Siemon-Netto | Luther – Lehrmeister des Widerstands | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 234 Seiten

Siemon-Netto Luther – Lehrmeister des Widerstands

Mit einem Vorwort von Peter L. Berger
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-03848-450-9
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit einem Vorwort von Peter L. Berger

E-Book, Deutsch, 234 Seiten

ISBN: 978-3-03848-450-9
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie Luther Hitlers Gegnern den Rücken stärkte

Ausgerechnet zum 500-jährigen Reformationsjubiläum suhlen sich Theologen und Publizisten in dem Klischee, dass Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre die Deutschen zu obrigkeitsduseligen Duckmäusern gemacht habe. Damit sei er 400 Jahre nach seinem Tod zum Wegbereiter Hitlers geworden.

In «Luther – Lehrmeister des Widerstands» weist Uwe Siemon-Netto mit historischen, theologischen und religionssoziologischen Argumenten das genaue Gegenteil nach. Er erinnert an Luthers fast vergessene Widerstandslehre. Und er zeigt, wie sie Hitlers Gegnern den Rücken gestärkt hat, darunter Dietrich Bonhoeffer, Carl Goerdeler und den führenden Oppositionellen, die 1989 das DDR-Regime zu Fall brachten.

Siemon-Netto Luther – Lehrmeister des Widerstands jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Einführung
Ein halbes Jahrtausend ist es nun her, seit Martin Luther mit der Reformation die Neuzeit eingeläutet hat. Dies geschah mitten in Deutschland. Luther machte Christen klar, dass sie allein aus Gnade durch ihren Glauben an Jesu Heilstat am Kreuz erlöst seien, nun aber die Ärmel hochkrempeln sollten, um sich in der sündhaften Welt zu engagieren. Der urlutherische Gedanke, dass der Christ berufen ist, in allen seinen säkularen Tätigkeiten – sei's als Staatschef oder Oppositionsführer, als Mutter, Grundschüler, Lehrer, Soldat oder Wähler – dem Nächsten in Liebe zu dienen, könnte für unsere konfuse und gefährliche Zeit nicht aktueller sein. Luther leistete damit einen geistlichen Befreiungsschlag, zu dessen Früchten auch die Demokratie gehörte. Man möchte meinen, dass gerade die Deutschen seiner jetzt fröhlich und dankbar gedenken sollten. Was aber lesen wir am Vorabend des großen Reformationsjubiläums – zum Beispiel in einer großen deutschen Zeitung? «Luther ist kein Aufklärer.»1 Der Verfasser dieser Überflüssigkeit übersah offensichtlich, dass der Reformator (†1546) schon 238 Jahre tot war, bevor Immanuel Kants bahnbrechendes Werk Was ist Aufklärung? 1784 in Druck ging. Wir lesen weiter: «Luther predigte einen eliminatorischen Antisemitismus.» Hier übersah selbiger Kommentator, dass der Antisemitismus eine Form von Rassismus ist. Rassismus war aber ein zur Reformationszeit unbekanntes Vorurteil, das erst in der Aufklärungszeit einsetzte. Luther machte zwar im Alter aus religiösen Gründen verwerfliche antijüdische Aussagen, die bereits seinen Zeitgenossen peinlich waren und insbesondere den heftigen Widerspruch Andreas Osianders (1498–1552) hervorriefen, eines fränkischen Titanen der lutherischen Reformation. Aber ein Vorläufer der Schoa, also der Liquidation einer ganzen «Rasse», war der Reformator nicht. (Auf Luthers Schmähschriften, diesen schwarzen Fleck in der Geschichte meiner Konfession, werde ich in diesem Buch selbstverständlich eingehen. So viel sei jedoch gleich gesagt: Seine Schimpfkanonaden gegen die Juden waren genau das: verwerfliche Ausfälle eines fehlbaren Menschen, aber keine Doktrin, die etwa in den lutherischen Bekenntnisschriften nachfolgenden Generationen von Lutheranern weitergereicht worden wäre.) Weiter heißt es: «Luther begründet die Autoritätshörigkeit des Protestantismus.» Ah, hier sind wir nun bei dem Klischee, das sich seit Beginn des Zweiten Weltkriegs in vielen vermeintlich gelehrten Köpfen eingenistet hat: Der Fürstenknecht Luther, Ahnherr Adolf Hitlers, habe die Deutschen zu obrigkeitsduseligen Duckmäusern gemacht und somit fast vierhundert Jahre nach seinem Tod einem Völkermord den Weg geebnet. Um diesen Vorwurf, der implizit alle Deutschen seit dem 16. Jahrhundert zu Komplizen Hitlers macht, geht es mir in erster Linie in diesem Buch, dem meine Doktorarbeit zu Grunde liegt. Ich hatte sie 1992 an der renommierten Boston University in den USA vorgelegt. In den USA werden Dissertationen immer von drei Gelehrten bewertet, dem Doktorvater und zwei weiteren Gutachtern. In meinem Fall hatten zwei Mitglieder dieses Dreiergremiums in ihren jungen Jahren wegen ihrer jüdischen Abstammung aus Wien flüchten müssen, und der Dritte war schwedischer Provenienz. Ich erwähne dies nur, um böswilligen Unterstellungen vorzubeugen: Wenn jeder von ihnen dieser Schrift die Note «A» (Sehr gut) erteilt hat, dann gewiss nicht, weil er einem Sympathisanten oder Apologeten des Nationalsozialismus den Weg zum höchsten akademischen Grad erleichtern wollte, den man in den USA erwerben kann. Ich wurde in Boston in der Doppeldisziplin Theologie und Religionssoziologie promoviert. Aus der Sicht dieser beiden Fachgebiete – und gestützt auf historische Recherchen – nehme ich hier nun das «Luther-Klischee», wie der ursprüngliche Titel meiner Promotionsarbeit lautete, unter die Lupe. Meine geneigten Leser mögen sich bitte nicht von diesem Hinweis abschrecken lassen. Ich bin zu dem Zeitpunkt, an dem ich dies schreibe, seit fast sechzig Jahren als Journalist bemüht, auch komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen, also ohne akademischen Jargon, aber auch ohne Banalitäten. Drei persönliche Gründe haben mich zu dieser Untersuchung bewogen, die vom Klischeedenken, von Luther, vom Dritten Reich und von Carl Friedrich Goerdeler, aber auch von der unblutigen Revolution in Leipzig im Oktober 1989 handelt: 1. Ich bin ein Journalist. Klischeedenken gehört zu unserem Geschäft. Ein Journalist kann Stereotype gar nicht vermeiden. Er empfängt sie, ist ihr Urheber, und leider verbreitet er sie auch. Wenn er gewissenhaft ist, wird er sich bemühen herauszufinden, was sich hinter einem Klischee verbirgt; er wird also versuchen, es ins Lot zu rücken – in der Fachsprache wird dies «relativieren» genannt – und damit ad absurdum zu führen. 2. Ich bin ein Lutheraner. Ich wuchs mit Bach-Motetten und -Kantaten auf – mit vertonter lutherischer Theologie. Der wichtigste Mensch in meiner Kindheit war meine streng lutherische Großmutter, Clara Netto (siehe Abb. 1). Sie erzog mich zum Christen. Sie impfte mir ein, für meine Überzeugungen und meinen Glauben mutig einzustehen und mich vor falschen Propheten zu hüten – vor «Lumichen», wie Clara Netto sie auf Sächsisch nannte. «Lumiche» waren für sie zum Beispiel die «Deutschen Christen» in der sächsischen Landeskirche. In Clara Nettos Augen huldigten sie einem falschen Geist: dem Zeitgeist. Für moderne Ohren dürfte dies vertraut wirken, denn abermals werfen Strenggläubige einem großen Teil der evangelischen Funktionsträger vor, einem anderen als dem Heiligen Geist zu dienen. Was meine Großmutter anbelangt, so ging sie aus Protest gegen die «Lumiche» auf sächsischen Kanzeln sonntags fast nie zum Gottesdienst; sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, zündete eine Kerze an, hielt ihr Kruzifix in der Rechten, las ihre Losungen, die Bibel