E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Sieren Angst vor China
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8437-0089-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie die neue Weltmacht unsere Krise nutzt
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0089-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frank Sieren, Jahrgang 1967, Asienkolumnist des Handelsblatts und Zeit-Autor, lebt seit über 15 Jahren in China. Er ist Autor von »Der China Code« (2004) und »Der China Schock« (2008), die beide lange auf Platz 1 der Wirtschaftsbestellerlisten standen. Wenn Sie Frank Sieren als Redner buchen möchten, kontaktieren Sie bitte die Econ Referenten-Agentur. Für alle weiteren Anfragen wenden Sie sich bitte an unser Veranstaltungsteam oder die Presseabteilung.
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Vorwort
Aus der Ferne wird manches offensichtlicher. Deshalb fühle ich mich in China auch gut aufgehoben, wenn ich etwas über Deutschland lernen will. Die Art, wie die Deutschen auf China reagieren, sagt viel aus über die aufsteigende Weltmacht, mit der wir uns immer öfter beschäftigen müssen. Sie verrät aber auch mehr über uns selbst, als manchem lieb sein dürfte: Die Deutschen neigen zu Übertreibungen. In globalen Krisenzeiten mehr denn je. Das ist nicht ungefährlich. Denn Deutschland lebt vom Export wie keine andere Industrienation. Deshalb ist es entscheidend, die globalen Veränderungen, die der chinesische Aufstieg mit sich bringt, realistisch einzuschätzen. Davon sind wir indes weit entfernt. China sei »furchterregend mächtig«, konstatierte beispielsweise ein deutscher Zeitungskommentator im Frühjahr 2011.[1] In keinem anderen europäischen Land sehen die Menschen China so negativ wie in Deutschland. Das fand ein amerikanisches Forschungsinstitut im Juli 2011 bei einer Umfrage heraus.[2] In Frankreich, England und Spanien dagegen hat die Mehrheit der Befragten sogar ein positives Bild von China – selbst in den USA, die unter Chinas Aufstieg am meisten leiden. Weltweit haben nur noch die Türken und die Japaner ein schlechteres Bild von den Chinesen.
In den 17 Jahren, in denen ich in China lebe, hat die Sichtweise der Deutschen auf das Reich der Mitte eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Erst wurde es für seine Rückständigkeit und sein politisches System belächelt und bemitleidet. Dann wurde es für sein Wirtschaftswachstum bewundert und für seine Menschenrechtsverletzungen kritisiert. Inzwischen wird es vor allem gefürchtet. Die Reaktionen auf China werden harscher. Beschäftigte in Deutschland sorgen sich um ihre Arbeitsplätze, die nach China verlagert werden könnten. Autofahrer fürchten den Rohstoffhunger der Chinesen, wenn an der Tankstelle die Benzinpreise klettern. Studenten und Azubis spüren die Konkurrenz aus Asien beim Einstieg ins Berufsleben. Mittelständler fürchten die preiswertere chinesische Konkurrenz. Deutschen Vorständen sind die mächtigen chinesischen Staatsbetriebe zuwider, die mit harten Bandagen spielen. Deutsche Politiker starren wie gelähmt auf die wachsenden Geldreserven der Chinesen, während sie selbst immer mehr Schulden anhäufen. Mit Unbehagen bemerken sie, dass die neue Weltmacht des 21. Jahrhunderts noch immer eine Diktatur ist. Produktpiraten, Cyber-Angreifer, Menschenrechtsverletzer, Rohstoffvergeuder, Neokolonialisten und Umweltverschmutzer. Das sind alles Attribute, die in Deutschland gerne verwendet werden, wenn es um China geht. Positive gibt es sehr viel weniger. Die meisten Chinesen hingegen bewundern Deutschland. Als ich neulich mit Madame Fu Ying, der für Europa zuständigen Vizeaußenministerin, einen Tee trank, erzählte sie mir, dass sie die große Ausstellung in Peking über die Zeit der deutschen Aufklärung besucht habe. Als sie an den Exponaten vorbeiging, sei ihr noch einmal deutlich geworden, durch welche »Höhen und Tiefen Deutschland gehen musste, und was dies an Unruhen, Kriegen und Kolonisierung für andere Teile der Welt bedeutet« habe. Aber »mit Gewissenhaftigkeit, Klugheit und Fleiß hat Deutschland diese schwierigen Zeiten hinter sich gelassen und dieses hohe Niveau an Demokratie und Wohlstand erreicht«. Madame Fu wunderte sich darüber, warum sich die Deutschen so schwer tun, »China, dem Spätentwickler unter den Nationen« ähnliche Entwicklungsspielräume zuzugestehen. »Wir rauschen in wenigen Jahrzehnten durch Entwicklungen, für die andere Länder sich Jahrhunderte Zeit lassen konnten«, sagte sie nachdenklich. Chinas Führung versuche, das Tempo ohne große Einbrüche zu halten und dabei internationale Konflikte und inländische Turbulenzen zu vermeiden.
»Nach dreißig Jahren erfolgreicher Reformen und der Öffnung des Landes sind Stabilität und Wohlstand endlich nach China zurückgekehrt«, fuhr sie fort. »Darauf bin ich stolz, denn das war nicht einfach.« Dass noch viel zu tun ist, bestreitet sie nicht. »Wir sind noch nicht am Ziel«, sagte Madame Fu, die vorzüglich Englisch spricht. »Wir haben unsere Reformen erst zur Hälfte umgesetzt. Ein langer Weg liegt noch vor uns.«
Viele Deutsche jedoch neiden den Chinesen ihren Erfolg. Die Alten erinnern sich an ihre Schulzeit, als man noch von der »Gelben Gefahr« sprach. Sie fühlen sich nun bestätigt. Die Bild-Zeitung fürchtete im Sommer 2011 gar eine »China-Invasion«. In einer großen Serie berichtete das Blatt, »wie die größte Wirtschaftsmacht der Welt Europa aufrollt«. Bei Bild schert man sich schon nicht mehr um die Kleinigkeit, dass die amerikanische Wirtschaft noch drei Mal so groß ist wie die chinesische. Das zeigt nur umso mehr: Die »Angst vor China« hat den deutschen Alltag erreicht. Diese Angst kann lähmen. Und schlimmer noch, zu Kurzschlussreaktionen führen.
