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E-Book, Deutsch, 179 Seiten
Shepherd Der lebende Berg
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-4531-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 179 Seiten
ISBN: 978-3-7518-4531-1
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nan Shepherd, 1893 im schottischen Peterculter geboren, unterrichtete Englisch am Aberdeen College of Education und verfasste neben Gedichten drei Prosabücher und ein Buch über Bergwandern. Zentrale Motive ihres schmalen Werks sind die schottische Landschaft und die Gewalten des Klimas. Sie starb 1981 in Aberdeen.
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Einführung
Die Cairngorm Mountains im Nordosten Schottlands sind Großbritanniens Arktis. Im Winter fegen Sturmwinde mit bis zu 270 Kilometern pro Stunde über die oberen Landstriche des Gebirges hinweg, Lawinen jagen die Abhänge hinab und über den Gipfeln flammen grün und rot die Polarlichter. Selbst im Hochsommer liegt in den tiefsten Bergkesseln noch Schnee, der langsam zu Eis versintert. Das ganze Jahr hindurch weht der Wind so beharrlich, dass man auf den Plateaus Bonsaikiefern findet, die mit fünfzehn Zentimetern Höhe ausgewachsen sind, und Wacholderbüsche, die sich flach über die Felsen hin ausbreiten, um dicht gewebte Zwergwälder zu bilden. Zwei der großen Flüsse Schottlands – der Dee und der Avon – entspringen hier: Sie fallen wie Regen, werden vom Gestein gefiltert, formen Teiche aus dem klarsten Wasser, in das ich je blickte, und fließen dann mit zunehmender Stärke meerwärts. Das Gebirge selbst ist der erodierte Stumpf einer Magmamasse, die im Devon durch die Erdkruste brach, zu Granit abkühlte und sich aus dem umgebenden Schiefer und Gneis heraushob. Die Cairngorms waren einst höher als die heutigen Alpen, doch über Millionen von Jahren hinweg wurden sie zu einer niedrigen Wildnis aus Walrückenhügeln und zersplitterten Felswänden abgeschliffen. Aus Feuer geboren, vom Eis gemeißelt, mit letztem Schliff von Wind, Wasser und Schnee, ist das Massiv eine Gegend, die von dem geformt wurde, was Nan Shepherd – in diesem schmalen Meisterwerk über die Region – die »Elementarkräfte« nennt.
Anna (Nan) Shepherd kam 1893 in der Nähe von Aberdeen zur Welt und starb dort 1981, und während ihres langen Lebens verbrachte sie Hunderte von Tagen und war Tausende von Kilometern zu Fuß unterwegs auf Entdeckungstour in den Cairngorms. Ihre Bekanntheit als Schriftstellerin beruht hauptsächlich auf ihren drei der schottischen Moderne zuzurechnenden Romanen – The Quarry Wood, The Weatherhouse, A Pass in the Grampians* – aber ihr meiner Ansicht nach wichtigstes Prosawerk war bis vor Kurzem ihr am wenigsten bekanntes: The Living Mountain, Der lebende Berg, das sie in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs schrieb.
Shepherd war eine regionale Autorin im besten Sinne: Sie lernte den Ort ihrer Wahl aus größter Nähe kennen, jedoch diente diese Nähe eher der Intensivierung als der Begrenzung ihres Blicks. Sie wuchs in bescheidenen Mittelklasseverhältnissen auf und führte ein bescheidenes, räumlich begrenztes Leben: Sie besuchte die Aberdeen High School für Mädchen, machte 1915 ihren Abschluss an der Aberdeen University und arbeitete danach einundvierzig Jahre lang als Englischdozentin am heutigen Aberdeen College of Education (und beschrieb ihre pädagogische Rolle dort ironisch als die »vom Himmel vorgesehene Aufgabe zu versuchen, ein paar der Studenten, die unsere Institution durchlaufen, vor der völligen Anpassung an das altbewährte Muster zu bewahren«1). Sie reiste weit, unter anderem nach Norwegen, Frankreich, Italien, Griechenland und Südafrika, lebte aber immer nur in dem Dorf West Cults auf der nördlichen Dee-Seite. Die Cairngorms, deren Ausläufer sich ein paar Kilometer von West Cults entfernt erheben, waren ihr ureigenes Land. In diese Berge ging sie zu jeder Jahreszeit, in der Morgen- und Abenddämmerung, am Tag und in der Nacht, manchmal allein, manchmal mit Freunden, Studenten oder Wandergefährten aus dem Deeside Field Club. Wie alle wahren Bergliebhaber wurde sie höhenkrank, wenn sie zu lange Zeit auf Meeresspiegelniveau verbrachte.
Von früher Jugend an war Shepherd lebenshungrig. Sie scheint mit großem, aber stillem Gusto gelebt zu haben. In einem Brief an eine Freundin schreibt sie über ein Foto, das sie selbst als Kleinkind auf dem Schoß ihrer Mutter zeigt: »alles in Bewegung, Beine und Arme rudern, als ob es mich danach verlangen würde, ins Leben hinauszukommen – ich schwöre dir, diese Glieder bewegen sich beim Angucken«2. Intellektuell war sie das, was Coleridge einst einen »Bibliothekskormoran«3 nannte, eine allesfressende und unersättliche Leserin. Am 7. Mai 1907, mit gerade vierzehn Jahren, begann sie das erste ihrer sogenannten »medleys« – Kladden, in denen sie literarische, religiöse und philosophische Zitate sammelte und die zeigen, wie breit gestreut ihre Lektüre als junge Frau war.
