, auf die Gefahr hin, eine Katastrophe auszulösen, und er wusste...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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