Sigusch | Geschichte der Sexualwissenschaft | Buch | 978-3-593-38575-4 | sack.de

Buch, Deutsch, 720 Seiten, Format (B × H): 165 mm x 235 mm, Gewicht: 1242 g

Sigusch

Geschichte der Sexualwissenschaft


1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-593-38575-4
Verlag: Campus

Buch, Deutsch, 720 Seiten, Format (B × H): 165 mm x 235 mm, Gewicht: 1242 g

ISBN: 978-3-593-38575-4
Verlag: Campus


Vor 150 Jahren begann die wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Sexualität. Erstmals erzählt Volkmar Sigusch, einer der angesehensten Sexualforscher der Gegenwart, wie seitdem die intimsten Wünsche, Praktiken, aber auch körperliche und seelische Nöte der Menschen entdeckt wurden.

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Inhalt

150 Jahre Sexualwissenschaft

Einleitung und Danksagung

A. Die Anfänge der Sexualwissenschaft

1 Voraussetzungen der neuen Disziplin

2 Pioniere und ihre Werke

3 Erste Organisationen und Periodika

4 Ein wollüstiges Jahrhundert, potente Frauen und die Liebe des Mannes zum Weib

Paolo Mantegazza als Begründer einer namenlosen Wissenschaft

5 Die natürliche und gesunde Liebe des Mannes zum Mann

Karl Heinrich Ulrichs als erster Schwuler und als Pionier

der Geschlechterforschung

6

Vorletzte Kämpfe gegen die Onanie und das Problem der kranken Fantasie

Heinrich Kaan und die erste Psychopathia sexualis

7 Perversionen oder die Psychiatrisierung sexueller Vorlieben

Richard von Krafft-Ebing zwischen Kaan und Freud

B. Von der Blüte bis zur Zerstörung durch die Nazis

8 Reine Wissenschaft oder soziale Bewegung
Albert Moll, Magnus Hirschfeld und problematische Verhältnisse

9 Verachtete Weiber und verfolgte Urninge

Albert Eulenburg über Lebensdrang und Lebensekel

10 Der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten und Prostitution

Alfred Blaschko als Menschenfreund

11 Neue Ethik, Mutterschutz und freie Liebe

Helene Stöckers Kampf gegen Männermoral, Frauenunterdrückung und Krieg

12 Fantasie oder Verhalten

Sigmund Freud und das Verhältnis von Psychoanalyse und Sexualwissenschaft

13 Reine Heterosexualität und reine Sexualwissenschaft

Iwan Blochs Disziplinierungsversuche

14 Kontrazeption, Rassenhygiene und die Grenzen der sexuellen Liberalisierung

Max Marcuse als Organisator einer neuen Wissenschaft

15 Das erste Institut für Sexualwissenschaft der Welt

Aufklärung, Schutz und Begutachtung

16

Die Zerstörung des ersten Instituts für Sexualwissenschaft durch die Nazis

Bericht eines Augenzeugen

17 Die Sexualwissenschaft, der Nationalsozialismus und die Eugenik

75 Jahre danach

C. Vom Wiederbeginn nach 1945 bis zur Jahrtausendwende

18 Der Neuanfang in der BRD

Von Hans Giese bis zur Studentenbewegung

19 Kontinuität und Diskontinuität

Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung

20 Vom verspäteten Kinsey bis zum Einbruch von Aids

Sexualforschung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts

21 Einmaleins der Lust?

Die Anfänge einer kritischen Sexualmedizin

22 Perversion als Straftat und die kochende Volksseele

Die Anfänge einer verstehenden Sexualforensik

23 Sexualwissenschaft in der DDR - ein Resümee

von Günter Grau

24 Kritische Sexualwissenschaft

Eine Standortbestimmung am Ende des 20. Jahrhunderts

D. Anhang

Die Anfänge der Sexualwissenschaft
Eine Chronologie der Ereignisse

Pseudonyme

Weiterführende Literatur nach Sachgebieten

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Sachregister


150 Jahre Sexualwissenschaft
Einleitung und Danksagung

Immer wieder wird gesagt, die Sexualwissenschaft sei Ende des 19. Jahrhunderts von dem Nervenarzt Richard von Krafft-Ebing oder Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Hautarzt Iwan Bloch begründet worden. Ich bin dagegen zu dem Schluss gekommen, dass die Sexualwissenschaft bereits vor 150 Jahren entstanden ist.
Am Beginn, zwischen 1850 und 1870, stellten zwei Gelehrte die Weichen in Richtung auf eine Wissenschaft von der Wonne und von der Liebe, die merkwürdigerweise trotz ihres umfangreichen Werkes bis heute nicht als Pioniere der Sexualwissenschaft gewürdigt worden sind: der katholische Norditaliener Paolo Mantegazza und der protestantische Norddeutsche Karl Heinrich Ulrichs.
