E-Book, Deutsch, 123 Seiten
Reihe: Classics To Go
Sienkiewicz Vergebens
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98744-557-6
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 123 Seiten
Reihe: Classics To Go
ISBN: 978-3-98744-557-6
Verlag: OTB eBook publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Auszug: »Da ist endlich Kiew,« rief ein junger Mann, Joseph Schwarz, während er in die alte Stadt einfuhr. Nachdem man ihn am Schlagbaum vor der Stadt aufgeweckt hatte, befand er sich plötzlich inmitten städtischer Gebäude, und sein Herz schlug freudig. Er war noch jung und lebenslustig, und deshalb atmete er mit großem Vergnügen die Stadtluft ein und wiederholte lächelnd: »Da ist Kiew.«
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I.
»Da ist endlich Kiew,« rief ein junger Mann, Joseph Schwarz, während er in die alte Stadt einfuhr. Nachdem man ihn am Schlagbaum vor der Stadt aufgeweckt hatte, befand er sich plötzlich inmitten städtischer Gebäude, und sein Herz schlug freudig. Er war noch jung und lebenslustig, und deshalb atmete er mit großem Vergnügen die Stadtluft ein und wiederholte lächelnd: »Da ist Kiew.« Der Wagen des jüdischen Fuhrmanns klapperte leicht auf dem unebenen Pflaster hin, das ihn jeden Augenblick in die Höhe warf. Schwarz war es überdrüssig geworden, in dem Wagen zu sitzen, der mit Leinewand überspannt war. Deshalb stieg er aus und befahl dem Fuhrmann, ihm im Schritt in das nächste Gasthaus nachzufahren. Dann ging er zu Fuß voran. Wie gewöhnlich in großen Städten gingen die Bewohner eilig ihren Geschäften nach, vorüber an den Läden mit reichgefüllten Schaufenstern; Equipagen, Droschken fuhren die Straßen entlang; Kaufleute, Generale, Soldaten, arme und reiche Menschen und Beamte eilten in wechselnder Folge an ihm vorüber. Es war ein Werktag, und darum hatte die Stadt ein geschäftiges Aussehen und einen besonderen örtlichen Charakter. Jeder Vorübergehende ging bedachtsam und ernsthaft seines Wegs, niemand verschwendete Worte. Der Kaufmann war mit seinem Handel beschäftigt, die Polizei sorgte für die Ordnung. Alle strebten nach ihren besonderen Zielen, alles atmete Leben und dachte an den morgenden Tag. Und über all dieser unruhigen Menschenmenge, über all dem lärmenden städtischen Verkehr lag eine heiße Atmosphäre, welche von der untergehenden Sonne erhitzt worden war, die sich in den Scheiben der Schaufenster spiegelte, sowie in den Fenstern der großen Häuser, die aneinander gedrängt die Straßen der großen Stadt bildeten. »Das reine Sodom,« dachte Schwarz, der noch niemals in Kiew und überhaupt noch nicht in großen Städten gewesen war, »was das für ein Leben ist!« Und er dachte unwillkürlich an den ungeheuren Unterschied des Lebens in einem kleinen Landstädtchen und in einer großen, volkreichen Handelsstadt, wo alles sich ohne Rast drehte wie ein Rad. Plötzlich hörte er in der Nähe eine Stimme. »Ist's möglich, Joseph?« Schwarz sah sich um und als er den Mann erblickte, der ihn mit Namen gerufen hatte, rief er, die Arme ausbreitend: »Gustav!« Das war ein kleiner, hagerer junger Mann von etwa dreiundzwanzig Jahren. Die langen kastanienbraunen Haare berührten beinahe seine Schulter, und ein kurzgeschnittener rötlicher Schnurrbart ließ ihn viel älter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. »Nun wie geht's?« fragte er Joseph, »warum bist Du gekommen. Zur Universität, wie?