E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Sigurdardóttir BLUT
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32098-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-32098-0
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fisch-Trawler vor der Küste Islands: Hier wurde die Köchin Gunndís kurzfristig als Aushilfe angeheuert. Doch von Anfang an bemerkt die junge Frau eine feindselige Stimmung an Bord. Kann es an ihrem Vater liegen, der vor vielen Jahren als Schiffskoch für einen verhängnisvollen Brand verantwortlich gemacht wurde? Mehrere Mitglieder der jetzigen Crew haben damals ihre Väter verloren, Gunndís ebenso. Will sich die Besatzung jetzt an ihr rächen? Doch dann entdeckt sie im Schiff geheime Unterlagen, die darauf hindeuten, dass ihr Vater damals gar nicht der wahre Schuldige war, sondern der Brand eine ganz andere Ursache hatte ...
Dramatisch, bildkräftig, mit eisiger Atmosphäre und genialen Verwicklungen ? der neue Besteller von Islands Thriller-Königin.
Yrsa Sigurdardóttir, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Spannungsromane in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Thrillerautoren der Welt« (Times). Sigurdardóttir lebt mit ihrer Familie in Reykjavík. Sie debütierte 2005 mit »Das letzte Ritual«, der Beginn einer einer Reihe von Kriminalromanen um die Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir und begeisterte ebenso mit ihrer Serie um die Psychologin Freyja und Kommissar Huldar von der Kripo Reykjavík. Ihr Thriller »Schnee« verkaufte sich über 60.000 Mal und war monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Auch ihre weiteren Thriller »Nacht« und »Rauch« waren gefeierte SPIEGEL-Bestseller.
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1. Kapitel — Nacht zum Samstag
Wie erwartet war am Hafenbecken nicht viel los. Es war kalt, aber nicht windig, der Mond schien, und es herrschte fast absolute Stille. Nur das leise, träge Plätschern der Wellen war zu hören, neben dem Knarzen der Fischtrawler, die sich an den Reifen am Kai rieben. Diese Geräusche strahlten eine solche Ruhe aus, als gäbe es keinen Grund zur Eile. Alles ganz entspannt. Bis zur Morgendämmerung musste sich niemand stressen.
Doch Gunndís hatte es eilig. Sie holte die Sporttasche aus dem Kofferraum ihres kleinen Wagens und versuchte, nicht weiter darüber nachzugrübeln, ob sie irgendetwas vergessen hatte. Es war eine kurzfristige Anfrage gewesen, wie immer. Sie hatte noch keine feste Anstellung und musste sich mit den Fahrten begnügen, bei denen sie einspringen konnte, weil der Schiffskoch aus irgendeinem Grund ganz kurzfristig ausfiel. Aber über die Hektik, die das mit sich brachte, regte sie sich schon lange nicht mehr auf, sondern freute sich über jede Gelegenheit, die sie bekam. Seit sie denken konnte, war das hier ihr Traumjob, und ihr war bewusst, dass sie einen steinigen Weg vor sich hatte. Sie musste sich Schritt für Schritt vorankämpfen, einen guten Job machen, zeigen, dass man sich auf sie verlassen konnte, und darauf hoffen, dass sich das herumsprach.
Sie hatte keine Schwierigkeiten, das Schiff zu finden. Es war das einzige, das beleuchtet war, ein Teil der Mannschaft war schon an Bord. Niemand wollte sich diese Tour entgehen lassen, die Lodde war kurz vor dem Laichen, es war die letzte Chance, den Fisch in diesem wertvollsten Stadium zu fangen. In den Abendnachrichten war über den Fischfang berichtet worden, und es hieß, der Rogen sei voll ausgereift und der Zeitpunkt perfekt. Auch der Anteil der Rogner, der weiblichen Tiere in den Schwärmen, sei westlich von Island zurzeit optimal. Der Trawler fasste zweitausend Tonnen. Wenn sie mit vollen Laderäumen zurückkehrten, würde sie in diesen paar Tagen mehr verdienen als in drei Monaten Schulmensa. Ihre feste Stelle als Schulköchin war weder ihr Traumjob noch besonders gut bezahlt, aber sie hatte aushandeln können, dass sie in Situationen wie diesen spontan freibekam. Damit hatte sie sich unter den Kollegen zwar nicht gerade beliebt gemacht, aber egal. Die anderen schafften das auch ohne sie, es war kein Weltuntergang, wenn sie ab und zu fehlte. Zumal das ja wirklich auch nicht häufig passierte, so selten, wie sie die Chance bekam, mit rauszufahren. Und krank wurde sie fast nie. Daher fehlte sie so unterm Strich viel seltener, als wenn sie alle ihre Krankheitstage in Anspruch nehmen würde.
