Simenon | Am Maultierpass | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Die großen Romane

Simenon Am Maultierpass

Die großen Romane
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-455-00521-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die großen Romane

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: Die großen Romane

ISBN: 978-3-455-00521-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Drama mit Wildwestcharakter um zwei rivalisierende Brüder
In Tumacacori im Süden Arizonas, fernab der Heimat, lebt Patrick Martin Ashbridge, kurz genannt "P. M.", ein unbescholtenes und begütertes Leben als Anwalt. Seine Wurzeln hat er längst gekappt, sein altes Leben als "Pat" samt Familie und erster Ehefrau hinter sich gelassen. Bis eines Tages sein Bruder Donald auftaucht – geflohen aus dem Gefängnis, wo er wegen Mordversuchs saß. Nie hat P. M. jemandem von Donald erzählt, der nun verlangt, dass P. M. ihm bei der Flucht nach Mexiko hilft. Als der Grenzfluss ausgerechnet in diesen Tagen anschwillt, spitzt sich die Lage zu ...

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Cover
Titelseite
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Über Georges Simenon
Impressum


1
Er hielt sein Glas in der Hand und blickte ausdruckslos auf den fahlen Rest Whisky, den es noch enthielt, wie jemand, der genießerisch den letzten Schluck hinauszögern möchte. Als er das Glas endlich geleert hatte, starrte er es noch eine Weile an. Er konnte sich nicht entschließen, es auf die Theke zu stellen, es ein kleines Stück, zwei, drei Zentimeter, nach vorn zu schieben. Bill, der Barkeeper, der in eine Würfelrunde mit einigen Cowboys vertieft schien, würde das Signal verstehen, denn er war auf der Lauer: Er war immer auf der Lauer, vor allem bei einem Gast wie P.M. Das Ganze ist verteufelt gut eingespielt. Alles wirkt zufällig, jede Bewegung ist die unschuldigste der Welt, und das Ergebnis ist, dass man trinken kann, ohne dass es danach aussieht. Das hat etwas von einem Geheimbund an sich, mit Zeichen, die den Eingeweihten quer durch alle Länder der Welt bekannt sind. Beim ersten Glas zum Beispiel, wenn P.M. einen Whisky bestellt oder, genauer gesagt, das Wort Whisky undeutlich, mit einer gewissen Mattigkeit, wenn nicht Zerstreutheit, über die Lippen bringt, was tut Bill? Er murmelt: »Doppelten?« Das ist eigentlich keine Frage. Es versteht sich von selbst, dass kein Gentleman die Montezuma Bar betritt, um einen einfachen Whisky zu trinken. Besser noch: Er braucht nicht einmal einen Ton zu sagen. Wenn man eintritt, wenn man sich auf einen der hohen Barhocker schwingt, greift Bill, oder auch ein anderer, mit verständnisinnigem Lächeln nach der guten Flasche Bourbon, nach der, die einem am liebsten ist, der Flasche für Kenner. Manchmal behält er die Flasche in der Hand, wenn er das erste Glas vollgeschenkt hat. P.M. bräuchte sein Glas nur ein klein wenig über die Theke zu schieben, aber er tut es nicht, er steigt schwer von seinem Stuhl und schreitet zur Toilette. Er gehört nicht zu denen, die jeden Samstagabend die Selbstbeherrschung verlieren. Und im Tal sind manche, für die hat die Woche so einige Samstage. Er fühlt sich wohl, bloß ein wenig schummrig, sein Gang ist leicht schwankend – aber er ist überzeugt, dass das nicht auffällt. Wenn er jetzt zur Toilette geht, dann nur, um sich im Spiegel zu betrachten und zu prüfen, ob er sich noch einen letzten Bourbon leisten kann. »Hello, P.M.!