Simenon | Chez Krull | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Simenon Chez Krull


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-311-70008-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-311-70008-1
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Chez Krull heißt die kleine, von deutschen Einwanderern geführte Kneipe am äußersten Rand einer kleinen Ortschaftin Nordfrankreich, die vor allem Kanalschiffer anzieht. Trotz ihrer Bemühungen, sich zu integrieren, bleiben die Krulls die Fremden. Als Vetter Hans anreist, spitzt sich die Lage zu. Hans ist unangepasst, unbekümmert, unverfroren. Er zieht den Hass der Gemeinschaft auf sich, und die Krulls geraten immer weiter ins Abseits. Als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, fällt der Verdacht sogleich auf die deutsche Familie. Vor ihrem Haus beginnt sich der Mob zusammenzurotten ...In diesem noch vor den Novemberpogromen des Jahres 1938 verfassten, nahezu prophetischen Roman erzählt Simenon von den Auswüchsen grassierender Fremdenfeindlichkeit am Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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1


Vom Haus Krull, von der Familie Krull entdeckte Hans – auch er ein Krull, aber ein reiner, ein Krull aus Deutschland – als Erstes, noch bevor er aus dem Taxi gestiegen war, eine Reklame aus Transparentpapier, die an der Glastür des Ladens klebte.

Seltsam, obschon so viele Details lockten, hatte er nur Augen für diese Reklame, auf der er in Spiegelschrift zwei Wörter entzifferte: .

Der Hintergrund war blau, ein schönes Ultramarin, die Mitte des Bildes nahm ein friedlicher weißer Löwe ein.

Alles andere existierte zu diesem Zeitpunkt nur in Hinblick auf den Löwen, dessen Mähne makellos weiß wie frische Wäsche war: eine weitere Reklame, ebenfalls durchsichtig, mit den Wörtern ; aber ohne ersichtlichen Grund spielte sie nur eine Nebenrolle; ein gelb aufgemaltes Wort, die eine Hälfte der Buchstaben auf der linken Scheibe der Tür, die andere auf der rechten: ; ein Schaufenster vollgestopft mit Tauen, Schiffslaternen, Peitschen und Teilen eines Pferdegeschirrs; schließlich hier draußen in der Sonne ein Kanal, Bäume, Lastkähne, die reglos im Wasser lagen; und eine gelbe Straßenbahn, die bimmelnd den Quai entlangfuhr.

»Amidon Remy«, buchstabierte Hans beim Aussteigen.

Diese Wörter erhielten dadurch erst recht die Bedeutung eines Totems, dass Hans kaum Französisch konnte und nicht verstand, dass es sich um eine Wäschestärkemarke handelte.

Während er den Kopf hob und das Wechselgeld einsteckte, dachte er:

Schauen wir mal, wie die französischen Krulls so sind!

Über dem Geschäft stand ein Fenster offen. Man sah den Oberkörper eines jungen Mannes, der in Hemdsärmeln an einem Tisch voller Hefte saß. Aus einem anderen Teil des Hauses ertönten üppige Klavierakkorde.

Jetzt entdeckte Hans im fern wirkenden Halbdunkel des Ladens, hinter der Auslage mit den Schiffsartikeln, den Kopf einer Frau, graues Haar, die Stirn, ihre Augen. Im selben Moment erhob sich oben im Fensterrahmen der hemdsärmelige junge Mann und blickte neugierig hinab auf das Taxi; ein weiteres Fenster öffnete sich rechts daneben: das spitze Gesicht eines jungen Mädchens.

Er musste nur drei Meter Gehsteig überqueren und dann die Glastür öffnen. In der linken Hand trug Hans einen Koffer aus gelbem Leder oder vielmehr sehr gut gemachtem Kunstleder, wie es in Deutschland hergestellt wurde. Da er groß war, machte er auch große Schritte. Einen Schritt. Zwei Schritte. Er streckte die Hand aus, um den Knauf zu drehen. Da öffnete sich die Tür von selbst, und eine sonderbare Stimme, eine Frauenstimme, aber eine krächzende, in der sich Tiefen und Spitzen kakophonisch mischten, kreischte, alle anderen Geräusche übertönend:

»Genau, pervers sind Sie, dass Sie’s nur wissen! Alle in diesem Haus sind pervers! Nicht nur Diebe, miese, kleine Diebe, sondern pervers …«

Hans, den Koffer in der Hand, musste ausharren, während sich auf der Schwelle zwei Frauen schubsten: Die eine schüttelte die andere, versuchte, sie hinauszudrängen, während die Megäre verbissen ihren Monolog zu Ende bringen wollte.

