E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Sichtermann / Rose Der blaue Vorhang
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95510-266-1
Verlag: Osburg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Isadora Duncan. Ihr Leben. Ihr Tanz
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-95510-266-1
Verlag: Osburg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Barbara Sichtermann, geboren 1943, studierte in Berlin Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Seit 1978 ist sie freie Publizistin und Schriftstellerin. Sowohl in Essays als auch in ihren Sachbuchveröffentlichungen schreibt sie auf sehr eigenwillige und undogmatische Weise u. a. über das Thema Frauenemanzipation. Sie war 25 Jahre lang Jurorin des Grimme Preises und von 2010 bis 2012 Jurorin des Hauptstadtkulturfonds. 2015 erhielt Barbara Sichtermann den Theodor-Wolff-Preis für ihr Lebenswerk. Bei Osburg erschien 'Agatha Christie. Eine Biografie' (2020). Ingo Rose, geboren 1963 in Wolfsburg, lebt seit fast vierzig Jahren in Berlin und schreibt seit zwanzig Jahren Bücher mit seiner Lebensgefährtin Barbara Sichtermann. 'Der blaue Vorhang' ist seine zweite Romanbiografie. Außerdem arbeitet er in der Erwachsenenbildung.
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»Die Kunst Liebe. Liebe zur Wahrheit. Zur Schönheit. Und sogar zum Publikum.«
»Das meine ich nicht. Ich meine die Liebe Julias zu Romeo. Oder Eurydikes zu Orpheus. Die Wollust. Die Seligkeit. Kann mich all das wegreißen von der Bühne, von meinem blauen Vorhang? Sag mir, muss ich das fürchten?«
Die arme Mrs Duncan wusste nicht, was sie antworten sollte. Natürlich gab es diese Gefahr. Aber es wäre für sie selbst und für die gesamte Familie eine Katastrophe, wenn Isadora ausfiele. »Du stehst doch erst am Anfang deines Weges«, sagte sie leise, »geh ihn weiter.« In Isadoras Memoiren finden sich diese Sätze: Damals in Budapest hat der Kampf begonnen.
Elizabeth kam an, die Frauen der Familie waren wiedervereint und wussten alle drei nicht, wie sie es so lange ohne einander ausgehalten hatten. Für Isadora aber gab es jetzt noch ein Magnetfeld außerhalb der Familie, das sie stärker anzog, als sie selbst es wollte; doch wenn sie in Oscar Beregis Armen lag, war ihr alles andere egal. Sie war rettungslos verliebt, er war es ebenso, aber abends mussten sie beide auftreten und durften keine Einsätze verpatzen. Beregi war ein offener Charakter und ein Mann der Tat, er fand es nur richtig und natürlich, dass er und seine amerikanische Julia heiraten sollten.
»Du weißt es, ich habe es dir gesagt – für mich kommt eine Ehe keineswegs in Frage«, sagte Isadora mit fester Stimme.
Er breitete die Arme aus. »Dann lass es eine wilde Ehe sein. Hauptsache, wir sind zusammen.«
»Aber – wie stellst du dir unser Leben vor? Ich werde nächste Woche auf Tournee gehen, und ich denke nicht daran, die Gastspiele abzusagen. Und du … du probst den Marc Anton …«
»Richtig. Und du kannst diese Rolle mit mir üben. Dein Urteil bedeutet mir alles. Was meinst du – wäre denn die Rolle als Frau an meiner Seite für dich so gänzlich unannehmbar? Du sitzt abends in der Loge und sagst mir in der Nacht bei einem Glas Tokajer, was ich noch ändern sollte?«
Und ehe Isadora antworten konnte: ›Wie wär’s, wenn des Abends auf der Bühne stünde und zuschautest‹, hatte Beregi sie um die Taille gefasst und hinausgeleitet, um mit ihr eine Kutschfahrt anzutreten. Es ging zu einem Haus, in dem Oscar eine Wohnung für sich und seine Liebste mieten wollte. »Wie findest du es hier? Für den Anfang würde es genügen. Die Küche ist ganz neu eingerichtet.« Isadora stöhnte. Er küsste sie, und sie sagte:
»Ich möchte jetzt sofort mit dir ins Bett.«
»Einverstanden. Aber nur, wenn du mich heiratest.«
Nach und nach begriff Beregi, dass seine Geliebte es ernst meinte, wenn sie sagte, ihre Kunst stünde für sie an erster Stelle und sie wolle niemals eine Ehe eingehen. Er fand sie auf der Bühne ja auch so überwältigend, dass er ihr diese Einstellung zugestand. Andererseits hielt er sich selbst für die beste Partie der Welt, und deshalb hoffte er immer noch, dass sie es sich überlegen würde. Das hoffte er auch um seiner selbst willen. Denn schließlich: Hatte er jemals eine so leidenschaftliche Geliebte besessen? Die dazu noch unberührt in seinen Armen angekommen war? Eine Frau, die so wundersame Worte zu sagen wusste über seine Haare, seinen Mund, seine Stimme und sogar über seine Füße? Nein, das hatte er nicht. Einstweilen aber war sie unterwegs nach Franzensbad, und Oscar vertiefte sich in den Marc Anton.
