E-Book, Deutsch, 433 Seiten
Sheepshanks Die Frauen von Longthorpe
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98690-084-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman: Drei Frauen, drei Schicksale, eine Familie und ihre Geheimnisse
E-Book, Deutsch, 433 Seiten
ISBN: 978-3-98690-084-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mary Sheepshanks wurde 1931 geboren und wuchs am Eton College auf, wo ihr Vater arbeitete. Ihre Ferien verbrachte sie jedoch oft im Haus ihrer Großeltern in Wales, wo sie ihre Liebe für das ruhige Landleben und ungezähmte Landstriche entdeckte, die später in ihre Romane einfloss. Ebenfalls Einfluss fanden ihre Jahre in Eton sowie Unterrichtsstunden in Windsor Castle. Mary Sheepshanks lebt und schreibt heute in Schottland. Ihre zahlreichen Enkelkinder nennen sie gern »wild writing granny« - unter diesem Titel erschienen daher ihre Memoiren. Bei dotbooks veröffentlichte Mary Sheepshanks ihre Romane »Der Himmel über Glendrochatt«, »Die Sterne über Boynton Park«, »Die Frauen von Longthorpe« und »Ein Sommer in Duntan Hall«.
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Kapitel 1
Als sich der Todestag von Oliver Rendlesham zum ersten Mal jährte, ging Kate, seine Witwe, aus, verliebte sich und traf eine Entscheidung, die eine tiefgreifende Wirkung auf das Leben ihrer Familie hatte.
Der Tag hatte schlecht angefangen. In dem Moment, als Kate aufwachte, hatte sie schon das Gefühl, daß dunkle Wolken über ihr hingen, und dann erinnerte sie sich daran, welche Bedeutung das Datum hatte. Aber das war nicht allein der Grund, weshalb sie sich unbehaglich fühlte, schließlich war sie bereits 365 Tage lang jeden Morgen mit dem Bewußtsein aufgewacht, daß Oliver nicht länger bei ihr war. Welchen Unterschied machte dann ein weiterer Tag? Nein, warum sie am liebsten die Bettdecke über sich gezogen und so getan hätte, als gäbe es sie gar nicht, war die Tatsache, daß sie in einem schwachen Moment zugestimmt hatte, mit Netta Fanshaw zu Mittag zu essen.
Netta hatte zur großen Schar von Olivers Bewunderinnen gehört. Es hatte ihr Spaß gemacht, seinen Skalp wie eine Jagdtrophäe an ihrem Gürtel baumeln zu sehen, genau wie die der vielen anderen Freunde, die sie für einflußreich hielt. Netta hatte niemanden zum Freund, der nicht wichtig war; Kate hatte sie nur als Olivers Anhängsel akzeptiert.
Kate hatte sie seit Olivers Begräbnis nicht mehr gesehen, wo Netta eine angemessen betrübte Miene und einen riesigen schwarzen Hut aufgesetzt hatte, auf den sich beim Rennen in Ascot sicherlich alle Fernsehkameras gerichtet hätten, der jedoch bei einem Begräbnis im engen Kreis eher unangebracht wirkte. Ein solcher Hut mochte vielleicht als Regenschirm nützlich sein, falls unerwartet ein Schauer herabrauschte, und ganz sicher diente er dazu, die Sicht auf Nettas Ehemann Miles Fanshaw zu behindern, der neben ihr hertrottete und hin und wieder einen Stoß mit der Hutkrempe abbekam, wenn Netta nickte, um einen Bekannten zu grüßen.
Kate war so überrascht gewesen, Nettas Stimme nach zwölf Monaten des Schweigens am Telefon zu hören, daß sie sich hatte überrumpeln lassen.