Diese Pioniere der Pioniere könnten unterschiedlicher nicht sein. Mantegazza, Arzt, Anthropologe und Schriftsteller, liebte die Frauen, vor allem seine Mutter, wie sonst nichts auf der Welt, forschte in fremden Ländern, wurde Universitätsprofessor und starb hoch geehrt als Senator des Königreichs Italien. Ulrichs, Jurist, Latinist und Schriftsteller, liebte die Männer, vor allem junge Soldaten, heiß und innig, war überzeugt, eine weibliche Seele in einem männlichen Körper zu haben, kämpfte mit zahllosen Pamphleten gegen die Verachtung der mannmännlichen Liebe, könnte wegen seines Mutes als der erste Schwule der Weltgeschichte bezeichnet werden und starb nach Verfolgungen mutterseelenallein in den italienischen Abbruzzen.
Geburt der Sexualwissenschaft
Offenbar stärker als andere Zeitgenossen sind beide bereits durchdrungen vom Furor sexualis, das heißt von dem, was wir heute Sexualdiskurs nennen würden, allerdings noch nicht unter dem alles zusammenzwingenden Sammel- und Leitbegriff "Sexualität". Bekanntlich kommt das Hauptwort "Sexualität" weder in der Bibel noch bei Homer noch bei Shakespeare vor. Das ist für die kritische Sexualwissenschaft nicht nebensächlich, sondern die Sache selbst. Und diese Tatsache ist: Vergesellschaftung von Venus Urania und Venus vulgivaga, von Minne, Wohllust und Wollust, von Geschlecht und Liebe. Die Transformation der zahllosen Wonnen, Empfindungen und Vorstellungen in eine einzige, scheinbar ebenso gott- wie naturgewollte Sexualform kann am leichtesten daran abgelesen werden, dass an die Stelle der zahllosen Wörter, die vor dem 19. Jahrhundert kursierten, ein einziges Wort trat, ein Kollektivsingular, der all die Vorgänger von Venus bis Nisus verschlang: "Sexualität".
Mantegazza handelte noch von "Piacere" und "Amore" zwischen Männern und Frauen - wir sagen heute: von Lust und Liebe bei Heterosexuellen. Und die wissenschaftliche Disziplin, die in diesen Jahrzehnten entsteht, hieß bei ihm namenlos "diese Wissenschaft" oder "Wissenschaft vom Genusse". Ulrichs handelte von einer "namenlosen Liebe" und den Geschlechtseigentümlichkeiten jener, die sie lebten - wir sagen heute: von Homosexualität, sexueller Präferenz und Geschlechtsidentität. Mantegazza experimentierte als Mediziner bereits im heutigen Sinn des Wortes. Er argumentierte physiologisch, anthropologisch, ethnologisch, hygienisch, empirisch und damit oft moderner als viele spätere Sexualforscher. Mit seinen zahllosen Büchern in vielen Sprachen und mit einzigartig hohen Auflagen erreichte er das lesende Publikum in Europa und darüber hinaus. Ulrichs argumentierte rechtsphilosophisch, ethisch, sittengeschichtlich, embryologisch, geschlechterwissenschaftlich und politisch und musste zwangsläufig überwiegend im Verborgenen wirken. Er klagte aber Freiheitsrechte für verfolgte und verpönte Geschlechts- und Sexualsubjekte in aller Welt so mutig und unbeirrt auch öffentlich ein, dass er heute als Vorkämpfer der Homosexuellen-Emanzipation verehrt wird. Bei Mantegazza sind die Frauen den Männern noch mit ihrer Liebes- und Lustpotenz überlegen und nicht alle Abweichungen von der Fortpflanzung zur krankhaften Perversion missraten, geht es sogar, anders als bei seinen Nachfolgern, um eine Kunst zu lieben und zu genießen. Gemeinsam ist beiden Kulturkritikern der Kampf gegen die herrschende Heuchelei in Sachen Liebe und Lüste sowie der Kampf für eine breite Aufklärung. Zugleich aber glaubten sie an die befreiende Wirkung der aufkommenden, angeblich rationalen Wissenschaften.