und das sächsische Gesangbuch und summte mit unvollkommener Musikalität einen Choral. Dann bat sie Gott um ein Ende der geistigen Dunkelheit, die unser Land befallen hatte. Clara Netto, im Dreikaiserjahr 1888 geboren, kam mir in meiner Kindheit immer wie eine Dame des 19. Jahrhunderts vor: So kleidete sie sich im Stil des sächsischen Landadels. Jeden Abend beim Voralarm legte sie ihr bestes Kleid an, weil sie ja, wie sie erklärte, in dieser Nacht ihrem Herrn begegnen könne. Sie war fromm – ließ aber keine Schnoddrigkeit aus. Dies ist eine spezifisch sächsische Eigenschaft, die auch Luther auszeichnete, auf Nicht-Sachsen aber zuweilen befremdlich wirkt. Omi Netto war zum Beispiel durchaus fähig, mich während der Luftangriffe zwischen zwei Gebeten auf einen unbekannten Glatzkopf im Luftschutzkeller aufmerksam zu machen und mir ins Ohr zu flüstern: «Wer früh bürstet, braucht später nicht zu kämmen.» Wir grinsten und beteten weiter. Einmal hatten bei uns NSDAP-Funktionäre Zuflucht gesucht. Sie trugen braune Uniformen mit viel Lametta, weswegen wir sie Goldfasane nannten. Sie waren für deutsche Männer mitten im Krieg ungewöhnlich feist und obendrein feige. Wenn um uns herum Luftminen detonierten und Feuer und Rauch von außen in den Keller drangen, zitterten sie und schrien auf. Derlei «unchristliche» Gefühlsausbrüche hätte Clara Netto ihrer Familie niemals durchgehen lassen. So senkte sie ihr Lorgnon, fasste die schweißtriefenden Goldfasane fest ins Auge und sagte kühl: «Also meine Herren! Ach nein! Herren sind Sie ja nun nicht! Männer also! Na, da bin ich mir auch nicht so sicher. Aber was immer Sie sind: Reißen Sie sich zusammen! Das ist Ihr Krieg, nicht unserer. Wir haben nichts gegen die Engländer, Amerikaner, Franzosen oder Juden. Löffeln Sie gefälligst die Suppe aus, die Sie sich selbst eingebrockt haben. Sie sind für meinen Enkel hier schlechte Vorbilder!» Am nächsten Morgen standen zwei Gestapo-Beamte in langen Ledermänteln in ihrer Wohnung und warfen ihr vor, zersetzende Aussagen gemacht zu haben. «Zersetzend? Was Sie nicht sagen!» «Sie sollen behauptet haben, dies sei nicht Ihr Krieg.» «Das stimmt ja auch», bestätigte meine Großmutter. «Wir haben euch nicht gewählt. Wir sind Monarchisten.» Dann streckte sie ihre beiden Arme nach vorn und sagte: «Wenn Ihnen das nicht passt, dann verhaften Sie mich doch! Verhaften Sie die Witwe eines deutschen Offiziers!» Da trollten sich die beiden Gestapomänner, aber Omi setzte zum Abschied noch einen drauf: «… und wieso sind Ihre Goldfasane eigentlich so fett? Schicken Sie diese Leute doch an die Ostfront. Da werden sie schnell abnehmen.» Omi Netto war der Inbegriff einer lutherischen Christin: voller Gottvertrauen und wortgewaltig, das ganze Gegenteil jener Duckmäuser, die Lutheraner laut übler Nachrede sein sollen. Eine Zeit lang wurde ich evakuiert, und zwar zu einem Landpfarrer. Dieser entpuppte sich als ein «Deutscher Christ», der oft die Hakenkreuzfahne an seinem Pfarrhaus aufzog und mich mit Ohrfeigen für jedes Fremdwort bestrafte: Sauce, Serviette, Etage, Trottoir. Diese «welschen Begriffe» wünschte der Pfarrer, ganz im Sinne des «Führers», in seinem Haus durch deutsche Vokabeln zu ersetzen: mit Tunke, Mundtuch, Stockwerk und Bürgersteig. Ich erfuhr aber auch schon als Kind, dass dieser Mann für die Christen im Dorf nicht repräsentativ war. Er wurde in Wahrheit verachtet, angefangen vom Organisten, der zugleich mein Schulmeister war und auch im Unterricht jegliche Verbeugung vor dem nationalsozialistischen Zeitgeist unterließ; auch dies gab es in...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.