Gunndís blieb vor dem Schiff stehen und holte ihr Handy heraus. Sie wollte zwei Nachrichten schreiben, bevor sie an Bord ging, damit sie es später nicht vergaß. Die erste war eine Mitteilung an die Schule, dass sie zu Beginn der nächsten Woche fehlen würde; die zweite ging an ihren Exmann Gauti. Sie hatten sich vor gut einem Jahr getrennt, aber blieben durch ihren zweijährigen Sohn Daði dennoch untrennbar miteinander verbunden. Gerade war Papa-Wochenende, daher war Daði bei seinem Vater, aber Montagfrüh würde Gauti ihn zur Kita bringen und normalerweise müsste sie ihn dort nachmittags abholen. Nicht, dass der arme Junge vergeblich auf seine Mama wartete. Sie hörte Gauti schon stöhnen, wenn er erfuhr, dass Daði länger bei ihm bleiben sollte, aber er meinte es nicht so. Er hatte sich für sie nicht als der Partner erwiesen, den sie sich erhofft hatte, aber er war ein wunderbarer Vater, der gerne Zeit mit seinem Sohn verbrachte. Und die Loddenfahrten waren kurz. Wenn alles wie geplant lief, war sie Montagabend oder spätestens Dienstag früh zurück. Zwei Extratage würden ihn nicht umbringen. Und sollte er deswegen Stress machen, würde sie ihm anbieten, dafür das nächste Papa-Wochenende zu übernehmen. Sie musste dafür nicht mal in den Kalender schauen, denn es war klar, dass Gauti dieses Angebot nicht annahm. Außerdem wusste sie ganz sicher, dass sie am nächsten Papa-Wochenende nichts vorhatte. Genauso wenig wie an allen anderen Wochenenden. Sie war von Natur aus introvertiert. Im Gegensatz zu Gauti. Auch das hatte zu ihrer Trennung beigetragen. Neben anderen Dingen, an die sie gerade nicht denken wollte.
Gunndís erspähte eine Person auf der Brücke, vermutlich Kapitän Hróbjartur, der sie heute früh geweckt und ihr den Job angeboten hatte. In dem kurzen Telefonat hatte er ihr mitgeteilt, dass sie eine dreizehnköpfige Crew seien, sechs Matrosen, drei Maschinisten, drei Steuermänner und er selbst. Mit ihr also vierzehn. Sie würden in Richtung Breiðafjörður fahren, wo sich die Lodden derzeit aufhielten. Er hatte nachgefragt, ob sie über ein gültiges STCW-Zertifikat verfüge, was sie bejahen konnte. Dann wollte er wissen, ob sie in einer Stunde an Bord sein könne. Auch das hatte sie bejaht, wenn auch etwas zögerlicher. Mehr hatte Hróbjartur nicht wissen wollen, und nachdem er ihr erklärt hatte, wo genau der Trawler auslief, war sie aus dem Bett gesprungen, hatte ein paar Dinge eingepackt und war losgerast. Die Fahrt von Breiðholt nach Grindavík dauerte vierzig Minuten, daher waren ihr fürs Packen und Fertigmachen nur zehn Minuten geblieben. Ganz sicher hatte sie irgendetwas vergessen, aber das Wichtigste hatte sie dabei: Zahnbürste, Wechselsachen und ihr Messerset.
Gunndís steckte das Handy wieder ein und stieg über die Reling an Deck. Mit der schweren Sporttasche an ihrer Schulter verlor sie kurz das Gleichgewicht. Um ein Haar wäre sie in den Spalt zwischen Schiff und Kaimauer gestürzt. Die Lücke war nicht so breit, dass sie im Wasser gelandet wäre, aber sie hätte sich verletzen können, wäre vielleicht mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus gelandet. So etwas sprach sich schnell herum, und dann würde sie lange auf eine neue Anfrage warten – und den Traum von einem festen Job auf See konnte sie sich dann ganz abschminken. Glücklicherweise hatte keiner ihre ungeschickte Kletterpartie beobachtet, es war kein Mensch an Deck. Leer war es trotzdem nicht. Ihren Weg musste sie sich durch ein Labyrinth aus Spulen, Ketten, Kränen, Winden, Masten und aller möglicher Ausrüstung bahnen.
