E-Book, Deutsch, 250 Seiten
Simchen Die vielen Gesichter des AD(H)S
aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-17-045788-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Begleit- und Folgeerkrankungen richtig erkennen und behandeln
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-17-045788-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
AD(H)S bedeutet weit mehr als nur eine Beeinträchtigung von Konzentration und Verhalten. Seine genetisch bedingte Stirnhirnunterfunktion mit Reizüberflutung und Botenstoffmangel hat eine dichtere Vernetzung von Nervenbahnen im Gehirn zur Folge. Diese Besonderheit verleiht den Betroffenen nicht nur Nachteile, sondern auch besondere Fähigkeiten, über die sie bei ausgeprägter AD(H)S-Problematik leider nicht immer verfügen können. Eine rechtzeitige multimodale Behandlung mit individueller und problemorientierter lern- und verhaltenstherapeutischer Begleitung sowie dem Praktizieren eines Selbstmanagements kann verhindern, dass Selbstwertgefühl und Sozialverhalten in eine Negativspirale geraten, was zu Dauerstress sowie psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen kann. Das in der 7. Auflage vorliegende Buch zeigt bewährte Strategien und Hilfestellungen auf, die es Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ermöglichen, nicht mehr unter ihrem AD(H)S zu leiden, sondern dessen Vorteile nutzen zu können.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 AD?(H)?S hat viele Gesichter
1.1 Viele fragen: »Woran erkenne ich ein AD?(H)?S vom Unaufmerksamen Typ?«
»AD?(H)?S ist eine Modekrankheit, AD?(H)?S hat heute jeder«, so Meinungen aus der Praxis, die häufig geäußert werden. Weder das eine noch das andere stimmt. Richtig ist, dass AD?(H)?S heute – im Vergleich zu früher – öfter diagnostiziert und mehr behandelt wird, doch längst noch nicht ausreichend, was die tägliche Arbeit der Ärzte beweist, die sich auf die Diagnostik und Behandlung von AD?(H)?S spezialisiert haben. Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) gibt es mit und ohne Hyperaktivität, deshalb wird es korrekterweise jetzt in der Fachliteratur AD?(H)?S genannt. Beide Formen des AD?(H)?S unterscheiden sich deutlich in ihrer Symptomatik, wobei die wesentlichen Diagnosekriterien immer vorhanden sein müssen. Die beiden Subtypen beschreibe ich mit ihren unterschiedlichen Symptomen und Verläufen in diesem Buch ausführlich. Das ADS vom Unaufmerksamen Typ, dass ich auch gern als hypoaktive Variante bezeichne, wurde viel später erst als solches wissenschaftlich anerkannt. Deshalb wird das ADS jetzt korrekterweise als AD?(H)?S bezeichnet, als Oberbegriff für ein ADS mit oder ohne Hyperaktivität. Manchmal liegt aber auch ein sog. Mischtyp vor. Die Disposition, d.?h. die Veranlagung zum AD?(H)?S mag häufig sein, aber behandlungsbedürftig werden Kinder, Jugendliche und Erwachsene erst dann, wenn ihre Entwicklung und Lebensqualität deutlich beeinträchtigt sind. Unerkannt und unbehandelt führt AD?(H)?S zur inneren Verunsicherung der Betroffenen mit psychischer Instabilität und schlechtem Selbstwertgefühl. Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden dann schnell zum Außenseiter und fühlen sich von ihrer Umwelt unverstanden. Sie wissen, dass sie vieles können und durchschauen, aber sie sind nicht in der Lage, dies aufs Papier zu bringen und es ihren Angehörigen, Freunden und Kollegen verständlich zu machen. Das ist aber nur die aktuelle Seite der AD?(H)?S-Problematik. Viel schwerwiegender ist die Gefahr der späteren psychischen Instabilität mit einer hohen Rate an sekundären seelischen und körperlichen Erkrankungen. Das Selbstwertgefühl entwickelt sich in der Kinder- und Schulzeit, etwa in der Zeit vom achten bis elften Lebensjahr, und es entscheidet mit darüber, wie das betroffene Kind sein weiteres Leben in den verschiedenen Bereichen meistern wird. Deshalb die große Bedeutung der Frühdiagnostik und Frühbehandlung des AD?(H)?S. Die Symptomatik des AD?(H)?S ist sehr vielfältig und nicht anhand von Tabellen oder Skalen zu erfassen. Diese dienen mehr der Verlaufskontrolle und der Orientierung, wann an ein AD?(H)?S gedacht werden sollte. Die Kinder und Jugendlichen selbst merken nur, dass sie anders reagieren und dass sie trotz Anstrengung und fleißigem Lernen auch bei guter Intelligenz keinen für sie ausreichenden Erfolg in der Schule und im Beruf haben. Sie spüren ihre innere Unruhe und den Drang, sich immer bewegen zu müssen. Manche müssen alles anfassen, immerzu reden oder ständig jemanden provozieren. Sie lernen nicht aus Fehlern und hören schlecht zu. Was sie aber hören wollen, hören sie ganz genau. Sie können sich auch konzentrieren, wenn sie etwas interessiert, aber es gelingt ihnen nicht immer, selbst dann nicht, wenn sie es möchten. In ihren Zeugnissen steht sehr oft sinngemäß der Satz: »Du kannst, wenn du willst, das hast du schon bewiesen.