« »Ja, zur Universität.« »Vortrefflich! Man weiß nicht, wie man hier leben soll. Es ist auch nicht schön,« fuhr er seufzend fort. »In welcher Fakultät?« »Ich weiß nicht, ich bin noch nicht entschlossen.« »Überlege Dir das wohl, ich bin hier schon ein Jahr, und darum kenne ich alles … Viele bedauern es, daß sie ihre Wahl übereilt haben, aber was ist zu machen? Umzukehren, dazu ist es zu spät, vorwärtsgehen – dazu fehlen die Kräfte. Es ist leichter eine Dummheit zu machen als sie wieder gut zu machen. Morgen werde ich Dich in die Universität einführen. Inzwischen, wenn Du noch keine Wohnung hast, lasse Deine Sachen zu mir bringen. Ich wohne nicht weit von hier … Fange bei mir an; wenn es Dir nicht mehr gefällt, so kannst Du Dir ja eine andere Wohnung suchen.« Schwarz nahm den Vorschlag Gustavs an, und nach wenigen Augenblicken traten sie in ein Studentenzimmer ein. »Nun, wir haben uns lange nicht gesehen,« fuhr Gustav fort, nachdem er den Koffer von Schwarz in die Ecke des Zimmers geschoben hatte. »Es ist schon ein Jahr her, seitdem ich das Gymnasium verließ, und ein Jahr ist viel Zeit. Was hast Du in diesem Jahre gemacht?« »Ich saß zu Hause bei meinem Vater. Er wollte nicht, daß ich zur Universität gehe.« »Nun, warum nicht?« »Ohne besonderen Grund. Er war ein guter Mann, aber einfach und ungebildet … ein Grobschmied.« »Nun und jetzt? Hat er eingewilligt?« »Nein, er ist gestorben.« »Das hat er gut gemacht,« sagte Gustav hustend. »Das verdammte Asthma quält mich schon ein halbes Jahr lang. Du wunderst Dich wahrscheinlich darüber. Nun, Du wirst auch anfangen zu husten, wenn Du bei den Büchern sitzest wie ich. So geht's alle Tage, keinen Augenblick Ruhe. Ja, und Kummer habe ich auch erlebt. Ich habe mit ihm gekämpft und mich mit ihm herumgebissen wie ein Hund mit einem anderen. Hast Du Geld?« »Ich habe zweitausend Rubel. Nach dem Tode meines Vaters habe ich alles verkauft.« »Nun, das wird für Dich reichen. Mir geht's schlecht … Verdammtes Asthma … und dabei soll man studieren … Nur abends etwas Erholung … Den Tag über in den Lektionen, nachts bei der Arbeit … man kann sich niemals ausschlafen. Du wirst in unseren Klub eintreten, dann wirst Du sehen, was eine Universität bedeutet. Noch heute führe ich Dich in unseren Klub ein, oder richtiger gesagt, in unsere Kneipe, und mache Dich mit meinen Komilitonen bekannt.« Während dieses Gespräches bewegte sich Gustav im Zimmer umher, hustete stark und blickte zerstreut in alle Ecken. Wenn man seine gebeugten Schultern, sein hageres Gesicht mit den langen Haaren bemerkte, konnte man dies für die Folgen eines unordentlichen Lebens halten, aber die Stöße von Büchern, vollgeschriebenen Papieren und die ganze Einrichtung des Zimmers zeigten, daß der Bewohner desselben zu der Art von Nachtvögeln gehörte, welche über den Büchern gebückt sitzen und sterben mit dem Gedanken, ob ein gewisser Buchstabe einen Accent erhält oder nicht. Ungeachtet des wenig einladenden Aussehens dieses Zimmers atmete Schwarz die Atmosphäre desselben mit voller Brust ein. Für ihn war das alles eine neue, besondere Welt. »Heute wirst Du mit vielen von den Unsrigen bekannt werden,« fuhr Gustav fort, indem er unter dem Bett einen kleinen Samowar mit einem Fuß hervorzog und auf den Tisch stellte. Um das Gleichgewicht herzustellen, stellte er einen zerschlagenen Topf darunter. »Aber Du mußt