E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Simenon Ankunft Allerheiligen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-01203-3
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-455-01203-3
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
Cover
Verlagslogo
Titelseite
Der blinde Passagier
Die Hochzeit von Esnandes
Der Ausflug nach Royan
Epilog
Über Georges Simenon
Impressum
Der blinde Passagier
1
Gilles Mauvoisin blickte vor sich ins Leere, er hatte rote Augen und eine gereizte Haut wie jemand, der viel geweint hat. Dabei hatte er gar nicht geweint.
Kapitän Solemdal hatte ihm gesagt, er solle sich in der Offiziersmesse bereithalten, wo er während der Schiffsreise seine Mahlzeiten eingenommen hatte.
Gilles wartete in dem langen schwarzen Mantel, der ihm nicht gehörte, eine schwarze Fischottermütze auf dem Kopf und seinen Koffer neben sich, wie im Gang eines Zuges kurz vor der Ankunft, in der Hand ein Taschentuch, weil er sich verkühlt hatte.
Und jetzt lag das Schiff im Frachthafen, ohne dass er auch nur das geringste bisschen von La Rochelle erspäht hätte. Vielleicht befand sich das Bullauge auf der falschen Seite? Kurz vor der Einfahrt war man an roten und schwarzen Bojen vorbeigekommen, die wohl die Fahrrinne markierten. Dann waren Tamarisken ganz nahe am Rumpf der Flint vorbeigeglitten, und die Landungsmanöver hatten begonnen, das Läuten des Telegraphen, halbe Fahrt, stopp, zurück, stopp, vor …
Noch immer war weit und breit nichts von der Stadt zu sehen. Während sich die Flint mitten im Hafenbecken zu drehen begann, erblickte er nur Geleise, Waggons, die wie ausrangiert wirkten, ein altes Schiff, dessen Schweißnähte mit Mennige überstrichen waren, dann eine kahle Böschung und Kühlhallen.
Es würde bald dunkel werden. Ja, es war schon beinahe dunkel. Ein gelblicher Nebel barg das letzte Sonnengleißen. Wieder Eisenbahngeleise, ein Fasswagen und dort, direkt vor Gilles, ganz nahe vor ihm, ein engumschlungenes Liebespaar neben einem Fahrrad, das an dem Waggon lehnte.
Kurz, dieses Liebespaar war das Erste, was Gilles Mauvoisin von La Rochelle zu sehen bekam. Der Mann drehte ihm den Rücken zu. Er trug einen gelben Regenmantel. Er hatte keinen Hut auf, sein braunes Haar war sehr dicht. Von dem Mädchen sah Gilles nur Haare, die ebenfalls braun waren, und ein weit geöffnetes Auge, das ihn anblickte, während ihre Lippen an die ihres Gefährten gepresst blieben.
In diesem nicht enden wollenden Kuss lag etwas Merkwürdiges, vor allem aber in diesem Auge, dessen Blick gewissermaßen zu Gilles in die Offiziersmesse vordrang.
Er zuckte zusammen. Die Flint hatte festgemacht, und Solemdal stand vor ihm, glatt rasiert wie immer, wenn er an Land ging, sein blondes Haar roch nach Kölnischwasser, und sein Oberkörper steckte in einer neuen Jacke mit goldenen Knöpfen.
»Wir sind so weit«, kündigte er an.
Und Gilles fand nicht die richtigen Worte. Er hätte ihm danken wollen. Er empfand überschwängliche Dankbarkeit gegenüber diesem schönen, lebenstüchtigen Kapitän, der ihn fast wie eine Mutter umsorgt hatte. Am liebsten hätte er sich ihm an die Brust geworfen. Aber Solemdal hätte das nicht gerngehabt. Linkisch drückte er ihm die Hand. Er zog die Nase hoch. Sein Schnupfen. Er wagte nicht, sein Taschentuch hervorzuziehen, das er in die Tasche gesteckt hatte. Seinen Koffer in der Hand, ging er zur Treppe.
Der Nebel hatte sich aufgelöst, nur ein letzter blauer Schleier mit violetten Schattierungen lag über dem Hafen. Auf hohen Masten brannte die Hafenbeleuchtung.
Ein Matrose erwartete Gilles auf dem Deck an der Reling, auf der dem Quai abgewandten Seite. Gilles machte einen großen Schritt, stieg die Lotsenleiter hinab und stand im Heck eines Bootes, den Koffer zu seinen Füßen.
Er wirkte so noch größer, magerer, schmaler. Sein allzu langer Mantel verstärkte diesen Eindruck, und auch die Tatsache, dass er Trauerkleidung trug. Die Ruder klatschten in das Wasser, das die Lichter der Lampen langgestreckt spiegelte, und jetzt, in dem Augenblick, in dem Gilles an Land springen wollte, sah er direkt vor sich den gelben Regenmantel wieder, den Rücken des Verliebten und das Auge des Mädchens. Man hätte meinen können, es sei immer noch derselbe Kuss.
Auf der Schulter des jungen Mannes erkannte Gilles jetzt eine Hand, kleine, zierliche Finger, und diese Finger begannen, an dem Gabardinestoff zu zerren.
Gilles hatte das Gefühl, als spüre er die Wärme der beiden Körper, als schmecke er den Speichel dieses Kusses, der nicht aufhören wollte, als streife das Haar über seine Wange. Die kleine Handbewegung bedeutete:
Der Verliebte, der dem Hafenbecken den Rücken zudrehte, drückte sie nur noch fester, und sie zuckte wie ein Vogel, der sich aus der Hand, die ihn gefangen hält, zu befreien versucht.