« Sie wollen ja, aber sie können die Daueraufmerksamkeit nicht halten, wenn Nebengeräusche oder andere Dinge sie ablenken. Sie beginnen voller Freude und Elan das erste Schuljahr und merken bald, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind. Sie resignieren langsam und ziehen sich zurück oder sie werden zum Klassenclown, um sich so Bestätigung zu holen. Manche entwickeln psychosomatische Beschwerden. Je nachdem, ob das Kind hyper- oder hypoaktiv ist, neigt es zu Aggressionen oder Ängsten als Folge seiner inneren Verunsicherung. Viel Leid könnte manchem Kind erspart bleiben, wenn das Krankheitsbild des AD?(H)?S Eltern, aber auch Lehrern, Psychologen und Ärzten besser bekannt wäre und hilfesuchende Eltern rasch fachkundige Unterstützung erhielten. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (AD?(H)?S) wird definiert als eine neurobiologisch bedingte, spezifisch veränderte Steuerungsdynamik der Wahrnehmung, der kognitiven und emotionalen Verarbeitung und der sich daraus ergebenden Reaktions- und Verhaltensbildung. Aus epidemiologischen Untersuchungen1 ist bekannt, dass in Deutschland ca. eine Million Kinder und Jugendliche eine AD?(H)?S-Konstitution mit beratungs- bzw. behandlungsbedürftigen Entwicklungsbeeinträchtigungen haben. Im Erwachsenenbereich liegt die Zahl der Betroffenen bei etwa 1,5 Millionen. Diese leiden zudem häufig ebenso unter Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen. Liegt ein AD?(H)?S vor, ist die Reizverarbeitung beeinträchtigt Wahrnehmungen sind oberflächlich und »hüpfend« Wegen der Reizfilterschwäche wird das Arbeitsgedächtnis überlastet Äußere Reize können nicht ausreichend nach Wichtigkeit gefiltert werden Durch Reizüberflutung bilden sich zu viele Leitungsbahnen Es werden auch unwichtige Informationen abgespeichert Botenstoffmangel beeinträchtigt die Weitergabe von Informationen vom Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis Die Umstellung von einer Tätigkeit zur anderen kann beeinträchtigt sein Ein schneller Ver-/Abgleich mit »Erinnerungen« ist nicht möglich Gelerntes und Handlungsabläufe automatisieren sich sehr langsam Abgespeichertes Wissen kann nicht schnell genug abgerufen werden Die Symptomatik des AD?(H)?S ist in jeder Altersgruppe etwas unterschiedlich. Sie wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, ob eine Hypo- oder Hyperaktivität vorliegt. Die Schwere der Symptomatik und damit auch das Ausmaß des Leidensdruckes hängen von vielen Faktoren ab. Eine gute Intelligenz, ein verständnisvolles soziales Umfeld und geringe Anforderungen bilden schützende Faktoren. Symptome des AD?(H)?S Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung Störung der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung Störung der Merkfähigkeit Innere und motorische Unruhe Mangelhafte emotionale Steuerung Frustrationsintoleranz Impulssteuerungsschwäche Störung der Feinmotorik Teilleistungsstörungen Symptome des AD?(H)?S im Säuglingsalter
Die Symptome des AD?(H)?S beginnen sich zumeist allmählich, vom ersten Lebensjahr an, zu entwickeln. Häufig fallen sie zunächst noch nicht merkbar auf, da sie je nach Ausmaß der Beeinträchtigungen, der Höhe der Anforderungen und der vorhandenen Ressourcen zuweilen noch über einen längeren Zeitraum kompensiert werden können. Die ersten Anzeichen einer AD?(H)?S-Problematik sind bereits im Säuglingsalter zu finden. Sie sind aber noch unspezifisch und lassen nur bei familiärer Veranlagung einen Verdacht zu. Die Kombination folgender Symptome – die von Eltern von AD?(H)?S-Kindern häufig beobachtet wurden – könnte im Säuglingsalter auf eine AD?(H)?S-Veranlagung hindeuten: AD?(H)?S-Symptome im Säuglingsalter unstillbares Weinen (phasenhaft) oberflächlicher Schlaf, hellwach können Streicheln nicht genießen unruhig und unausgeglichen kein Krabbeln zeitiges Laufen kein ausdauerndes »Spielen« Trinkschwierigkeiten Hautallergie Gibt es in einer Familie bereits AD?(H)?S-Betroffene, sollten die genannten Symptome Anlass für eine gezielte weitere Beobachtung sein. Eine frühe Diagnose ermöglicht es sodann, den betroffenen Kindern von Anfang an eine strukturierte Betreuung mit viel Verständnis und individueller Förderung zu geben. Neben den Babys und Kleinkindern, bei denen Eltern die Symptome frühzeitig bemerken, gibt es ebenso völlig unauffällige Säuglinge, die ausgesprochen »pflegeleicht« sind. Sie entwickeln erst später eine meist hypoaktive oder eine zwischen den beiden Subtypen liegende AD?(H)?S-Form. Trinkschwierigkeiten sind oft die...