E-Book, Deutsch, 142 Seiten
Sichtermann Johnny B. Goode im Weltraum
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-86287-226-8
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Protest, Ekstase, Provokation - 25 Jahre Rock'n'Roll
E-Book, Deutsch, 142 Seiten
ISBN: 978-3-86287-226-8
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kai Sichtermann wurde 1951 in Kiel als Sohn eines Rechtsanwalts und einer Malerin geboren. In Lübeck besuchte er eine Musikschule. 1969 zog er nach Berlin, wo er Rio Reiser kennenlernte. 1999 schrieb er zusammen mit Jens Johler und Christian Stahl die Scherben-Biografie Keine Macht für Niemand. 2002 gründete er zusammen mit Angie Olbrich das Duo Angels Blue. 2010 erschien sein zweites Buch Kultsongs & Evergreens. Zusammen mit seiner Schwester Barbara Sichtermann veröffentlichte er 2017 das Buch Das ist unser Haus - Eine Geschichte der Hausbesetzung. Mit der Formation Kai & Funky von Ton Steine Scherben mit Gymmick tourt er noch immer durch Deutschland.
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Exkurs – Evergreen
Im New Yorker Stadtteil Manhattan, zwischen der 5. und 6. Avenue, gibt es in der 28. Straße einen Häuserzug, der Anfang des 20. Jahrhunderts, Tin Pan Alley (Straße der Zinnpfannen) genannt wurde. In diesen schönen alten Gebäuden befanden sich die Büros der Musikverlage, die ihre angestellten Textdichter und Hauskomponisten dazu anhielten, den ganzen lieben langen Tag auf dem Klavier zu klimpern, um neue Songs zu kreieren. Tin Pan Alley – das Klimpern der Klaviere wurde mit dem Klappern der Zinnpfannen der Häuser verglichen. Die Bedeutung der -Ära für die Musikgeschichte hat der deutsche Autor Hans-Jürgen Schaal hervorgehoben: »Wer sagt, rümpft dabei meistens die Nase: Der Begriff steht für kommerzielle Unterhaltung und leichteste Broadway-Kost. Sehr zu Unrecht, denn in ihrer Blütezeit zwischen 1925 und 1945 erlebte die die glückliche Geburt der amerikanischen Klassik aus dem Geiste des Jazz Age. Von diesen Meisterwerken des profitiert der Jazz bis heute.« Nicht nur der Jazz, überhaupt die populäre Musik. Und es gibt wohl kaum einen Musikfreund, gleich welchen Genres, der sich nicht schon einmal von einem Lied aus dieser Zeit tief berührt fühlte. Schaal fährt fort: »Es waren die Jahre des 1 und der 2: Das Leben war elektrisiert, die Musik bekam einen nervösen Sound, die Menschen änderten ihren Rhythmus und ihre Sprache. Die Songschreiber der gerieten in den kreativen Sog dieses neuen Lebensgefühls, verbanden den Witz der Zeit mit dem Willen zur Kunst und komponierten Schlager für die Ewigkeit. George Gershwin, Ivring Berlin 1940), Jerome Kern 1933), Richard Rodgers 1934), Cole Porter 1932), Harold Arlen 1938), Harry Warren 1941) und Arthur Schwartz 1934) schufen eine neue Ästhetik der Unterhaltungsmusik: den Love-Song als Kunstwerk, als klingende Miniatur, die über die wirre Broadway-Show und den banalen Hollywood-Film hinauswächst zum Klassiker.«
1929 veröffentlichte Erich Maria Remarque seinen Antikriegsroman Das Buch wurde ein Weltbestseller, und auch die Dadaisten waren länderübergreifend erfolgreich. Aber die Nationalsozialisten waren stärker. 1933 kam Hitler an die Macht. Der Überfall auf Polen 1939 stürzte die Welt in den zweiten großen Krieg. Charlie Chaplins satirischer Film der 1940 seine Uraufführung hatte, war und ist bis heute die großartigste Entlarvung eines sogenannten Führers. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 lag halb Europa in Schutt und Asche. Viele Männer befanden sich in Kriegsgefangenschaft oder lebten nicht mehr. Einen großen Anteil beim Wiederaufbau der Städte hatten die Trümmer-Frauen. Für ihre Kinder hatten sie wenig Zeit; sich selbst überlassen wurden viele unangepasst und aufmüpfig, nicht nur in Europa. Das Bewusstsein zahlreicher junger Menschen änderte sich. Das Weltbild ihrer Eltern wollten und konnten sie nicht übernehmen.