Wenn gesagt wird, Paolo Mantegazza oder Richard von Krafft-Ebing oder gar erst Alfred C. Kinsey hätte die Sexualwissenschaft begründet, dann muss eine solche Aussage natürlich relativiert werden. Denn eine einzelne Person kann keine Wissenschaft aus sich heraus gebären. Grenzte sich in der Vergangenheit eine Richtung vom Hauptstrom des wissenschaftlichen Denkens und Tuns erfolgreich als eigenständige Disziplin ab, war immer die Zeit dafür reif. Strukturell waren dann durch allgemein wirkende Imperative oder Diskurse die Weichen bereits gestellt, zahllose Vorläufer hatten dann bereits ganz ähnliche Ideen geäußert. Kraft ihres individuellen Könnens trieben einzelne Personen die Sache auf die Spitze oder dachten Ideen auf überzeugende Weise zusammen. Seitdem jenes Denken zur allgemeinen Struktur geworden ist, das wir heute wissenschaftlich nennen, kann aber jeder Pionier ersetzt werden. Leonardo da Vinci war noch eine singuläre Erscheinung. Aber schon ein James Watt war austauschbar. Denn die Dampfmaschine lag gewissermaßen in der Luft, das heißt im Gang der Wissens- und Industrialisierungsgesellschaft, sodass unzählige andere Wissenschaftler über kurz oder lang diesen Einfall gehabt oder diese Schlüsse gezogen hätten.
Ganz weit gefasst könnte die Ideengeschichte der neuen Disziplin bis in die griechische Antike zurückverfolgt werden, wird beispielsweise an die Geschlechtermythologie in Platons Symposion gedacht, nach der die ursprünglichen, mit beiden Geschlechtsorganen ausgestatteten Kugelmenschen von den Göttern zur Strafe in zwei Hälften, eine weibliche und eine männliche, geteilt worden sind, sodass sie sich auf Dauer nacheinander sehnen und zu verschmelzen wünschen. Ansonsten aber handelten die Alten nicht von "unseren" Begierden und Lüsten, sondern von ihrer Gesundheit, für die sie eine Diätetik zu entwerfen suchten.
Nicht ganz so weit zurückgehend, aber immer noch weit gefasst, begönne die Geschichte der Erotologie und der Sexuologie in den drei bis fünf Jahrzehnten vor und nach 1800, weil zu dieser Zeit die allgemeinen Voraussetzungen für derartige Disziplinen entstanden sind, wie wir im Kapitel 1 hören werden. Im emphatisch aufklärerischen Sinn aber und als ein Abgegrenztes, also eng gefasst, ist die Sexuologie nach meiner Auffassung erst in den drei bis fünf Jahrzehnten vor und nach 1900 entstanden, also etwa zwischen 1850 und 1930. In dieser Zeit, die drei bis vier Forschergenerationen umfasst, mausert sich die neue Betrachtungsweise zu einer Disziplin mit eigener Theoriebildung, mit Standard- und Sammelwerken, Zeitschriften, Fachgesellschaften, Fachkongressen, einem Spezialinstitut außerhalb der Universität und, wenngleich nur nominell, einem innerhalb der Universität (vgl. Kap. 3) sowie programmatischen Erklärungen und öffentlichen Interventionen. Sozialpolitisch wird die neue Disziplin zunehmend als eine Notwendigkeit angesehen: Die "sexuelle Frage" ist jetzt gesamtkulturell gestellt.
Davon handelt dieses Buch, nicht von den ganz andersartigen Anschauungen und Regulierungen der klassischen griechischen Antike oder der mittelalterlichen Moraltheologie oder der abweichenden protestantischen Theologie oder der Säftelehremedizin, wobei deren Überlegungen vielleicht eingeflossen sind in die scheinbar so neuen und anstößigen Theorien der modernen Sexualwissenschaft.


Sigusch, Volkmar
Volkmar Sigusch (1940–2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er – insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973–2006) – national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch 'Sexuelle Störungen und ihre Behandlung' gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie.
Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt.
Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: 'Neosexualitäten' (2005), 'Geschichte der Sexualwissenschaft' (2008), 'Personenlexikon der Sexualforschung' (2009, zusammen mit Günter Grau), 'Die Suche nach der sexuellen Freiheit' (2011), 'Sexualitäten' (2013) und 'Kritische Sexualwissenschaft' (2019).

Volkmar Sigusch (1940–2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er – insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973–2006) – national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch 'Sexuelle Störungen und ihre Behandlung' gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie.

Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt.

Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: 'Neosexualitäten' (2005), 'Geschichte der Sexualwissenschaft' (2008), 'Personenlexikon der Sexualforschung' (2009, zusammen mit Günter Grau), 'Die Suche nach der sexuellen Freiheit' (2011), 'Sexualitäten' (2013) und 'Kritische Sexualwissenschaft' (2019).



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