Silber | Das Meer von unten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 226 Seiten

Silber Das Meer von unten

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7117-5486-8
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 226 Seiten

ISBN: 978-3-7117-5486-8
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Connie eines Tages nach Hause kommt, findet sie ein neues Nachbarskind vor ihrer Wohnung im Gemeindebau sitzen. Wie es heißt, will es nicht verraten, Schuhe trägt es auch nicht, aber Hunger hat es. Von da an steht das Kind regelmäßig vor ihrer Tür und sie trinken gemeinsam Kaffee, bis Connie zur Arbeit muss. Seit Jahren ist sie nun schon Küchenhilfe im Wiener Gasthaus Rösch, dabei hat sie doch Matura. Warum sie nicht mehr aus ihrem Leben macht, versteht niemand, am wenigsten ihre Kolleginnen und Kollegen. Als die Eltern des Kindes plötzlich weg sind, wird aus den ungezwungenen Treffen schlagartig Ernst. Kann Connie für das fremde Kind da sein, wenn sie nicht einmal ihr eigenes Leben wirklich im Griff hat? Mit viel Feingefühl erzählt Anna Silber von der Verantwortung des Erwachsenwerdens, vom Kindsein und von unverhofftem Zusammenhalt und Solidarität in einer anonymen Großstadt.

Anna Silber wurde 1995 in Mödling geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie studierte Transkulturelle Kommunikation und Internationale Betriebswirtschaft. Zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. Ihr Debütroman »Chopinhof-Blues« erschien 2022 im Picus Verlag.
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Zwei


Minze weckt mich viel zu früh, ich schiebe sie vom Bett. Sie springt zu meinen Füßen, spielt mit meinen Zehen, ich ziehe sie ein. Minze schafft es, unter die Decke zu kriechen, bis zu meiner Achsel. Schnurren unter der Decke.

»Komm«, sage ich mehr zu mir als zu ihr, »stehen wir halt auf.« Sie bewegt sich nicht, ich auch nicht wirklich, greife nur zum Handy. Drei neue Nachrichten. Janosz: Arbeit ohne dich ist wie Kaffee ohne Milch. Mama: Constanze, lebst du? Dann noch einmal Mama: Ruf dich nachher an, heb ab. Draußen Sirenen, immerhin kein Hubschrauber.

Im Kühlschrank ist nicht einmal Milch. Ich ziehe den Mantel über die Jogginghose, vielleicht kaufe ich gleich auch Semmeln oder Eier. Wie lange ist es her, dass ich ein Ei gekocht habe, habe ich überhaupt je ein Ei für mich allein gekocht. In der Küche im Rösch ist alles exzessiv, hundert Eier, zehn Kilo Mehl, zwanzig Gurken. Minze streckt sich auf dem Boden aus, ich steige über sie, sie peitscht mit dem Schwanz. Die Tür fällt ins Schloss, ich schaue nach rechts, kein Kind vor Tür siebenunddreißig. Ich gehe los. Frau Zukic steht rauchend vor der Stiegentür.

»Connie, wie ist’s?«

»Geht schon, ich geh zum Hofer, brauchen Sie was?«

»Was ich brauch, gibt’s nicht beim Hofer.« Sie grinst, wie alt wird sie wohl mittlerweile sein, Anfang sechzig vielleicht. Der Lippenstift macht sie älter, warum trägt sie überhaupt Lippenstift, es ist Donnerstag, sie ist arbeitslos.

»Tschick?«, fragt sie, hält mir die Packung hin. Sie hat immer serbische oder russische Zigaretten, ich habe sie nie gefragt, woher die kommen, wer ihr die bringt. Vor ein, zwei Jahren hat sie Stangen an die ganze Nachbarschaft verkauft. Das ams macht mir einen Aufstand, wenn ich da ein Geschäft mach, hat sie gesagt.

»Gern.« Ich greife zu.

»Feuer hast selber, oder?« Ich nicke.

»Tür siebenunddreißig«, sage ich nach dem ersten Zug, »wissen Sie da was?«

»So neugierig, mh. Wieder so Islamisten, wie’s ausschaut.«

»Muslime«, sage ich, warum tue ich mir das überhaupt an, selber schuld.

»Connie, sei nicht blöd, glaub denen nix, die sind alle …«

»Wann sind die denn gekommen?«, unterbreche ich sie.

»Die Laslo hat gesagt, vorletzte Woche. Die hat das Auto gesehen, da vorn.« Sie deutet mit dem Kinn Richtung Leystraße. »Lauter Araber haben geholfen, hat sie gesagt.«

»Mh.« Ich will fragen, wie Frau Laslo von Weitem Araber erkennen konnte, aber lasse es bleiben.

»Die haben sicher wieder wen gekannt, Connie, bei Wiener Wohnen, weißt. Das kann ja nicht sein, die Nichte von der Laslo steht auf der Liste, seit sie in der Lehre ist, und nix passiert, gar nix. Das ist schon auffällig, Connie, ich weiß eh, du hörst das nicht gern, aber auffällig ist es schon, eine Islamistenfamilie nach der anderen und man muss sich schon fragen, also fragen wird man sich ja noch dürfen, wie geht das, mh. Und vielleicht sollt sich der Bürgermeister das einmal anschauen, wie das sein kann, dass sich da keiner wundert, wenn wieder so eine Frau Mohammed dasitzt, bei Wiener Wohnen, und wer dann die Wohnung kriegt. Die Kopftuchmafia, ich sag’s dir, Connie, es ist alles wahr.«

»Mh.« Letzter Zug, Rauch in der Lunge, serbischer Rauch.

»Bringst mir bitte einen Wein mit, einen roten«, sagt Frau Zukic, kramt in ihrer Handtasche.

»Geht schon«, antworte ich, das alte Spiel.

