E-Book, Deutsch, 80 Seiten
Siefener / Norten / Fieberg DAEDALOS 16
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95765-700-8
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Story-Reader für Phantastik
E-Book, Deutsch, 80 Seiten
ISBN: 978-3-95765-700-8
Verlag: p.machinery
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»daedalos. Story Reader für Phantastik« wurde von Hubert Katzmarz und Michael Siefener in den Jahren 1994-2002 herausgegeben. Nach zwanzigjähriger Pause knüpfen die neuen Herausgeber an alte Traditionen an und lassen das legendär gewordene Magazin wieder aufleben. Mit aktuellen sowie fast vergessenen Texten, die klassischen Erzählweisen verpflichtet sind und beste Unterhaltung versprechen. Und nach dem Erfolg der ersten neuen Ausgaben ist es Zeit für die nächste Runde:
Der Inhalt:
Friedrich zu Weyterstadt-Hohenthal: Feuersbrunst
Horst-Dieter Radke: Sei folgsam
Julia Mostowa: Das geheime Trimoire
Ellen Norten: Haddock
Alexa Rudolph: Der Himmel bleibt niemals leer
Nikolaus Schwarz: Licht aus, sie kommen!
Alexander Klymchuk: Schmerzgrenze
Björn Helbig: Die Strafe
Andreas Müller: Lichtspielhausträume
Manfred Kyber: Das Gerippe
Dr. Michael Siefener, geboren 1961 in Köln, studierte nach dem Abitur Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Promotion über 'Hexerei im Spiegel der Rechtstheorie.' Seit 1992 freier Schriftsteller und Übersetzer. Lebt abwechselnd in Hamburg und Manderscheid/Eifel.
Andreas Fieberg (* 1964) arbeitet hauptberuflich als Mediengestalter und übt daneben verschiedene Herausgeber- und Lektoratstätigkeiten aus, gelegentlich Übersetzungen. Einige seiner Kurzgeschichten waren für den Kurd-Laßwitz-Preis und den SFCD-Literaturpreis nominiert, mit letzterem wurde »Der Fall des Astronauten« ausgezeichnet. Von ihm erschienen: »Der Traumprojektor. Skurrile Geschichten«, vhk, und »Abschied von Bleiwenheim« (als Hrsg.), eine Anthologie in memoriam Hubert Katzmarz, und als Fortsetzung »Willkommen in Bleiwenheim« (zusammen mit Ellen Nor ten), beide p.machinery. Er zeichnet für die Reihe »Gegen unendlich. Phantastische Geschichten« verantwortlich, die in unregelmäßigen Abständen fein erzählte Phantastik abseits des Herkömmlichen bringt. Außerdem ist er gemeinsam mit Michael Siefener und Ellen Norten Herausgeber des »daedalos. Der Story-Reader für Phantastik«.
Ellen Norten, geboren 1957 in Gelsenkirchen ist promovierte Biologin und Wissenschaftsjournalistin. Als freie Mitarbeiterin arbeitete sie zunächst bei verschiedenen Hörfunksendern, danach folgte eine mehrjährige Mitarbeit bei der Fernsehsendung Hobbythek, auch vor der Kamera. In dieser Zeit entstanden ein Dutzend Sachbücher und Ratgeber. Anschließend war Ellen Norten Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk in München. Seit 2010 tourt sie zusammen mit ihrem Mann mit dem Wohnmobil durch die Welt, schreibt Reisebücher und Kurzgeschichten, sowie Rezensionen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Julia Mostowa: Das geheime trimoire
Jekaterinoslaw (Ukraine), XIX. Jahrhundert Nastja erwachte mitten in der Nacht. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass jemand sie anstarrte. Das Wetter draußen war stürmisch, gegen das Fenster prasselte Regen. Im dunklen Zimmer konnte sie nichts sehen. Dem Mädchen kam es vor, als stünde eine große Gestalt direkt vor ihr. Nastja schauderte vor dem Donnergrollen. Der Blitz enthüllte, worüber die Dunkelheit schwieg: Vor sich sah das Mädchen einen schlanken Mann in einem langen Mantel. Über seine Schultern fiel dichtes, lockiges Haar. Ein weiterer Blitz zuckte, und Nastja sah sein Gesicht. »Wer sind Sie?« Angst erstarrte in ihrer Stimme. Das Zimmer war wieder von der blinden Dunkelheit erfüllt. Den Lärm des Unwetters durchdrang ein Rabenschrei. Nastja erzitterte. Über sich hörte sie ein Rascheln von Flügeln. Als der Blitz das Zimmer wieder erleuchtete, befand sich der Mann nicht mehr darin. Das Mädchen ging zum Fenster und bemerkte einen schwarzen Streifen auf dem Boden. Es war eine Rabenfeder. Am Morgen eilte Nastja in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Mutter lag im Bett und schien noch schwächer als gestern. »Wie geht es Ihnen, Mama?