Ein Wort fiel Hans dabei auf, das Wort »pervers«, dessen Bedeutung er zu kennen glaubte, das ihm aber zu einer Familie wie den Krulls schlecht zu passen schien. Dann noch ein Wort, das die grauhaarige Händlerin, zweifellos seine Tante, aussprach:

»Es reicht, Pipi, machen Sie keinen Krach!«

Und »Pipi« setzte sich gleich neben Amidon Remy in seinem Kopf fest.

All das hatte stattgefunden, während er aus dem Auto gestiegen, den Fahrer bezahlt und die paar Schritte zur Tür gemacht hatte. Und schon war der junge Mann vom ersten Stock im Laden, packte die Betrunkene am Arm und versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie einige Meter weit torkelte.

»Hans Krull?«, fragte er, als er den Koffer des Reisenden ergriff.

»Der bin ich, ja«, antwortete Hans auf Deutsch.

Trotz allem musste man sich erst an ihn gewöhnen: Die Tante musterte ihn von oben bis unten, von unten bis oben, doch spürte man, dass der Koffer mit den blitzenden Nickelverschlüssen ihr am stärksten ins Auge stach.

»Kommen Sie rein, Cousin«, sagte der junge Mann und warf der Pipi genannten Frau einen letzten drohenden Blick zu.

Nun der Geruch. Allerdings nicht sofort. Zunächst die Ladenglocke. Wenn die Tür geöffnet und geschlossen wurde, ertönte eine Glocke, wie Hans noch nie eine gehört zu haben glaubte.

Dann im Laden der Geruch, eine Mischung aus Holzteer, der zum Kalfatern von Kähnen verwendet wurde, Tauen und Gewürzen, wobei der Geruch von Schnaps dominierte, der an einer Ecke der mit Zinkblech verkleideten Theke ausgeschenkt wurde.

»Kommen Sie ins Wohnzimmer, Cousin. Wer hätte gedacht, dass Sie einen Wagen nehmen? … Anna! Elisabeth! Cousin Hans ist da!«

Hinter dem Laden lag die Küche, die Hans wie das Zentrum des Hauses vorkam, man drängte ihn aber nach rechts durch einen kühlen blau gekachelten Flur in ein Zimmer, wo sich ein junges Mädchen hastig vom Klavierhocker erhob.

»Guten Tag, Cousin.«

»Guten Tag, Cousine.«

»Das ist Elisabeth. Vater nennt sie Lisbeth. Das ist Anna. Ich bin Joseph …«

»Sprechen Sie gar kein Französisch?«, fragte Elisabeth, während ihre Mutter, die Hände vor dem Bauch gefaltet, im Türrahmen verharrte.

»Sehr wenig … sehr schlecht … Sie werden es mir beibringen.«

Alle Einführungen sind unangenehm, dennoch behielt Hans seine gute Laune, eine gute Laune besonderer Art, wie man sie in diesem Haus nicht kannte. Es war eine Leichtigkeit, in körperlicher wie moralischer Hinsicht. Sein Auftreten war ungezwungen, seine Bewegungen waren elegant wie die eines Tänzers, während seine kleinen Augen vor Lebenslust und vielleicht auch vor Boshaftigkeit sprühten.

»Soll ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen, Cousin?«, leierte Joseph, der etwa fünfundzwanzig war, also in Hans’ Alter, neben ihm aber hölzern wirkte.

Die Treppenstufen waren frisch gebohnert und knarrten. Im ganzen Haus roch es wie im Laden, wenn auch weniger stark, und in den oberen Stockwerken außerdem nach Schlafzimmer. Durch das Fenster auf dem Treppenabsatz sah man einen Hof, in dem ein einziger Baum stand.