»Liebes, wie geht es Ihnen?« Die Stimme triefte vor Mitgefühl. »Miles und ich haben so oft an Sie gedacht, aber wir sind immer in schrecklicher Hektik. Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen Ihretwegen – und nun steht Ihnen auch noch dieser traurige Jahrestag bevor. Wir würden uns so sehr freuen, wenn Sie zu uns kämen und bei uns wären. Ich denke, das würde auch Oliver gefallen.«
Und obwohl sie fürchterlich wütend war, hatte Kate sich selbst ergeben die Einladung annehmen hören. Netta war so beharrlich, daß man schon eine hieb- und stichfeste Ausrede bei der Hand haben mußte, um ihr erfolgreich Widerstand leisten zu können. Es hatte Kate gerührt und erstaunt, daß ihr im vergangenen Jahr soviel Freundlichkeit und Mitgefühl entgegengebracht worden war, nicht nur von guten Freunden, sondern auch von Leuten, von denen sie es niemals erwartet hätte. Netta jedoch, die sie früher stets mit Einladungen überschüttet und behauptet hatte, die ganze Familie sehr zu schätzen, war nicht darunter gewesen.
»Ich kann mir einfach nicht erklären, was in mich gefahren ist – ich muß nicht zurechnungsfähig gewesen sein. Ich wette, ihr ist irgendein anderer weiblicher Gast abgesprungen und sie brauchte dringend Ersatz. Wie kann sie es bloß wagen, meinetwegen ein schlechtes Gewissen zu haben?« hatte sie gereizt ihrem Sohn Nicholas erklärt, der mit seiner amerikanischen Frau Robin übers Wochenende aus Yorkshire gekommen war.
»Nun komm schon, Mum – denk doch nur mal daran, wieviel Spaß es dir machen wird, uns hinterher alles zu erzählen!« sagte Nicholas. »Das allein ist die ganze Sache schon wert. Und wenn sie das nächste Mal ihr Gewissen befragt, dann wird es rein wie das eines Neugeborenen sein, und sie wird sich nie mehr um dich sorgen müssen. Was wollt ihr denn beide mehr?«
»Stimmt, es könnte lustig werden zu beobachten, wie sie mich auszufragen versucht – und ihr nichts zu sagen«, gab Kate zu. »Wahrscheinlich würde sie zu gern erfahren, welche Pläne ich habe.«
»Da ist sie nicht die einzige.« Nicholas blickte sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Als Kate ihn überrascht anschaute, hatte er einen Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gedrückt.
»Geh doch mal ein Risiko ein«, hatte er gesagt. »Robin und ich sind der Meinung, daß du ein bißchen Aufregung in dein Leben bringen solltest. Laß dich nicht von Joanna beherrschen und zu ihrer Sklavin machen – und auch nicht von Granny-Cis. Du hast dir ein bißchen Freiheit mehr als verdient. Tu doch zur Abwechslung endlich einmal das, was du möchtest!«
Während Kate zur Lunch-Party der Fanshaws fuhr, dachte sie über diese Worte nach. Ihr war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, irgend jemand aus ihrer Familie könne erwarten, daß sie ihrem Leben eine andere Wende gab. Es war niemals ihre Art gewesen, das Kind mit dem Bad auszuschütten, doch im vergangenen Jahr hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ohne Olivers dynamische Persönlichkeit, die ihr ganzes Leben ausgefüllt hatte, hatte sie sich zunehmend unter Druck gesetzt gefühlt von denjenigen, mit denen sie in engem Kontakt lebte. Und nun hatten sich einige ganz unerwartete Dinge ergeben, von denen manche ihr gefielen, andere nicht. Kate hatte durchaus über die Zukunft nachgedacht, doch sie fühlte sich noch nicht so weit, ihre Überlegungen mit ihrer Familie zu diskutieren – und schon gar nicht mit ihrer Tochter Joanna oder Cecily, ihrer Schwiegermutter.
Die Fanshaws lebten in einem großen Haus zehn Meilen außerhalb von Ripon. Sämtliche Räume waren mit erdrückend gutem Geschmack von einem Londoner Innenarchitekten eingerichtet worden, wofür Miles ein Vermögen bezahlt hatte, obwohl Netta niemals zugegeben hätte, daß dies nicht ihr eigenes Werk war. Ganz bestimmt wäre der Innenarchitekt entrüstet gewesen, hätte er je gehört, wie Netta von ihm nur als von ihrem »kleinen Vorhangmann« sprach.
