E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Reclam Taschenbuch
Shelley Frankenstein oder Der moderne Prometheus
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-15-961362-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Damals - heute - morgen: Reclams Klassikerinnen
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Reclam Taschenbuch
ISBN: 978-3-15-961362-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Frankenstein hat Mary Shelley 1818 eine mythische Gestalt erschaffen, die im Lauf des 20. Jahrhunderts durch teilweise sehr freie Verfilmungen eine ungeheure Popularität erlangt hat. Während der Name nun für alle möglichen Arten von Monstern steht, erzählt Shelley die phantastische Geschichte des Victor Frankenstein, der - an der Universität Ingolstadt - ein künstliches Wesen erschafft, das er nicht beherrschen kann. Das Monster sehnt sich nach Liebe und Gemeinschaft, bringt aber allen, die ihm zu nahe kommen, den Tod. - Mit einer kompakten Biographie der Autorin.
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Einführung der Autorin
Als der Verleger der Standard Novels für eine seiner Reihen auswählte, trat er mit der Bitte an mich heran, eine kurze Darstellung des Ursprungs der Geschichte beizusteuern. Ich bin dazu umso eher bereit, als ich damit ein für allemal Antwort auf die Frage geben kann, die mir so oft gestellt wird – wie ich als noch junges Mädchen auf einen so entsetzlichen Gedanken verfallen und mich darüber so ausführlich auslassen konnte. Zwar scheue ich mich außerordentlich, in meinen Büchern über mich selbst zu sprechen, aber da meine Darstellung nur als Anhang zu einem früheren Werk erscheinen und sich ausschließlich auf Themen beschränken wird, die mit meiner literarischen Tätigkeit in Zusammenhang stehen, brauche ich mir persönliche Aufdringlichkeit wohl nicht vorzuwerfen.
Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, dass ich als Tochter zweier literarischer Berühmtheiten schon sehr früh auf den Gedanken kam zu schreiben. Schon als Kind habe ich Schreibversuche gemacht, und es war meine Lieblingsbeschäftigung, in den Stunden, die ich mir selbst überlassen war, »Geschichten zu erzählen«. Doch gab es ein noch größeres Vergnügen für mich – nämlich Luftschlösser zu bauen, Tagträumen nachzuhängen, Einfälle auszusinnen, die schließlich eine Reihe von imaginären Ereignissen bildeten. Meine Träume waren zugleich phantastischer und angenehmer als meine Texte. Beim Schreiben ahmte ich nur sklavisch nach, wiederholte eher, was andere mir vorgemacht hatten, als eigene originelle Einfälle zu Papier zu bringen. Was ich schrieb, war zumindest für ein weiteres Augenpaar bestimmt – meine Kindheitsgefährtin und Freundin; aber meine Träume gehörten mir allein, sie brauchte ich gegenüber niemandem zu rechtfertigen; sie waren meine Zuflucht, wenn ich verärgert, mein höchstes Vergnügen, wenn ich unbeschäftigt war.
Als kleines Mädchen lebte ich hauptsächlich auf dem Land und hielt mich oft in Schottland auf. Gelegentlich unternahm ich Reisen zu den eher malerischen Gegenden, aber mein eigentlicher Wohnsitz lag an den öden und eintönigen Nordufern des Tay, in der Nähe von Dundee. Öde und eintönig nenne ich sie im Rückblick, aber das waren sie damals für mich ganz und gar nicht. Sie waren der Horst der Freiheit, die erfreuliche Landschaft, wo ich ungehindert mit den Gestalten meiner Phantasie umgehen konnte. Ich schrieb schon damals, aber in einem sehr banalen Stil. Erst unter den Bäumen des Parks, der zu unserem Haus gehörte, oder auf den kahlen Hängen der unbewaldeten Berge in der Umgebung wurden meine eigentlichen Kompositionen, die kühnen Höhenflüge meiner Phantasie geboren und gehegt. Ich machte mich nicht zur Heldin meiner Geschichten. Mein eigenes Leben erschien mir als eine viel zu banale Angelegenheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass romantische Leiden oder wunderbare Ereignisse je mein Schicksal sein würden; aber ich war nicht auf meine eigene Person angewiesen und konnte die Stunden mit Geschöpfen bevölkern, die mir in diesem Alter viel interessanter vorkamen als meine eigenen Empfindungen.