« »Hello, Jack …« Ein Typ sitzt ungerührt auf einer Kloschüssel in einer der türlosen Kabinen. Wie P.M. hat er seinen Hut aufbehalten. Wie alle anderen in der Bar und in der Stadt tragen die beiden Männer kein Jackett, nur ein weißes Hemd. Kaum jemand bindet sich eine Krawatte um, P.M. jedoch hat stets Wert auf eine gewisse Korrektheit gelegt und behält seine an, selbst auf der Ranch. »Gießt es?« »Noch nicht.« »Wird es aber, und zwar tüchtig.« Es ist kurz vor Mitternacht. Seit dem frühen Abend sind Blitze zu sehen, und man hört das Grollen des Donners auf der mexikanischen Seite. P.M. betrachtet sich in der trüben Fläche des Spiegels. Er ist ein wenig fett, nicht sehr. Hier wirkt er gelblich, wegen des schlechten Lichts. In der Bar hingegen, in der es farbige Lampenschirme gibt, war er bonbonrosa. Seine Augen sind noch nicht verquollen. Kann er sich ein letztes Glas leisten? Jack setzt das Gespräch von seiner Schüssel aus fort. »Wie viele sind noch im Rennen? Ich hatte auf den 8. Juni gesetzt. Zu optimistisch!« »Ich auf den 4. Juli. Auch zu optimistisch!« Es ist schon einige Jahre her, dass die Zeitung von Nogales auf diese Idee gekommen ist. Eine kleine Zeitung für eine kleine Stadt, die auf der amerikanischen Seite kaum mehr als siebentausend Einwohner zählt. Wenn die Regenzeit naht, wenn sich die Leute allmählich über die Straßen schleppen, wenn der Asphalt schmilzt, das Thermometer beharrlich 105°F zeigt und die Rancher überlegen, ob sie nicht, wie in manch anderen Jahren, ihr Vieh mangels Weidefläche nach New Mexico oder sogar Nevada treiben sollen, eröffnet die Zeitung eine Art Wettbewerb. Jeder trägt auf einer Tafel das Datum ein, an dem seiner Meinung der erste Regen fällt, und diese Tafel wird in einem Schaufenster ausgestellt. Es stehen kaum noch Namen auf der Liste, höchstens vier oder fünf; P.M. ist vorhin vorbeigegangen, um einen Blick darauf zu werfen. Kaum jemand hat sich vorstellen können, dass bis zum 24. Juli kein Tropfen vom Himmel fällt. »Ich glaube, eine Frau ist am nächsten dran. Den Namen habe ich vergessen.« P.M. fährt sich mit einem Kamm durch die Haare. Er hat stets einen kleinen Kamm in der Tasche. Als er in das Lokal zurückkommt, versteht Bill sofort, dass er den Arm nach einer der Flaschen ausstrecken darf. P.M. setzt sich beharrlich auf den gleichen Platz, ganz am Ende, wo die Theke einen Knick hat, sodass es ein wenig so aussieht, als hätte er den Vorsitz. Schließlich hat er auch nicht die gleichen Vorlieben wie die anderen. Diejenigen, die wie er aus dem Tal kommen, sitzen zumeist in kleinen Gruppen zusammen und diskutieren lautstark. Patrick Martin Ashbridge drückt im Vorbeigehen mit respektvoller Vertrautheit einige Hände, wechselt mit jedem ein paar Worte, in Wirklichkeit jedoch hält er sich stets ein wenig abseits. Eine Frage der Würde? Vielleicht. Auch des Geschmacks. Deshalb legt er es darauf an, samstagabends einer der Letzten zu sein. Die Bar ist fast leer. Er fühlt sich wohl auf seinem Hocker, sein Glas in der Hand, dazu Bill, der zwischen zwei Bestellungen auf einen kurzen Plausch vorbeikommt. Bill hebt den Kopf. »Es ist so weit!« Es hört sich an, als prasselten Schrotkörner auf das Dach. Jemand ist aufgestanden, um die Tür zu öffnen, und in der Dunkelheit der Straße sieht man den Bürgersteig, der mit langen grauen Regenlanzen schraffiert ist. »Ihr solltet mal das Wasser im Fluss sehn!« Ob es richtig war, ein letztes Glas zu trinken? Schon reißt ihn dieses Wasser vom Himmel innerlich mit. Zumal der Barkeeper hinzufügt: »Gut möglich, dass wir Sie ein paar Tage nicht zu sehen bekommen.