Für Isadora war die Tour durch die Bäder eine Qual. Sie war so erfüllt von Sehnsucht nach Oscar und so unglücklich über seine Abwesenheit, dass sie keinen Schlaf fand und der Appetit ihr verging. Trotzdem trat sie auf und tanzte zu Gluck, Chopin und Wagner. Bald sah sie abgezehrt aus und musste ihre Tuniken enger stecken, man hätte sonst ihre schmale Gestalt in den wallenden Gewändern kaum noch wahrgenommen. Schließlich fiel sie krank aufs Lager. Glücklicherweise gab es in Franzensbad gute Ärzte. Die Mutter fütterte ihr Kind mit Rinderbrühe, Elizabeth half der Kranken bei der Wasserkur, aber es wurde nicht besser. Beregi erfuhr von ihrem Zustand und kam kurz entschlossen angereist. Er schlich sich sogar für die Nacht in ihr Krankenzimmer und sorgte so für eine nachhaltigere Therapie. Die Krankenschwester wurde wütend, als sie ihn entdeckte und warf ihn kurzerhand hinaus. Aber er blieb in der Nähe und besuchte Isadora täglich. Allmählich kam sie wieder auf die Beine. Sie liebte ihren Oscar und er sie, aber er musste wegen der Premiere des zurück nach Budapest und sie mit Mutter und Elizabeth weiter nach Karlsbad. Sie bemühten sich beide, dem Pathos der getrennten Liebenden Inspiration für ihre Bühnenpräsenz abzugewinnen, fühlten und wussten aber, dass es so nicht weitergehen konnte und eine Entscheidung anstand. Sie entschieden sich für die Trennung. Aber sie blieben einander gewogen und sahen sich später wieder.
Alexander Grosz übte keinerlei Druck auf seine Tänzerin aus, ganz im Gegenteil, er tröstete und besänftigte sie, wenn sie weinte, weil sie sich zu krank fühlte, um aufzutreten.
Er sagte: »Ich verstehe Sie gut, Isadora. Oscar Beregi ist ein großartiger Schauspieler und ein umwerfend schöner Mann. Wer könnte ihm widerstehen? Wäre ich eine Frau …«
Isadora putzte sich die Nase. »Schon gut, Alexander. Ich danke Ihnen für Ihre Sympathie. Aber was soll ich tun? Ich bin hin- und hergerissen. Oscar, die Bühne, der Mann, die Kunst –«
»Natürlich, das ist ein Konflikt. Aber ich denke, verzeihen Sie, auch ans Geschäft. Wir können uns noch fünf, sechs Tage ohne Auftritt leisten, dann wird es finanziell eng. Was halten Sie von München? Ich hätte da Verbindungen.« Isadora maß in Gedanken den Abstand von Budapest nach München und nickte traurig.
Ihren Trennungsschmerz verwandelte sie in Kunst. Sie ersann eine Variante der Geschichte von Iphigenie, einen Tanz, der den Abschied vom Leben am Altar des Todes darstellt. Für eine endgültige Genesung begab sie sich mit Elizabeth ins mondäne Seebad Abbazia (Opatija) auf der Halbinsel Istrien, den ersten Kurort an der österreichischen Adriaküste. Die beiden Frauen fuhren die schmale Küstenstraße auf der Suche nach einer Unterkunft rauf und runter und erregten so die Aufmerksamkeit der Leute in dem kleinen Ort, auch die des Erzherzogs Ludwig Viktor, des jüngsten Bruders vom österreichischen Kaiser. Ludwig Viktor, ein bekennender Uranier, lud die beiden kurzerhand in seine Villa im Garten des Hotels Stephanie ein, dort konnten sie wohnen. Das wiederum löste eine nicht geringe Irritation in den aristokratischen Kreisen des Kurortes aus, die sich neugierig an die Tänzerinnen wandten – doch nicht etwa aus Interesse an der Kunst, nein, die meisten wollten herausfinden, in welchem Verhältnis die Frauen zu Ludwig Viktor standen. Die Schwestern ließen es sich gut gehen, speisten ausgiebig und gingen schwimmen, natürlich nicht in dieser Reihenfolge.
Jener paradiesische Flecken Erde inspirierte Isadora Duncan zu einer wiederkehrenden Stilfigur ihrer Kunst. Denn hier in dem gemäßigten Klima wuchsen Palmen direkt vor ihrem Fenster, sie konnte sie oft beobachten.
Grosz kabelte, er habe da eine Anfrage: »Münchner Künstlerhaus. Stop. Was meinen Sie?« Von diesem Etablissement hatte Isadora gehört, es war erst vor wenigen Jahren unter dem Motto