Das Haus wirkte meist so, als wachse es geheimnisvoll aus den Yorkshire-Nebeln. Dies lag ganz prosaisch daran, daß stets so viele Gäste kamen und gingen und Staub aufwirbelten, denn die Erdschicht der Zufahrt wurde beständig erneuert. Es hätte schon ein ganz keckes Unkraut sein müssen, das es gewagt hätte, sein rebellisches Köpfchen durch den Fanshawschen Boden zu schieben.
Kate war verzagt, als sie sah, wie viele Autos bereits vor dem Haus parkten, dabei war sie überpünktlich. Daß sie mit Oliver in all den Jahren so viele wichtige gesellschaftliche Ereignisse hatte besuchen müssen, hatte sie zur Pünktlichkeit gedrillt, obwohl sie immer eher zu Unpünktlichkeit geneigt hatte. Zwar hatte sie Netta von Anfang an nicht geglaubt, daß es sich »nur um ein gemütliches kleines Essen« handelte, »damit wir wirklich etwas voneinander haben«, dennoch sank ihr nun der Mut, als sie begriff, wie viele andere Leute noch anwesend sein würden. Und mit Sicherheit war sie unpassend gekleidet.
Netta begrüßte sie überschwenglich, wobei sie genau das richtige Maß an verständnisvoller Sympathie zeigte, als sie sich bei Kate einhakte.
»So, und wer ist Ihnen noch unbekannt?« fragte sie, indem sie Kate zu den anderen Gästen führte, die sich im Salon versammelt hatten. Es hatte sie schon immer erstaunt, wie es Netta stets gelang, neue Bekannte zu finden, und nun stellte sie mit sinkendem Mut fest, wie wenige der Anwesenden sie kannte.
»Ich möchte Sie mit Oliver Reedhams Witwe bekannt machen«, sagte Netta mit alles übertönender Stimme. »Oliver war einer unserer ältesten und liebsten Freunde.« Netta hatte eine Art, bei ihren Vorstellungen Prioritäten zu setzen, die ihr so schnell niemand nachmachte.
»Kommen Sie, damit ich Sie mit unserem neuen General bekannt machen kann«, fuhr Netta fort, als gehöre ihr das Regiment, das in Catterick stationiert war. Sie steuerte mit Kate auf einen großen Mann mit krausem Haar zu, dessen Wangen so glatt waren, daß sie fast glänzten. Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Er wirkte männlich und jugendlich, aber Kate hatte schon vor einiger Zeit festgestellt, daß all die Generäle und Richter, die Netta so begeistert sammelte, immer und immer jünger wurden.
»Oliver war ein unvergleichlicher Mensch – aber unsere kleine Kate ist auf ihre Art auch recht klug«, verkündete Netta, ganz die perfekte Gastgeberin, womit sie einen möglichen Ausgangspunkt für ein Gespräch schuf – und Kate dazu brachte, mit den Zähnen zu knirschen. »Sie fertigt entzückende kleine Kissen und solche Sachen. Sticken Sie immer noch, Kate?«
»Immer noch«, erwiderte Kate, der der General jetzt schon leid tat. Man sah ihm an, daß er mit entzückenden kleinen Kissen nicht viel anzufangen wußte.
Und so war es schließlich unvermeidbar, daß sie sich über Oliver unterhielten.
Die Gemeinsamkeiten im Gespräch mit dem General hatten sich gerade erschöpft, als Kate bemerkte, daß Gerald Brownlow eintraf. Er hielt geradewegs auf sie zu.
»Kate! Wie wunderbar! Ich wußte gar nicht, daß Sie auch hier sein würden. Warum haben Sie mich nicht angerufen und mir Bescheid gesagt? Ich hätte Sie doch mitnehmen können, dann hätten Sie nicht zu fahren brauchen. Wie hätten zusammen kommen können. Was für ein unabhängiges kleines Persönchen Sie doch sind!« Wenn mich jetzt noch einmal jemand ein »kleines Persönchen« nennt, dann kotze ich auf Nettas makellosen Teppich, dachte Kate.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Gerald, aber ich wußte ja auch nicht, daß Sie kommen würden. Und ganz abgesehen davon, fahre ich gern selbst.«
Was ist nur los mit mir, dachte Kate. Wieso bin ich plötzlich so empfindlich? Warum kann ich nicht ganz normal reagieren?
Gerald Brownlow gehörte zu einer...