Als sie im Inneren des Schiffes war, hörte sie vom Ende des Gangs Stimmen und folgte ihnen in der Hoffnung, jemanden zu finden, der sie zu ihrer Kajüte bringen und ihr den Weg zur Brücke zeigen konnte.
Vier Männer saßen in einem Raum, dem Trockenraum, wie ein Schild an der Tür verriet. Dort hingen Arbeitskleidung und Helme, gleichzeitig war es wohl ein Aufbewahrungsraum für diverses Kleinzeug, aber auch Pausenraum und Raucherzimmer. Die Männer blickten auf, als Gunndís hineinschaute, wirkten aber nicht sonderlich erstaunt über das Erscheinen eines weiblichen Crewmitglieds. Sie stellten sich zwar nicht mit Namen vor, begrüßten sie aber freundlich an Bord und sahen sie erwartungsvoll an. Als Gunndís fragte, ob jemand wisse, in welcher Kajüte sie untergebracht sei, sprang der jüngste der Männer auf und bot an, sie hinzubringen.
Gunndís war zum ersten Mal auf diesem Schiff, und obwohl ihr vieles vertraut vorkam, war nichts genauso, wie sie es von anderen Schiffen kannte. Doch eine Gemeinsamkeit gab es. Leider. Kaum an Bord, befiel sie dieses klaustrophobische Gefühl, das ihr den Atem raubte, wenn sie es nicht im Keim erstickte. Energisch schob sie alle Bilder von sich, auf denen die Gänge geflutet wurden, sich das Schiff auf die Seite legte oder Feuer an Bord ausbrach. Allein der Gedanke daran brachte ihren Puls zum Rasen. Sie wollte nicht vor dem jungen Matrosen kollabieren, also musste sie sich zusammenreißen. Meist half es, wenn sie sich bewusst machte, dass es noch viel schlimmere Situationen gab. Das hier war zumindest kein U-Boot oder Raumschiff.
Es würde schon alles gutgehen. Natürlich würde alles gutgehen. Solche Schiffsunglücke, wie sie es sich ausmalte, gehörten in isländischen Gewässern quasi der Geschichte an. Gunndís atmete tief ein und langsam wieder aus. Sie spürte, wie ihr Körper sich entspannte und auch ihr Herz wieder ruhiger schlug. Ein wunderbares Gefühl.
Damit die Panik nicht von den Toten auferstand, konzentrierte sie sich ganz auf die Umgebung. An der Wand neben dem Ausgang zum zweiten Deck hing ein Trockengestell für die Arbeitshandschuhe der Mannschaft. Über jeden Halter war ein steifer, wasserdichter Handschuh gestülpt. Die vielen dicken Finger, die in den Gang ragten, wirkten fast wie ein Kunstwerk. Hoffentlich fand sie ein Paar in einer kleineren Größe, wenn sie morgen wie jedes andere Crewmitglied Handschuhe überziehen würde. Denn der Koch fuhr nicht nur zum Kochen mit. Damit die Crew genug zu essen bekam, würde sie zwar als Letzte an Deck gehen und als Erste wieder in die Kombüse, aber sobald das Netz ausgelegt wurde, musste auch sie mit anpacken.
Eine enge, steile Treppe mit Geländern an beiden Seiten führte nach unten. Bei starkem Wellengang hätten selbst Zirkusartisten Schwierigkeiten, dort hinunterzuklettern, ohne sich festzuhalten. Unten befanden sich die Kajüten, und vor einer Tür ungefähr in der Mitte des Gangs blieb der junge Mann stehen. Gunndís atmete auf, denn sie hatte schon befürchtet, ganz hinten zu landen, wo der Maschinenlärm am lautesten war. Aus bitterer Erfahrung wusste sie, dass die Angst leichtes Spiel mit ihr hatte, wenn sie in der dunklen Kajüte unter dem Meeresspiegel wach lag. Dass sie ihren Seefahrertraum nicht schon längst begraben hatte, war wirklich erstaunlich. In der Schulkantine, wo sie Gemüse für Kinder schnippelte, die viel lieber Pizza essen wollten, hatte sie noch nie eine Panikattacke bekommen.
Der junge Mann öffnete die Tür, ging hinein und machte Licht. »Das ist die Kajüte des...




