E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Shreve Wenn die Nacht in Flammen steht
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99165-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-492-99165-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Nässe
Ein Frühling, der keiner ist. Grace hängt Genes Kakihose an einer Leine auf, die diagonal über dem gelben Linoleum der Küche gespannt ist. Die Baumwolle trocknet nur in der Wärme des Herds. Die Handtücher lässt sie erst mal liegen, in der Hoffnung, dass es morgen oder übermorgen besser wird. Am letzten schönen Nachmittag vor mehr als zwei Wochen hingen überall auf den Veranden und in den Gärten die Leinen voller Wäsche. Weiße Laken, Unterhemden und Tücher flatterten im Wind; es sah aus, als hätte eine Stadt der Frauen kapituliert.
Grace sieht nach ihren zwei Kindern, die zusammen im Wagen schlafen, dem mit den großen Gummirädern und dem dunkelblau lackierten Chassis. Innen ist er mit weißem Leder ausgeschlagen. Er ist ihr Paradestück, ein Geschenk ihrer Mutter zu Claires Geburt. Wenn er gerade nicht gebraucht wird, nimmt er die halbe Küche ein und versperrt den Gang. Claire, zwanzig Monate, schwitzt im Schlaf, der Kragen ihres Strampelanzugs ist durchnässt. Tom ist mit seinen fünf Monaten ein zufriedenes Baby. Grace kocht die Glasflaschen und die Gummisauger in einem Topf auf dem Herd aus. Ihre Milch floss nur sporadisch, als sie Claire stillte. Bei Tom hat sie es gar nicht erst versucht.
Nachts, wenn sie mit Gene im gemeinsamen Ehebett schläft, trägt Grace ein Nachthemd, leichte Baumwolle im Sommer, Flanell im Winter. Gene ist immer nackt. Obwohl sie lieber auf dem Rücken liegt, schafft Gene es fast jedes Mal, sie auf den Bauch zu drehen. Diese Art des Verkehrs ist nichts für sie. Wie denn auch, hat sie doch nie diese unverschämte Lust erlebt, von der Rosie, ihre Nachbarin, geschwärmt hat. Andererseits ist die Stellung offenbar gut fürs Kinderzeugen.
Abgesehen von dieser Unannehmlichkeit, die nicht wichtig erscheint und in jedem Fall schnell erledigt ist, schätzt Grace Gene als Ehemann. Er ist ein stattlicher Mann mit dünnen Haaren von der Farbe feuchten Sands und sehr dunklen blauen Augen. Am Kinn hat er eine kurze wulstige Narbe, die stets weiß bleibt, ganz gleich, ob sein Gesicht zornrot, rosig, winterlich blass oder sommerlich braun ist. Er arbeitet sechs Tage die Woche als Vermessungsingenieur, fünf davon an einem Großprojekt des Staates Maine, dem Bau einer mautpflichtigen Schnellstraße, das ihn bisweilen drei, vier Tage hintereinander von zu Hause wegführt. Sie stellt sich vor, dass sein Kopf voll ist mit Mathematik und Physik, Maßeinheiten und Geometrie, und dennoch scheint er ganz in seinen Kindern aufzugehen, sobald er nach Hause kommt. Beim Essen redet er gern, und Grace weiß, dass sie sich in dieser Hinsicht glücklich schätzen kann; so viele Ehefrauen, die sie kennt, klagen über das stumpfsinnige Schweigen zu Hause.
Während sie Tom auf dem Arm hält, plappert Gene mit Claire in ihrem Hochstuhl aus Holz. Grace lächelt. Das sind die schönsten Momente, die Familie in Harmonie vereint. In vielerlei Hinsicht, findet sie, ist ihre Familie vollkommen. Zwei wohlgeratene Kinder, ein Junge und ein Mädchen; ein Mann, der hart arbeitet und sich nicht sträubt, zu Hause zu helfen. Jeden Abend spült Gene das Geschirr und beschwert sich kaum je über die Leine voller Wäsche zwischen Spülbecken und Ablage. Sie leben in einem Bungalow mit Holzschindelverschalung, zwei Straßen vom Meer entfernt. Gute Kapitalanlage, sagt Gene immer.