»Ich warte da.«

»Bis gleich.«

Ich kaufe Semmeln, Milch, keine Eier. Stattdessen Wein für Frau Zukic, dazu ein neues Feuerzeug. Frau Zukic steht nicht mehr vor der Stiegentür, als ich zurückkomme. Ich bin mir nicht sicher, ob es trister ausschaut, wenn sie davorsteht oder wenn da gar niemand steht. Den Wein stelle ich ihr vor ihre Wohnungstür, Tür vierundzwanzig. Vor Tür fünfunddreißig eine dunkle Flüssigkeit auf dem Boden, ich weiche aus.

»Hey«, sagt eine Kinderstimme. Ich schaue nach vorne, das Nachbarskind steht vor Tür siebenunddreißig, der Scheitel leicht über der Höhe der Klinke.

»Hey.«

»Wohnst du da?« Es deutet auf Tür sechsunddreißig.

»Ja.«

»Schon immer?«

»Seit fünf Jahren oder so. Und ihr?«

»Wer?«

»Du und deine Eltern.«

»Weiß ich nicht.«

»Warum bist du da heraußen?«

»Nur so.« Es sieht verloren aus, wie es dasteht, ausgesperrt.

»Magst du mit zu mir reinkommen?«, frage ich nach kurzem Zögern. Das Nachbarskind legt den Kopf ein bisschen schief.

»Okay.« Es kommt auf mich zu, langsame, schlurfende Schritte.

»Wie heißt du?«, frage ich, sperre auf.

»Kannst du eh nicht aussprechen.«

»Probier’s ruhig.«

»Wie heißt du denn?«

»Connie.«

»Bist du Österreicher?«

»Ja.« Ich ziehe meine Schuhe aus, das Kind hat keine an, nur Socken. »Du auch?«, frage ich.

»Nein.«

»Sondern?«

»Ist egal.« Es schaut sich um.

»Bad, Klo, Schlafzimmer, Küche«, sage ich, deute dabei auf die verschiedenen Türen.

»Meine Wohnung ist größer.«

»Drei Leute brauchen halt auch mehr Platz. Hast du schon was gefrühstückt?«

»Nein.« Gut, dass ich gleich vier Semmeln gekauft habe statt zwei.

Ich sitze am Küchentisch, gegenüber das Nachbarskind, das eine Semmel ohne Butter, überhaupt ohne alles isst. Minze schaut mich vom Türrahmen aus skeptisch an.

»Magst du Milch?«, frage ich. »Kakao hab ich keinen.«

»Hast du auch Kaffee?«

»Du trinkst Kaffee?«

»Schon lang.«

»Okay.« Ich stehe auf, hole das Glasgestell aus dem Küchenkästchen, French Press hat Mama es genannt, als sie es zu meinem letzten Geburtstag mitgebracht hat. Wer weiß, wo sie es gefunden oder mitgenommen hat. Ich habe es bei ihrem Besuch vor Monaten verwendet, seither nie wieder.

»Damit machst du Kaffee?« Die Kinderstimme ist ruhig für das Alter, tief.

»Was anderes hab ich nicht.« Ich stehe neben dem Wasserkocher, schaue dem Nachbarskind dabei zu, wie es die zweite Semmel in Stücke reißt.

»Wann kriegt deine Mama ihr Baby?«

»Bald.«

»Haben deine Eltern deswegen die Wohnung bekommen?«

»Wieso?«

»Wegen Wiener Wohnen. Die geben nicht so einfach Wohnungen her.«

»Die sind genauso scheiße wie die anderen.«

»Scheiße wie wer?« Das Kind antwortet nicht. Der Wasserkocher klickt, ich leere Wasser auf das Kaffeepulver im Glasgestell. Janosz würde lachen, wenn er mich sehen könnte.

»Hast du heut gar keine Schule?«, frage ich.

»Doch.«

»Und?«

»Ich geh halt nicht hin.«

»Wieso?«

»Ich hab nicht wechseln wollen.«

»Wo warst du denn davor?«

»Im Zehnten.« Einmal quer durch die Stadt übersiedelt.

»Oh.«

»Ist mir egal, ich brauch die alle nicht.«

»Wen?«

»Die kennst du nicht.« Ich drücke den Filter nach unten, das Nachbarskind verliert kurz den abgeklärten Blick.

»Magst du?«, frage ich, höre auf zu drücken. Das Kind nickt. Ich schiebe das Gestell vorsichtig hinüber, das Kind drückt den Filter konzentriert hinunter.

»Fertig«, sagt es, als der Filter ganz unten ist.

»Danke.«

»Und jetzt?«

»Jetzt trinken wir ihn.« Ich schenke uns ein.

»Schwarz«, sagt das Nachbarskind.

»Okay.«

Ich gieße, bis das Häferl voll ist. Das Kind umfasst es mit den kleinen Händen.

»Ist dir gar nicht kalt?«, frage ich.

»Wieso?«

»Du hast keine Schuhe angehabt.«

»Ja, und?«

»Wir haben Februar.« Das Nachbarskind schaut aus dem Küchenfenster, ich folge seinem Blick.

»Magst du Februar?«, fragt es, ohne mich anzuschauen.

»Na. Die Minze auch nicht. Also, die Katze.« Das Kind löst den Blick vom Fenster, schaut zu Minze, die immer noch im Türrahmen sitzt.

»Hat sie Angst?«

»Sie ist nur skeptisch. Sie kennt ja...


Anna Silber wurde 1995 in Mödling geboren und wuchs in Deutschland auf. Sie studierte Transkulturelle Kommunikation und Internationale Betriebswirtschaft. Zahlreiche Förder- und Nachwuchspreise. Ihr Debütroman »Chopinhof-Blues« erschien 2022 im Picus Verlag.



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