Deshalb ist es besonders wichtig, eines zu betonen: China ist kein Feind, der immer mächtiger wird und uns schließlich überrollt. Das Reich der Mitte ist allenfalls ein Wettbewerber, dem wir uns stellen müssen, wenngleich er zuweilen unerbittlich ist. Vor allem aber ist das Land ein Partner. Wir müssen versuchen, diese Partnerschaft auszubauen. Dabei sollten wir uns nicht ins Bockshorn jagen lassen: Wir müssen weiterhin von den Werten überzeugt bleiben, die wir geschaffen haben, und auch nach diesen Werten leben. Dennoch sollten wir der Versuchung widerstehen, den Chinesen unsere Überzeugungen aufzuzwingen. Vielmehr sollten wir uns den neuen Gegebenheiten stellen – auch selbstkritisch – und uns auf das Wesentliche konzentrieren. Nur dann wird es uns gelingen, das Neue und Überraschende dieses globalen Wandels so umfassend und nüchtern wie möglich zu erfassen. Darum dreht sich dieses Buch. Ich will versuchen, die üblichen Sichtweisen aufzubrechen, starre Denkgewohnheiten zu hinterfragen und die Welt möglichst schon heute aus der Perspektive künftiger Generationen zu erfassen.
Chinas Weg zur Weltmacht hat tiefgreifendere Folgen für die Weltordnung als der Aufstieg Amerikas vor über hundert Jahren. Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre ist das Land die Fabrik der Welt und der attraktivste Wachstumsmarkt für westliche Hightech-Produkte, aber auch für Luxusgüter. Deshalb wächst die chinesische Wirtschaft mit einer Geschwindigkeit, die bisher niemand für möglich gehalten hat und die den einstigen Boom der USA um ein Vielfaches übersteigt. Um die Wirtschaftskraft zu erlangen, die China von 1970 bis heute aufgebaut hat, brauchte Amerika 160 Jahre. Auch kulturell unterscheidet sich Chinas Aufstieg. Als die USA 1890 England als Wirtschaftsweltmacht ablösten, war die kulturelle Schnittmenge zwischen dem Aufsteiger und dem Absteiger sehr groß, auch wenn Amerikaner und Engländer heute gern das Gegenteil betonen. China hingegen hat andere Vorstellungen vom Zusammenleben der Menschen als der Westen. Und, ob wir wollen oder nicht, ein Teil dieser chinesischen Werte wird sich auf kurz oder lang global durchsetzen. Auch wir werden also Kompromisse machen müssen. Umfassende Kompromisse. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir uns in Zukunft bei unserer Selbstverwirklichung zugunsten der Interessen der globalen Gemeinschaft einschränken müssen.
Das liegt in erster Linie an der globalen Ressourcenlage. Im Gegensatz zu den Zeiten des amerikanischen Aufstiegs am Anfang des vergangenen Jahrhunderts sind Ressourcen und Bodenschätze weltweit viel knapper geworden. Inzwischen ist offensichtlich: Wenn wir so weitermachen, wird es nicht für alle reichen. Und weil es nicht für alle reicht, werden auch wir in Deutschland unseren Lebenswandel ändern müssen, damit sich der Lebensstandard der Chinesen dem unsrigen angleichen kann. Denn darum geht es schließlich allen aufstrebenden Ländern.
Es macht unsere Lage nicht einfacher, dass wir uns im Westen immer höher verschulden, Krise an Krise reihen und dabei immer neue Fehler machen, die unseren Spielraum am Ende verkleinern. Immerhin ist Deutschland unter den westlichen Industrienationen noch der Musterschüler. Die Arbeitslosigkeit sinkt, das Wachstum unserer Wirtschaft ist vergleichsweise hoch, ebenso die Lebensqualität. Der deutsche Sozialstaat gehört zu den fürsorglichsten der Welt. Das deutsche Modell der Kurzarbeit hat sich in der vergangenen Krise bewährt, den Unternehmen geht es gut. Doch auch wir leben auf Kosten unserer Kinder und Enkel. Die finanziellen Belastungen des Staates steigen schneller als die Steuereinnahmen. Viele deutsche Kommunen stehen vor der Zahlungsunfähigkeit. Selbst im Boomjahr 2010 machte Deutschland bei einem ungewöhnlich hohen Wachstum von 3,6 Prozent noch knapp 90 Milliarden Euro neue Schulden. Wie hoch werden die Schulden erst in »normalen« Jahren sein, zumal wenn dann noch die Lasten der EU-Krise obendrauf kommen?
Immer mehr Menschen müssen, obwohl sie einer Arbeit nachgehen, staatliche Unterstützung beantragen, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. 2010 sank die Zahl der Arbeitslosen auf unter drei Millionen, während die der sogenannten Aufstocker auf fast 1,4 Millionen stieg.[3] Das sind über vier Prozent mehr als 2009 und sogar 13 Prozent mehr als 2007. Über 1,3 Millionen Menschen werden auf Staatskosten weitergebildet. Sie gelten nicht als arbeitslos und tauchen...