Das betraf besonders die Bohème- und Subkultur-Szene in den USA und Frankreich während der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Im New Yorker Bezirk Manhattan stießen Schriftsteller und Dichter wie William Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg als Beat Generation3 auf schwarze Jazz-Musiker wie Dizzy Gillespie, Charlie »Bird« Parker und Thelonius Monk. Sie alle reflektierten den Zeitgeist. Das Ergebnis waren Bücher wie oder sowie eine neue Form des Jazz – der virtuose und aufwühlende Bebop, wie z.B. das Stück (1945) von Dizzy Gillespie oder (1947) von Charlie Parker. »Dieser Bebop war mehr als Musik: Er verkörperte das Lebensgefühl der Unangepassten, die aus den Konventionen der amerikanischen Gesellschaft flohen...«4
Zeitgleich trat im Pariser Künstlerviertel Saint Germain de Près eine unkonventionelle Lebenseinstellung in Erscheinung, ausschweifend, leicht melancholisch: der Existentialismus – Der Philosoph Jean-Paul Sartre, einer der Köpfe dieser Bewegung postulierte: »Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.« Die Existenzialisten jener Tage waren hauptsächlich kritische Intellektuelle, trugen bevorzugt schwarze Kleidung und Rollkragenpullover, tranken Rotwein und verkehrten in verrauchten Kellerlokalen, in denen natürlich auch Musik gespielt wurde. Ihr Existenzialisten-Frühstück am Mittag bestand aus einer Tasse schwarzem Kaffee und einer filterlosen Gauloises-Zigarette – manchmal auch ein Croissant. Juliette Gréco, Chansonsängerin und Muse der Existenzialisten, hat über diese Bewegung mal gesagt, sie »steht für Freiheit und Verantwortung«. Außer den französischen Chansons, wie sie von Juliette Gréco ( 1950) und anderen gesungen wurden, gehörte die Jazzmusik dazu, besonders der Cool Jazz wie Miles Davis oder Gerry Mulligan ( 1952/53) ihn spielten. Es gab auch eine Vereinigung der beiden Musikrichtungen, Chanson und Jazz, in Form eines Liebespaares: Juliette Gréco, die »Schwarze Rose von St. Germain« und Miles Davis, zu jener Zeit der coolste Mann der Welt, lernten sich 1949 in Paris kennen und lieben.
Die 1950er Jahre standen in West-Deutschland für den Aufschwung nach den Entbehrungen des Krieges, aber auch für Rebellion der Jugend und die Sehnsucht nach individueller Freiheit. Finanzminister Ludwig Erhard hatte »Wohlstand für alle« in Aussicht gestellt und seine Prognose erfüllte sich. Das so genannte Wirtschaftswunder fand tatsächlich statt, und fast jeder war bereit, dafür die Ärmel hochzukrempeln. Der überraschende Gewinn des Weltmeistertitels durch die Deutsche Fussballnationalmannschaft 1954 in der Schweiz5 sorgte zusätzlich für ein neues Wir-Gefühl, frei nach dem Motto: »Wir sind wieder wer.« – 1953 fand die sinnliche Cool Jazz-Aufnahme auch ein -Titel aus der -Ära, gespielt vom Gerry Mulligan Quartett, große Beachtung. Einer der vier Musiker war der Trompeter und Sänger Chet Baker, der in dieser Dekade zum Popstar des Jazz aufstieg. – Im selben Jahr, im geistigen Klima der Existenzialisten, wurde in der Seine-Metropole das absurde Theaterstück von Samuel Beckett zum ersten Mal aufgeführt. Doch Godot kommt nicht. Ist Warten sinnlos? Nichts tun...
New Orleans, die bunte Hafenstadt am Mississippi River, mit dem Rotlicht-Vergnügungsviertel von Storyville, war Anfang des 20. Jahrhunderts ein brodelnder Schmelztiegel verschiedener Kulturen und die Wiege des Jazz und des Rhythm & Blues. Zwei Protagonisten, die in dieser Zeit dort Musik machten, waren Louis Armstrong und Sidney Bechet. Als der britische Jazz-Musiker Ken Colyer nach zweijährigem New Orleans-Aufenthalt 1953 nach England zurückkehrte, brachte er den New Orleans-Jazz mit nach Europa. Davon beeinflusst formierten sich Colyers Musiker-Kollegen zu der Chris Barber's Jazzband, die 1955 die erfolgreiche Vinyl-Single auf dem dänischen Label 6 veröffentlichten. Drei Jahre später folgte die Bechet-Komposition gespielt von dem Klarinettisten Monty Sunshine. Die Instrumental-Nummer, wurde schnell zum internationalen Millionenseller mit Seltenheitswert: schwarzes New Orleans-Feeling in den Charts überwiegend weißer Hörer. Der Traditional- oder Dixieland-Jazz von Musikern wie Ken Colyer, Chris Barber, Kenny Ball ( 1961) oder dem »King of Skiffle« Lonnie Donegan ( 1956) war nicht nur ein Revival aus frühen Tagen der Metropole des Blues und Jazz am 7, die Musik wirkte auch als Katalysator für die spätere Beat-Musik in Liverpool.
In den USA produzierte das Kingston Trio 1958 den auf Tatsachen beruhenden Folksong aus den zwanziger Jahren. Besungen wurde ein vermeintlicher Mörder, der 1867 für seine Tat zum Tod durch den Strang verurteilt wurde: - Das bedrückende Lied war in dieser sparsamen Folk-Interpretation außer in den USA auch in Europa ein großer Hit. – Im selben Jahr erschien auch Wilhelm Reichs Werk Misha Schoeneberg schrieb dazu in seinem deutschen Rock'n'Roll-Märchen : »Die Ermordung alles Lebendigen durch das gepanzerte Menschentier, das ist Reichs Thema, es geschehe tagtäglich, seit Generationen. Schuld sei die Angst vor Liebe und Zärtlichkeit, welche die Kinder von ihren Eltern eingebläut bekämen und dann bewusst oder unbewusst an die nächste Generation weitergäben. Das sei die tatsächliche ›Erbsünde‹, sagt Wilhelm Reich. Reich nennt sie die ›Emotionale Pest‹. Anstatt Bestätigung in der Liebe zu erfahren, lernen wir persönliche Gier. Das schlägt sich nieder in seelischer wie körperlicher Verspannung. Am Ende steckt ein jeder in einer Panzerung, so als wäre er lebendig eingemauert.«
In diesem Sinne sind die berühmten Hollywood-Dramen zu verstehen, in denen Marlon Brando...