Später wurde mein Leben abwechslungsreicher, und die Wirklichkeit trat an die Stelle der Dichtung. Mein Mann war allerdings von Anfang an darauf bedacht, dass ich mich meiner Eltern würdig erweisen und selbst literarische Lorbeeren verdienen sollte. Er spornte mich immer wieder an, literarischen Ruhm zu erwerben, woran auch mir selbst damals durchaus gelegen war, obwohl es mir inzwischen unendlich gleichgültig geworden ist. Damals war es sein ausdrücklicher Wunsch, dass ich schreiben sollte, nicht so sehr weil er glaubte, dass ich etwas Bemerkenswertes hervorbringen würde, sondern damit er selbst beurteilen konnte, wieweit ich zu späteren, größeren Hoffnungen Anlass gab. Trotzdem tat ich nichts. Reisen und die Sorge um meine Familie nahmen meine Zeit in Anspruch, und meine literarische Tätigkeit beschränkte sich auf Studien, etwa auf Lektüre oder geistige Anregungen im Umgang mit meinem weitaus gebildeteren Mann.
Im Sommer 1816 besuchten wir die Schweiz und wurden Nachbarn von Lord Byron. Zuerst verbrachten wir unsere Mußestunden auf dem See oder auf Spaziergängen an seinem Ufer. Lord Byron, der gerade am dritten Gesang von arbeitete, war der einzige von uns, der seine Gedanken zu Papier brachte, und als er uns diese von poetischer Leuchtkraft und Harmonie durchdrungenen Verse nach und nach brachte, schienen sie den Schönheiten von Himmel und Erde, deren Eindruck wir gemeinsam erlebten, das Siegel des Göttlichen aufzuprägen.
Aber der Sommer stellte sich als nass und unfreundlich heraus, und unablässiger Regen fesselte uns oft tagelang ans Haus. Einige vom Deutschen ins Französische übersetzte Bände Gespenstergeschichten fielen uns in die Hände. Da gab es die »Geschichte vom treulosen Liebhaber«, der sich, als er die Braut, der er Treue geschworen hat, zu umarmen glaubt, in den blassen Geisterarmen der Frau findet, die er im Stich gelassen hat. Da gab es die Erzählung von dem sündigen Ahnvater eines Geschlechts, dessen furchtbares Schicksal es war, den jüngeren Söhnen seines unglückseligen Hauses den Todeskuss aufzudrücken, sobald sie das Alter schönster Hoffnungen erreicht hatten. Seine riesige gespenstische Gestalt sah man wie den Geist in in voller Rüstung, aber mit offenem Visier im unsteten Licht des Mondes um Mitternacht langsam die düstere Allee entlangschreiten. Die Figur verlor sich im Schatten der Burgmauern; aber bald schwang ein Tor auf, Schritte ließen sich vernehmen, die Tür des Gemachs öffnete sich, und er näherte sich dem Bett der blühenden Jünglinge, die von gesundem Schlaf umfangen waren. Unendlicher Schmerz lag auf seinem Gesicht, als er sich niederbeugte und die Stirn der Knaben küsste, die von Stund an wie vorzeitig gebrochene Blumen dahinwelkten. Ich habe diese Geschichten seitdem nicht wiedergesehen, aber die Vorfälle sind in meinem Gedächtnis so frisch, als hätte ich sie gestern gelesen.
»Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben«, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen. Wir waren zu viert. Der edle Dichter begann eine Erzählung, von der er ein Fragment am Ende seines Gedichts drucken ließ. Shelley – dem es leichter fiel, Gedanken und Gefühle mit der Suggestivität einer reichen Bildersprache und der Musik höchst wohlklingender Verse auszudrücken, die unsere Sprache zieren, als das Handlungsgerüst einer Geschichte zu erfinden, begann eine, die auf Erlebnissen seiner frühen Kindheit beruhte. Der unselige Polidori verfiel auf eine schreckliche Geschichte von einer kahlköpfigen Dame, die auf diese Weise gestraft worden war, weil sie durch ein Schlüsselloch geschaut hatte – was sie sehen wollte, ist mir entfallen; zweifellos etwas äußerst Schockierendes und Verwerfliches. Aber als er ihr noch böser mitgespielt hatte als dem berüchtigten Tom von Coventry, wusste er nicht, was er weiter mit ihr anfangen sollte, und sah sich gezwungen, sie in das Grab der Capulets zu befördern, den einzigen für sie geeigneten Ort. Auch die berühmten Dichter, von platter Prosa gelangweilt, gaben die ihnen unbequeme Aufgabe schleunigst wieder auf.
Ich gab mir schreckliche Mühe, eine Geschichte zu erfinden – eine Geschichte, die es mit denen aufnehmen konnte, die uns zu dieser Aufgabe angeregt hatten –, eine, die die geheimsten Ängste der menschlichen Natur ansprechen und Schauer des Entsetzens hervorrufen würde – eine, bei der dem Leser davor grauen würde, sich umzublicken, bei der ihm das Blut in den Adern stocken und der Puls schneller schlagen würde. Wenn mir all das nicht gelang, würde meine Gespenstergeschichte ihren Namen nicht verdienen. Ich dachte nach, ich grübelte – vergeblich. Ich litt unter völligem Versagen der Einbildungskraft, dem größten Unglück des Schriftstellers, wenn unsere flehentlichen Beschwörungen mit einem dumpfen Nichts beantwortet werden. »Hast du dir eine Geschichte ausgedacht?«, wurde ich jeden Morgen gefragt, und jeden Morgen war ich gezwungen, diese Frage kleinlaut zu verneinen.
Alles muss einen Anfang haben, um mit Sancho Pansa zu sprechen, und dieser Anfang muss mit etwas in Zusammenhang stehen, das vorherging. Bei den Hindus wird die Welt von einem Elefanten getragen, aber sie lassen den Elefanten auf einer Schildkröte stehen. Erfinden, das muss man in aller Bescheidenheit zugeben, heißt nicht, aus dem Nichts schaffen, sondern aus dem Chaos; das Material muss zunächst einmal da sein. Erfinden kann dunklen, gestaltlosen Stoffen eine Form geben, aber es kann den Stoff selbst nicht erschaffen. Bei allem Entdecken und Erfinden, sogar bei dem von der Phantasie abhängenden, werden wir ständig an die Geschichte von Kolumbus und seinem Ei erinnert. Erfinden besteht in der Fähigkeit, das Potential eines Stoffes zu erfassen, und in dem Talent, Gedanken zu formen und zu gestalten, die ihm entsprechen.
Zahlreich und ausgedehnt waren die Gespräche zwischen Lord Byron und Shelley, bei denen ich eine andächtige, aber meist schweigsame Zuhörerin war. Bei einem davon wurden verschiedene philosophische Lehren diskutiert, unter anderem auch Wesen und Ursprung des Lebens und ob Aussicht bestehe, sie je zu entdecken und das Wissen zu nutzen. Sie unterhielten sich über Dr. Darwins Experimente (ich spreche nicht von dem, was der Doktor wirklich tat oder zu tun behauptete, sondern, was meinen Absichten näherkommt, von dem, was er angeblich getan hatte), der ein Stückchen Regenwurm in einem Reagenzglas so lange aufhob, bis es sich auf wundersame Weise...