Shepherd veröffentlichte ihre drei Romane in einem außerordentlichen fünfjährigen Ausbruch von Kreativität zwischen 1928 und 1933. Gleich auf dem Fuße folgte ihnen ein Gedichtband mit dem Titel In the Cairngorms, der 1934 in sehr kleiner Auf lage erschien und inzwischen fast unmöglich aufzutreiben ist. Es war das Buch, auf das sie am stolzesten war. Shepherd hatte eine klare Genre-Hierarchie im Kopf, und an der Spitze stand die Lyrik. »Dichtung«, schrieb sie dem Romancier Neil Gunn (mit dem sie einen dem Flirt nicht abgeneigten und intellektuell leidenschaftlichen Briefwechsel pflegte), »hält den Kern aller Erfahrung zutiefst lebendig« und lasse Einblicke zu in »das brennende Herz des Lebens«4. Sie hatte das Gefühl, sie könne nur dann Gedichte schreiben, wenn sie »besessen« sei, wenn ihre »ganze Natur … plötzlich einen Satz ins Leben hinein machte«. Doch äußerte sie gegenüber Gunn auch Befürchtungen, dass ihre Gedichte – »über Sterne und Berge und Licht« – zu »kalt« wirken könnten, zu »unmenschlich«. Dennoch, bekannte sie, »ist es, wenn ich besessen bin, das Einzige, was aus mir herauskommt«5.
Vier Bücher in sechs Jahren, und danach – nichts mehr. Shepherd sollte dreiundvierzig Jahre lang kein weiteres Buch mehr veröffentlichen. Es ist heute schwer zu sagen, ob ihr literarisches Schweigen einer Zurückhaltung oder einer Schreibblockade geschuldet war. 1931 – also selbst auf dem Höhepunkt ihrer Produktivität – löste ihre Unfähigkeit zu schreiben etwas bei ihr aus, das einer Depression nahekam. »Ich bin verstummt«, schrieb sie in jenem Jahr düster an Gunn. »Man kommt (oder zumindest geht es mir so) manchmal im Leben an diese stummen Orte. Ich glaube, man kann da nichts tun, außer weiterzuleben. Die Sprache mag zurückkommen. Oder auch nicht. Und falls nicht, muss man, nehme ich an, sich damit zufriedengeben, stumm zu sein. Zumindest nicht herumkrakeelen, nur um ein Geräusch zu machen.«6 »Die Sprache« kam nach 1934 zu ihr zurück, doch nur in Abständen. Sie schrieb wenig, abgesehen von Der lebende Berg – das auch nur etwa 30000 Wörter umfasst – und den Artikeln, die sie gelegentlich für das Magazin des Deeside Field Club verfasste.
Konkrete Informationen über die Entstehung von Der lebende Berg sind kaum zu finden. Es wurde hauptsächlich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs geschrieben, nimmt jedoch Shepherds ganzes mit Bergerfahrungen angefülltes Leben in den Blick. Der Krieg ist als entferntes Donnern im Buch präsent: da gibt es die Flugzeuge, die auf dem Plateau zerschellen und ihre Besatzungen das Leben kosten; die Verdunkelungsnächte, in denen sie zu dem einzigen Radio in der Gegend unterwegs ist, um Nachrichten über das Kriegsgeschehen zu hören; das Fällen der Waldkiefern auf den Rothiemurchus-Ländereien für die Kriegsanstrengungen. Wir wissen, dass Shepherd im Spätsommer 1945 einen Entwurf beendete, weil sie Gunn mit der Bitte um einen prüfenden Blick und seine Meinung eine Version zuschickte. »Liebe Nan, ich muss dir nicht sagen, wie sehr mir dein Buch gefiel«, beginnt er seine kluge Antwort und fährt fort:
»Es ist sehr schön gemacht. Mit Zurückhaltung, der feinen Präzision eines Künstlers oder Wissenschaftlers oder Gelehrten, mit einer Genauigkeit, die nie pedantisch ist, sondern stets voller Achtung. Auf diese Weise scheint Liebe hindurch, & Weisheit … du gehst mit Tatsachen um. Und du fügst alles nach einem Plan zusammen, methodisch und ruhig, denn Licht und ein Seinszustand sind Tatsachen in deiner Welt.«7
Gunn erkennt auf Anhieb die entscheidenden Qualitäten des Buches: Präzision als eine Form von Poesie, Aufmerksamkeit als Hingabe, Genauigkeit als Achtung, von planvollem Vorgehen strukturierte Beschreibung und Fakten, die auf eine Weise von Ballast befreit sind, die sie schweben und sich auch sonst ungewöhnlich verhalten lässt. Doch dann wird dieser Brief ein wenig bevormundend. Er glaubt, dass es »eventuell schwierig« werden könnte, einen Verleger für das Buch zu finden. Er empfiehlt ihr, Fotos einzufügen sowie ein Karte als Hilfe für die Leser, denen die »Eigennamen« der Cairngorms nichts sagen. Er rät ihr von Faber ab, die in »Schwierigkeiten« seien und schlägt ihr vor, eine Fortsetzungsveröffentlichung im Scots Magazine in Erwägung zu ziehen. Er beglückwünscht sie – seinen »Wassergeist!« – etwas geschrieben zu haben, das »Berg- und Landliebhaber«8 interessieren könnte.
Unfähig oder unwillig, für eine Veröffentlichung zu jener Zeit zu sorgen, legte Shepherd das Manuskript für mehr als drei Jahrzehnte in die Schublade, bis die Aberdeen University Press es schließlich in aller Stille 1977 publizierte. Im gleichen Jahr erschienen Bruce Chatwins In Patagonien*, Patrick Leigh Fermors Die Zeit der Gaben* und John McPhees Coming into the Country*, ein Jahr später Peter Matthiessens Zen-inspiriertes Bergepos Auf der Spur des Schneeleoparden*. Meiner...