An diesem Abend schaltet Grace vor dem Zubettgehen einen Brenner auf dem Gasherd ein und stellt die Flamme auf Stufe eins. Nachdem sie ihre Haare zurückgenommen hat, damit sie nicht Feuer fangen, beugt sie sich über die Flamme und zündet sich die letzte Zigarette des Tages an. Die Kakihose muss morgen früh trocken sein, dann wird sie die Hose waschen, die Gene übers Wochenende getragen hat. Sie kann, während sie da am Fenster steht, den Birnbaum nicht erkennen, aber sie hört den Regen auf seine Blätter prasseln, unerbittlich, ohne nachzulassen.
Bitte lass es einen trockenen Tag werden.
Sie schaltet sämtliche Brenner ein und stellt die Flammen auf Stufe eins. Bei dieser Luftfeuchtigkeit besteht keine Brandgefahr, das weiß sie. Zwischen T-Shirts und Unterwäsche hindurch schlängelt sie sich durch die Küche und geht die Treppe hinauf.
Ich hätte nichts dagegen, die Sterne zu sehen.
Oben angekommen, bleibt Grace stehen, holt einmal Atem und geht dann ins Schlafzimmer. Sie zieht ihr weißes Flanellnachthemd über. Die Außentemperatur liegt, wie sie vom Thermometer vor dem Schlafzimmerfenster abliest, bei fünf Grad.
»Morgen soll’s weiterregnen«, sagt Gene.
»Wie lang noch?«
»Vielleicht die ganze Woche.«
Grace stöhnt. »Da saugt sich ja das ganze Haus mit Wasser voll, und dann stürzt es ein.«
»Nie im Leben.«
»Alles ist feucht. Die Buchseiten wellen sich schon.«
»Verlass dich drauf, sie trocknen wieder. Komm ins Bett, Täubchen.«
Sie wurde nie Gracie genannt, immer nur Grace. Und dann Täubchen, von Gene. Grace fühlt sich nicht wie ein Täubchen und ist überzeugt, dass sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Täubchen hat, aber sie weiß, dass der Name zärtlich gemeint ist. Sie überlegt, ob es etwas zu bedeuten hat, dass sie keinen Kose- oder Spitznamen für ihren Mann hat.
Am Morgen steht sie vor Gene auf, damit sie Zeit hat, ihm den Kaffee zu machen und die Grapefruit zu zerteilen, eine Kostbarkeit, die ihn überraschen wird. Zum Frühstück gibt es heute Eier und Toast, keinen Bacon. Dafür drei Eier. Die Mahlzeit muss vorhalten bis zu seinem Mittagessen aus dem Henkelmann. Ned Gardiner im Lebensmittelgeschäft hat ihr gestern erzählt, dass die Bäcker jetzt im Rahmen der Kampagne »Lebensmittel sparen für Europa« kleinere Laibe und ungedeckte Kuchen backen. Wenn man sich das vorstellt! Ein ganzer Kontinent, der hungert.
Gene redet nie über den Krieg, den er als Mechaniker an Bord einer B-17 erlebt und dem er die Narbe am Kinn zu verdanken hat. Die anderen Ehemänner auch nicht.
Sie hört, wie Gene sich in dem winzigen Bad, das zwischen den beiden Zimmern im oberen Stockwerk wie eingeklemmt wirkt, wäscht. Einmal in der Woche baden sie beide, dann holt er die Zinkwanne, die auf der von Fliegengittern geschützten Veranda steht, in die Küche. Er badet stets nach ihr in ihrem Wasser, weil es zu umständlich wäre, die Wanne erst wieder hinauszuschleppen und auszuleeren.