« Das kommt vor. Die Menschen im Tal sind von der Landstraße durch einen Fluss getrennt, der den größten Teil des Jahres ausgetrocknet ist, sich jedoch im Laufe einer Gewitternacht, manchmal binnen einer Stunde oder weniger, füllen kann, wenn das Wasser aus den mexikanischen Bergen herabströmt. Eine Brücke gibt es nicht. Wenn das Wasser nicht zu hoch ist, kommt man gerade noch mit dem Wagen hinüber, notfalls auch zu Pferd, wenn der Grund zu aufgeweicht ist für ein Fahrzeug. Aber man kann auch zehn Tage und mehr auf der anderen Seite des Santa Cruz festsitzen. Liegt es an dieser Aussicht, dass er Lust bekommt, die Grenze zu überschreiten? Er sieht sein Bild zwischen zwei Flaschen, und sein Gesicht ist rot, die Augen groß, die Pupillen glänzen. Es stört ihn. Er mag sich so nicht. »Ich glaube, morgen früh werden einige hier Schwierigkeiten haben, nach Hause zu kommen«, sagt der Barkeeper. Besonders die Cowboys. Wenn sie samstagabends in die Stadt fahren, brechen sie selten vor dem frühen Morgen wieder auf. P.M. wird nicht so lange brauchen. Nun gut. Er wird auf den Hügel fahren. Er zieht einige Dollar aus der Gesäßtasche seiner Hose, in der er stets ein Bündel Scheine mit sich trägt. Als er zur Tür geht, ist sein Gang unsicherer, als er gedacht hat, aber er kämpft nicht mehr dagegen an, er weiß, jetzt, da ein bestimmtes Bild von ihm Besitz ergriffen hat, gibt es kein Mittel mehr, dagegen anzukämpfen. Nur kurz über den Bürgersteig, über dem es schüttet wie aus Eimern, schon klebt ihm sein Hemd auf der Haut. Er stochert ein wenig herum, um den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken. Hundert Meter weiter kommt bereits der Grenzzaun, der die Stadt in zwei Hälften teilt, in eine amerikanische und eine mexikanische. Er bremst, hält an. Die Gestalt eines Beamten der Einwanderungsbehörde nähert sich. Natürlich erkennt man ihn. Er braucht seine Papiere nicht zu zeigen. Es ist merkwürdig: Selbst bei dem Regen, der alles gleichmachen müsste, fällt einem der Unterschied noch auf. Ein Tor, durch das man fährt, ein paar Reifenumdrehungen, und P.M. hat das Gefühl, eine fremde, zweideutige, verbotene Welt zu betreten. Auf der Seite, die er gerade verlassen hat, war alles still, beruhigend, die breite Straße mit den anheimelnden Fenstern, die sauberen Bürgersteige, zwei Bars, die noch geöffnet waren. Jetzt gerät er in ein geheimnisvolles Wimmeln. Noch nach Mitternacht, selbst bei dieser Sintflut, streifen Gestalten umher, Leute sitzen auf der Türschwelle, Händler, die einen in ihre Läden locken, in denen Schnaps und irgendwelche Raritäten verkauft werden. Schon wälzen Bäche ihre gelben Fluten durch die von Schlaglöchern ausgehöhlten Straßen, und in jeder dunklen Ecke wähnt man menschliche Wärme, Gesten, Tuscheln. Er wird dort hinauffahren. Nicht unbedingt mit Vergnügen. Besonders freudig fährt er nie dorthin. Vielleicht fährt er wegen des letzten Whiskys, der dunkle Bilder heraufbeschworen hat, vielleicht auch – wahrscheinlicher noch – wegen des Regens, der ihm einen Schwall Erinnerungen hat zu Kopfe steigen lassen. Der Weg führt in ein Gassengewirr hügelaufwärts; bald schon umfängt ihn ein Geruch, Schatten und Licht bekommen einen neuen Sinn, nackte Arme winken ihm zu, spärlich bekleidete Frauen schlendern zuversichtlich im Lichtkegel der Scheinwerfer über die Straße. Er weiß, dass er auf dem gesamten Rückweg den üblichen Groll hegen wird, der vor allem auf Ekel beruht, dass er das Lenkrad ganz sonderbar halten wird, als fürchte er, es zu infizieren,...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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