Dich nicht wundern über das, was Du siehst,« fuhr er fort, indem er Wasser eingoß und Kohlen in den Samowar warf, »es sind lauter Tollköpfe. Aber mit der Zeit, wenn Du Dich umgesehen hast, wirst Du sehen, daß es auch hier nicht wenig Dummköpfe giebt, außer diesen aber auch kluge Leute … Obgleich unser Leben ein wenig künstlerhaft wild ist, schreitet es doch mit Riesenschritten vorwärts. Du wirst nicht wenig Originale finden, solche von einer lächerlichen, einfältigen Farblosigkeit, in manchen Köpfen helles Licht, in anderen finstere Nacht.« Ein kurzes Schweigen trat ein, währenddessen Gustav den Samowar anblies. Es dämmerte bereits. Während Gustav blies, verstärkte sich der Feuerschein vom Samowar und erleuchtete das Dunkel im Zimmer. Endlich fing das Wasser im Samowar laut zu rauschen an. Gustav zündete eine Kerze an. »Der Thee ist fertig; wir wollen trinken, und dann gehe ich eine Stunde geben. Trinke Thee und lege Dich schlafen bis ich zurückkomme. Du mußt auch Stunden geben, wenn Du Dein Kapital ausgegeben hast … Es ist langweilig, aber was soll man machen? Das ist die unangenehmste Seite des Studentenlebens, aber es ist überflüssig, schon jetzt davon zu sprechen. Unsere eigene kleine Welt und die Welt, mit der wir in Berührung kommen – das sind zwei verschiedene Welten. Wir sind nicht beliebt und werden nicht ausgenommen. Wir streiten uns mit allen und zu Hause unter uns. Ein schweres Leben! Wenn man krank wird, so reicht uns niemand eine hilfreiche Hand, außer die Genossen. Das ist einmal unser Schicksal, und es ist auch nicht zu verwundern, man liebt uns nicht, weil wir nicht Komödie zu spielen verstehen und die Dinge beim rechten Namen nennen.« »Mir scheint, Du siehst alles zu düster an,« bemerkte Schwarz. »Düster oder nicht,« erwiderte Gustav hitzig, »davon wirst Du Dich selbst überzeugen; ich sage nur, daß auch Du nicht auf Rosen schlummern wirst. Die Jugend hat ihre Rechte und Forderungen. Wegen dieser Rechte und Forderungen hat jeder das Recht, Dir ins Gesicht zu lachen und Dich einen exaltierten Menschen zu nennen. Natürlich ist es Dir gleichgültig, wie man Dich nennt, aber wenn Dich etwas brennt oder etwas schmerzt … übrigens, das wirst Du selbst sehen … Nun trinke Thee und schlafe; in zwei Stunden komme ich zurück, bleibe gesund so lange.« Im nächsten Augenblick hörte man die schweren Schritte und das Husten Gustavs auf der Treppe. Schwarz blieb allein. Die Worte Gustavs machten auf Schwarz einen unangenehmen Eindruck, er hatte ihn ganz anders gekannt. Heute erklangen in seiner Stimme Enttäuschung, Verbitterung und Kummer. Früher war er physisch und moralisch gesund gewesen, jetzt aber atmete er schwer; in seinen Gesprächen und Bewegungen äußerte sich eine ungewöhnliche Reizbarkeit. »Hat ihn das Leben so angegriffen?« fragte sich der junge Mann, »man muß kämpfen und gegen den Strom schwimmen, das mag sein, aber diesem armen Kerl ging es augenscheinlich über die Kräfte, und darum kann er jetzt nicht von der Stelle kommen. Das darf nicht sein, hier muß man siegen. Aber es ist eine schlimme Geschichte. Augenscheinlich verwöhnt uns das Schicksal nicht und legt uns seine schwere Hand auf … aber mir scheint, Gustav ist ein Misanthrop und hat schon seine Flügelchen verbrannt … aber wie es scheint, ist er nicht müßig und kommt immer noch vorwärts; vielleicht ist diese Misanthropie nur eine Schutzwand,...