«, fragte das Mädchen und setzte sich neben sie. Die Frau legte ihre kraftlose Hand auf Nastjas Hand. »Wann kommt dein Vater endlich von seiner Geschäftsreise zurück …? Ich fürchte, ich werde ihn nicht mehr sehen.« Sie bedeckte ihren Mund mit einem Tuch und hustete. Auf dem Gewebe erschien ein blutiger Fleck. »Mama, er kommt schon bald zurück. Warten Sie nur! Es wird Ihnen bald besser gehen.« Jemand klingelte an der Tür. Nastja verließ das Schlafzimmer und blickte in den Flur. Der Diener Pawlo öffnete die Haustür. Das Mädchen hielt den Atem an. Das Haus betrat ein schwarzhaariger Mann im langen Mantel. Er war es, den sie in der Nacht gesehen hatte! »Ich kam in der Nähe vorbei und beschloss, es persönlich abzugeben«, sagte der Mann und überreichte Pawlo etwas. Der Diener dankte und gab ihm Geld. Als die Tür geschlossen wurde, näherte sich Nastja dem Diener. In seinen Händen hielt er eine Glasflasche mit einer grünen Flüssigkeit darin. »Wer war das?« »Oleksandr Tschebrezkyj. Er kocht Heiltränke für Ihre Mutter.« »Ich habe ihn noch nie bei uns gesehen.« »Ja, für gewöhnlich gibt er sie seinem Lakaien mit.« »Und heute hat er beschlossen, persönlich zu kommen …« Pawlo bemerkte, wie Nastja misstrauisch auf die Flasche blickte. »Ihre Mutter sagt, dass dieses Heilmittel ihr sehr gut hilft.« Das Mädchen schwieg und dachte an den seltsamen Fremden. »Mit Ihrer Erlaubnis muss ich jetzt weiterarbeiten«, sagte Pawlo. »Ja, natürlich …« Nastja wäre die ganze Nacht bei ihr geblieben, wenn sie gewusst hätte, dass ihrer Mutter kein Morgen mehr beschieden war. Als die Sonne aufging, atmete die Mutter nicht mehr. Neben dem Bett der Gestorbenen fand Nastja eine Rabenfeder. Der Geruch von feuchter Erde und verwelkten Blumen umfing sie. Der Vater war nicht bei ihr. Das Mädchen blieb ganz allein in der Menschenmenge in Schwarz. Der Vater schrieb schon seit einiger Zeit keine Briefe mehr. Warum ist er so lange auf Geschäftsreise?, dachte Nastja und schluckte ihre Tränen herunter. Das Mädchen kannte niemanden unter denen, die gekommen waren, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Aber eine Person hatte sie schon einmal gesehen. Er war es, der Fremde mit den Heiltränken! Nastja sah, dass der Mann auf sie zukam. Sie wurde von Wut und Hass überwältigt. »Mein herzliches Beileid, Fräulein Walkonska«, sagte er zu dem Mädchen und küsste ihre mit schwarzer Seide bedeckte Hand. »Ich möchte mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Olexandr Tschebrezkyj. Ich mache …« »Heilmittel für meine Mutter. Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Nastja scharf und sah ihm ins Gesicht. In seinen samtschwarzen Augen bemerkte sie etwas Geheimnisvolles und Bezauberndes. Er ekelte sie nicht mehr an. Sein helles Gesicht mit den feinen Zügen verriet eher Adel als Tücke. Nastja lächelte schwach. »Es freut mich, dass Sie gekommen sind, um meine Mutter zu ehren.« »Ja, es ist mir eine Ehre gewesen, diese Frau zu kennen, und nun ist es mir eine Ehre, mit Ihnen zu sprechen. Was für ein unglaublicher Schicksalsschlag, beide Eltern auf einmal zu verlieren!« »Entschuldigung, was haben Sie gerade gesagt?« »Ihr Vater … Haben Sie es etwa noch nicht erfahren?« »Was genau?« »Die Stille hat ihn bedeckt …« »Woher wissen Sie davon?« »Fräulein Walkonska, es tut mir wirklich leid. Ich konnte Ihrer Mutter nicht helfen, aber ich hoffe, hilfreich für Sie zu sein.« Was für Heilmittel hast du ihr gegeben, du Schurke?, dachte Nastja wütend, aber stattdessen sagte sie: »Vielen Dank, Herr Tschebrezkyj! Ihr Besuch ist eine große Unterstützung für mich.