Nach Toms Geburt hat Grace ihr dickes braunes Haar kurz geschnitten. Gene war nicht begeistert von dem Schnitt, doch ihre Mutter meinte, die neue Frisur bringe ihre Wangenknochen und ihre großen blauen Augen zur Geltung. Es war das einzige Mal, soweit Grace sich erinnern kann, dass ihre Mutter sie schön nannte, mit einem Ausruf, als wäre sie von einer Biene gestochen worden. Gene sagte, sie sei hübsch, als sie sich kennenlernten. Für sie bedeutete das weniger als schön.
Grace ist es gerade egal, was die anderen denken; auch wenn es nicht der Mode entspricht, macht kurzes Haar weniger Arbeit als Lockenwickel und eine Dauerwelle. Sie schiebt es einfach hinter die Ohren. Sie sieht gut aus mit einem Hut. Wenn sie ausgeht, trägt sie Ohrclips.
Sie ist etwas mehr als mittelgroß, in hohen Absätzen groß. Nach Toms Geburt hat sie schnell wieder abgenommen. Zwei Kinder unter zwei Jahren halten sie die meiste Zeit auf Trab. Gerade jetzt stellt sie sich ihren Mann vor, mit nacktem Oberkörper, wie er sich mit einem nassen Waschlappen voll Seife zuerst das Gesicht wäscht, dann den Hals und schließlich die Achselhöhlen. Häufig schrubbt er seine Handgelenke. Sie hört, wie er den Rasierer am Beckenrand abklopft. Pfeift er?
Grace benutzt kein Make-up außer mauvefarbenen Lippenstift, den sie immer gut abtupft. Ihre Lippen würden dadurch voller wirken, behauptet Gene. Wenn sie mit ihm redet, starrt er auf ihren Mund, als wäre er schwerhörig.
Sie nimmt ein Streichholz aus der Schachtel, entzündet es und steckt sich mit einem tiefen Einatmen eine Zigarette an. Die erste des Tages.
»Welcher Abschnitt ist heute dran?«, fragt sie und sieht mit der Befriedigung der Ehefrau zu, wie Gene sich über seine Grapefruit hermacht.
»Wir nehmen eine Nachvermessung beim Abschnitt Kittery vor, um zu kontrollieren, wie er sich gesetzt hat.«
Gene hat ihr erklärt, wie er die dreidimensionalen Aufrisse und Karten für Ingenieure und Bauunternehmer anfertigt. Die Namen der Geräte und Werkzeuge, die er sich in Katalogen ansieht, gefallen ihr – Theodoliten und Tachymeter, Alhidaden und Autokollimatoren –, aber sie hat keine Ahnung, wozu diese Instrumente dienen. Einmal, sie waren gerade frisch verliebt, hat er sie auf den Meserve Hill mitgenommen und sein Stativ aufgestellt, weil er ihr zeigen wollte, wie ein Tachymeter verwendet wird. Doch bevor sie durch das Okular schauen konnte, legte er seine Hände an ihre Taille, um sie in die richtige Position zu bringen, und sie registrierte gar nicht mehr, was er sagte. Sie vermutet, dass Gene es so geplant hatte. Grace würde den Ausflug gern wiederholen und diesmal aufmerksamer zuhören. Falls es jemals aufhören würde zu regnen. Sie könnten die Kinder mitnehmen und ein Picknick machen. Höchst unwahrscheinlich, dass ihr Mann ihr jetzt noch die Hände an die Taille legen würde. Abgesehen von einem flüchtigen Kuss, bevor er aus dem Haus geht, und einem zweiten, wenn er heimkommt, tauschen sie, außer im Bett, kaum noch Berührungen aus.
»Schadet der Regen nicht den Instrumenten?«, fragt sie.
»Wir haben Spezialschirme. Planen. Was hast du heute vor?«
»Ich geh vielleicht rüber zu meiner Mutter.«
Er nickt, sieht sie aber nicht an. Er hätte es lieber, wenn sie seine Mutter besuchte. Die Beziehung zwischen seiner Frau und seiner Mutter lässt...