»Hier entlang, Cousin. Das Zimmer ist ganz oben, dafür geht das Fenster auf den Kanal. Möchten Sie sich vielleicht frisch machen?«

Hans betrachtete seine Hände, die völlig sauber waren. Er lächelte und hätte beinah erklärt, wieso. Sollte er es Joseph sagen?

Nicht gleich!, entschied er. Später würde er ihm vielleicht einmal erzählen, dass er im Zug aus Köln eine schöne Frau kennengelernt, ihr geholfen hatte, ein paar Dinge am Zoll vorbeizuschmuggeln, und sie dann, als sie beide ausgestiegen waren, ins Hôtel du Chemin de Fer mitgenommen hatte.

Abenteuer dieser Art hatte er dauernd, fast ohne sein Zutun. Sie hatte sich nicht einmal ganz ausgezogen.

»Meine Schwägerin erwartet mich um vier, und mein Mann kommt um sechs nach Hause«, hatte sie gesagt.

Deswegen hatte er sich schon frisch gemacht, bevor er bei den Krulls ankam. Er hatte die Frau nicht nach ihrem Namen gefragt. Sie war in eine gelbe Straßenbahn gestiegen.

»Sie haben schon fast die ganze Familie gesehen«, erklärte Joseph gewissenhaft, während sein Cousin den Koffer öffnete und ein paar kleine Gegenstände herausholte. »Mama kümmert sich um den Laden …«

»Wieso hat sie die andere Frau Pipi genannt? Ist das ein richtiger Name?«

»Ein Spitzname! Diese Frau ist für meine Mutter der reinste Albtraum. Sie lebt mit ihrer Tochter und einem Penner auf einem aufgegebenen Lastkahn, von dem nur ein Teil aus dem Kanal ragt. Sie macht Besorgungen für die Schiffer, vor allem für die durchreisenden, die nur ein paar Minuten in der Schleuse haltmachen. Von morgens bis abends ist sie betrunken, und wenn sie mal muss, hockt sie sich einfach hin, am Ufer, auf dem Gehsteig, ganz gleich, wo sie gerade ist …«

»Verstehe.«

»Meine Schwester Anna, die ältere …«

»Wie alt ist sie?«

»Dreißig. Sie macht den Haushalt. Als Sie gekommen sind, hat sie gerade in der Küche gebügelt … Elisabeth ist siebzehn. Sie nimmt Klavierstunden. Sie möchte Klavierlehrerin werden …«

»Und Sie?«

»Ich mache meinen Doktor in Medizin. In zwei Wochen muss ich meine Arbeit über den bilateralen Pneumothorax verteidigen …«

»Und der Vater?«

»Der sitzt von morgens bis abends in der Werkstatt, zusammen mit dem Gehilfen. Sollen wir ihn besuchen?«

Die Werkstatt war im Erdgeschoss, am Ende des Flurs, und ging hinaus auf den Hof. Zwei Männer hockten auf so niedrigen Stühlen, dass sie direkt auf dem Boden zu sitzen schienen, und flochten Körbe aus Weidenruten.

Der eine, der mit seinem schönen weißen Bart einer Statue des heiligen Joseph glich, war Vater Krull, Cornélius Krull. Nachdem er als Korbflechter durch Deutschland gezogen war und dann durch Frankreich, hatte er sich in dieser Stadt niedergelassen, ohne besonderen Grund, so wie man sich eben niederlässt, wenn man das Ende seiner Reise erreicht hat.

Statt Hans die Stirn zu küssen, zeichnete er mit dem Daumen ein Kreuzzeichen darauf, offenbar eine für ihn typische Geste, und fragte dann:

»Wie geht es meinem Bruder Wilhelm?«

»Gut … recht gut …«, antwortete Hans rasch.

»Wohnt er immer noch bei uns daheim in Emden? In seinem letzten Brief, dreißig Jahre ist das her, hat er geschrieben, er sei Schuster geworden …«

Cornélius Krull hantierte weiter mit den biegsamen...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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