« Ein paar Tage später erhielt Nastja die traurige Nachricht: Ihr Vater wurde seit drei Wochen vermisst. Das letzte Mal hatte man seine Kutsche in der Nähe von Jekaterinoslaw gesehen. Woher wusste Herr Tschebrezkyj davon? Ist er darin verwickelt?, dachte Nastja. Ihr Herz wurde wieder von Hass überwältigt. Aber als sie sich an seine Augen erinnerte, wurde ihre Seele weicher. Nein, er könnte so etwas nicht tun. Wahrscheinlich hat uns Pawlo diese schreckliche Nachricht verheimlicht, um mich und meine kranke Mutter nicht noch mehr zu betrüben. Die Tage vergingen und mit ihnen ging das Geld. Der Gutshof von Walkonska verfiel. Nastja musste ihren Diener entlassen. Düstere Melancholie umarmte sie mit erdrückenden Armen. Nastja zog sich ganz in sich selbst zurück und verließ das große Haus gar nicht mehr. Nur ein einziger Gedanke verhinderte, dass ihre Seele völlig versteinerte. Es war der Gedanke an Oleksandr Tschebrezkyj. Aber Nastja wusste nicht, wo sie ihn finden konnte. Doch setzte die Türglocke ihrer Einsamkeit ein Ende. Die Dämmerung hatte sich gerade über die Stadt gebreitet, und Nastja begann, die für sie unangenehmste Aufgabe zu erledigen: das Abendessen zu kochen. Sie hatte gerade Feuerholz in der Küche gefunden, als jemand an der Tür klingelte. Ein so später und unerwarteter Besuch beunruhigte sie. Nastja bewaffnete sich mit einem Feuerholz und ging zur Haustür. Es klingelte erneut. Was für eine Frechheit!, dachte das Mädchen empört. Aber als Nastja die Tür öffnete, änderte sich ihre Stimmung sogleich. Vor ihr stand Oleksandr Tschebrezkyj. »Guten Abend, Fräulein Walkonska! Ich entschuldige mich für meinen unangekündigten Besuch«, sagte er sanft. »Guten Abend! Keine Sorge, kommen Sie herein«, antwortete Nastja und verbarg ihre Freude. Er trat ein und sah sich um: Von innen wirkte das Haus noch einsamer und vergessener. »Ich habe Sie schon so lange nicht mehr in der Stadt gesehen und mir Sorgen gemacht …« Er verstummte für eine Sekunde. »Sie freuen sich offenbar nicht, mich zu sehen?« Oleksandr zeigte auf den kleinen Holzscheit in Nastjas Hand. Es wurde ihr peinlich. »Ich will gerade zu Abend essen. Möchten Sie mir Gesellschaft leisten?« Das Mädchen lächelte kokett. Die Flammen loderten hell auf, als er das letzte Feuerholz hineinwarf. »Ich liebe das Feuer!«, sagte Oleksandr und blickte fasziniert in die Flammen. »Und wo ist das Abendessen? Was muss ich in den Ofen stellen?«, fragte er Nastja. »Nun … Wissen Sie …«, murmelte das Mädchen verwirrt. »Na ja, wir werden ein wenig Magie anwenden«, lächelte Oleksandr. Nach zwanzig Minuten kam Oleksandr ins Speisezimmer, wo Nastja ungeduldig auf ihn wartete. Er stellte zwei Schüsseln Borschtsch auf den Tisch. »So schnell!«, sagte Nastja überrascht. »Guten Appetit!« »Gleichfalls«, antwortete das Mädchen und probierte die Suppe. »Oh, sehr lecker! Sie sind ein unübertroffener Koch!« »Danke, ich liebe es, zu kochen.« »Das hätte ich nie gedacht!« »Nun, ich koche Heilmittel, und gewissermaßen ist das Essen auch ein Heilmittel … Es kann aber auch Gift sein …«, lächelte Oleksandr. Nastja erstarrte, bevor der Löffel mit Suppe ihren Mund erreicht hatte. Ihr Schock brachte Oleksandr zum Lachen. »Oh, es tut mir leid für diesen Witz!«, sagte er. »Nein, entschuldigen Sie! Es ist einfach alles sehr unerwartet …« »Unerwartet … Wir sind uns fast fremd, aber es scheint mir, dass ich Ihre Seele kenne …« Sie ließ ihn nicht nur in ihr Zuhause, sondern auch in ihr Herz. Schon bald vergaß Nastja ihre Traurigkeit. Zusammen mit Tschebrezkyj besuchte sie Bälle, Soireen und Theater. Sie fühlte sich geschmeichelt, als sie bemerkte, wie andere Damen Oleksandr ansahen. Nastja machte sich keine Gedanken mehr darüber, dass sie eine feurige Affäre mit diesem Mann begonnen hatte, der so viel älter und reifer war als sie. Glückliche Fügungen führten schnell zur Hochzeit. Eine prächtig geschmückte Kutsche fuhr bei Tschebrezkyjs Haus vor. Ein elegant gekleideter Oleksandr stieg aus der Kutsche und reichte seiner jungen Ehefrau die Hand. Sie war umwerfend schön. Er hob sie hoch und trug sie ins Haus. Die Gäste, die draußen standen, bewarfen das Brautpaar mit weißen Rosenblättern. Von außen kam Nastja das Haus klein und unscheinbar vor, daher war sie sehr überrascht, als sie sich im Inneren befand. Inmitten eines riesigen Ballsaals voller Gäste setzte Oleksandr sie ab. Dem Mädchen...