Sie sträubte sich offenbar heftig. Gilles sah nun das Gesicht fast ganz, ein so junges Gesicht, dass es ihn verlegen machte. Hörte er? Hörte er nicht? Jedenfalls war er sicher, dass sie sagte:
»Schau mal, der da!«
Sie zeigte auf ihn, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ungewöhnlich diese heimliche Landung, wie unerwartet seine lange Silhouette, seine Fischottermütze und sein lächerlich kleines Köfferchen wirken mussten.
Eingeschüchtert verfing er sich mit dem Fuß in Tauen, konnte sich gerade noch fangen, erreichte endlich das Ende des Quais, von wo aus er zwischen den Lagerhallen die Lichter der Stadt entdeckte und den fahlen Leuchtturm, der die Häuser am Quai Vallin so eigenartig überragt.
Am Anfang des Quais, an der Ecke gegenüber der Stadt aus Holz, befindet sich ein kleines, gemütliches Lokal mit einer hohen Theke aus Mahagoniholz, einigen Hockern, einigen Tischen, Kristallgläsern auf Wandregalen.
Raoul Babin thronte dort mit seinem ganzen Gewicht, den Sitz unter seiner Masse regelrecht zermalmend.
Er tat nichts. Er saß stundenlang so da, steckte sich eine Zigarre nach der andern an, und alle diese Zigarren hatten schließlich einen bernsteinfarbenen Kreis in den grauen Haaren seines Bartes und seines Schnurrbartes hinterlassen.
Kein Gast kam herein, ohne sich nach ihm umzudrehen. Die einen nahmen ihren Hut ab; andere berührten die Hutkrempe, wieder andere streckten ihm die Hand hin. Babin streckte die seine kaum aus, begnügte sich, die Fingerspitzen zu berühren.
In der Ville en Bois, der Stadt aus Holz entlang dem gegenüberliegenden Ufer, steht Babins Name an einem Dutzend Werkstätten, Schmieden und Sägewerken, Werkstätten für Netzreparatur und Motorenmontage, und im Hafenbecken, das Gilles gerade verlassen hatte, trugen zwanzig Fischdampfer an ihrem Schornstein das Pik-Ass, das Babins Markenzeichen war.
Jede Stunde mindestens kam ein Lastwagen vorbei, ein Lastwagen von Babin, der Salz, Roheis oder Kohle transportierte, und am Bahnhof sowie in La Pallice hatte Babin Lagerhäuser.
Von Zeit zu Zeit läutete das Telefon in der Bar Lorrain.
»Sagen Sie Monsieur Babin bitte, dass …«
Babin verließ seinen Platz nicht, gab seine Anweisungen, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, und schaute dann seufzend nach draußen.
Er hatte die Stirn gerunzelt, als er sah, wie sich vom schwarzen Rumpf der Flint ein Boot löste. Als Gilles mit seinem Koffer in der Hand vorbeiging, zog er ein wenig den Vorhang zurück, um ihn besser zu sehen.
Aber er wusste genau, dass er sich nicht zu bemühen brauchte. Er wusste alles. Er kannte das Räderwerk der Stadt und des Hafens, als sei er ihr großer Uhrmacher gewesen. Tatsächlich näherte sich schon zehn Minuten später Solemdal, und Babin brauchte nur drei Schritte zu tun, um sich an der Türschwelle zu postieren.
»Solemdal!«
Der Norweger streckte die Hand aus.
»Gehen Sie zu Plantel? Der ist nicht vor acht Uhr zu Hause. Er ist nach Royan gegangen, um sich eines seiner Schiffe anzusehen, das einen Motorschaden hat. Was trinken Sie? Wer ist denn dieser junge Mann, den Sie an Land gesetzt haben?«
»Ein Franzose, dessen Eltern soeben in Trondheim gestorben sind und der dort völlig mittellos dastand … Gilles Mauvoisin …«
»Gaston!«, rief Babin, der den Wirt wie einen seiner Angestellten behandelte, einfach. »Rufen Sie doch mal in den Hotels an, um herauszubekommen, ob ein gewisser Gilles Mauvoisin …«
Am Turm der Großen Uhr stand Gilles im warmen Licht der Schaufenster und lauschte dem Französisch der Passanten. Er verstand tatsächlich alles, was sie sagten, und er drehte sich unwillkürlich neugierig nach ihnen um.
Kartenspieler hinter den Scheiben des Café Français … Ein Lederwarengeschäft … Dann, einige Häuser weiter, ein schlecht beleuchteter, großräumiger Laden, vollgestopft mit den verschiedensten Waren, Pakete mit Tauen, Laternen, Anker, Trosse; Teer- und Ölfässer; auch Lebensmittel, wie in einem Kolonialwarengeschäft. Man erriet, dass es im Innern stark und angenehm roch.
Auf dem Schaufenster: .
Gilles, der auf dem Bürgersteig stehen geblieben war, nahm das alles in sich auf. Links im Laden war ein verglastes Büro, das sicherlich überhitzt war, denn der gusseiserne Ofen glühte rot. Eine große Frau, die ein bisschen wie ein Pferd aussah, mittleren Alters: Es war seine Tante, Gérardine Éloi, die Schwester seiner Mutter.
Sie trug ein Satinkleid mit Stehkragen, das mit einer goldgefassten Kamee geschmückt war. Sie sagte gerade etwas. Er hörte nicht, was sie sagte, versuchte, es ihr aber von den Lippen abzulesen. Ein Schiffskapitän, der mit übereinandergeschlagenen Beinen, seine Mütze auf den Knien, ihr gegenübersaß, nickte zustimmend mit dem Kopf.
Gilles schneuzte sich, aber er weinte immer noch nicht. Dabei machte dieser Schnupfen, den er einfach nicht loswurde, das Drama von Trondheim noch gegenwärtiger, ließ sogar dessen Geruch wieder...




