E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Shakarami Tokioregen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-29451-9
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Einzigartiger, tief berührender Roman. Ausgezeichnet mit dem DELIA-Literaturpreis 2024.
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-641-29451-9
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Malu möchte nichts wie weg – weg von Zuhause, weg aus Deutschland, weg aus ihrem Leben. Als sie die Chance zu einem Schüleraustausch nach Japan bekommt, ergreift sie daher sofort die Gelegenheit. Und sie glaubt, sich bestens vorbereitet zu haben. Doch Tokio in seiner Andersartigkeit haut sie um, genauso wie ihr geheimnisvoller neuer Mitschüler Kentaro. Nur langsam lässt sie ihn an sich heran, aber Kentaro zeigt ihr sein ganz eigenes Tokio, und Malu entdeckt eine Seite an sich selbst, die sie alleine niemals gefunden hätte. Während romantischer Dates im neondurchtränkten Sommerregen, verrückter Karaoke-Sessions und magischer Momente im Mondschein auf den Dächern der Stadt wachsen ihre Gefühle füreinander unaufhaltsam. Doch dann sucht eine verheerende Katastrophe Tokio heim, und Malu muss alles daransetzen, im Chaos der verwüsteten Millionenmetropole ihre große Liebe wiederzufinden …
Ein einzigartiger, tief berührender Roman über Verlust, die Suche nach der großen Liebe und nach sich selbst.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Langsam, aber sicher keimt Panik in mir auf. In fünfzehn Minuten bin ich mit meiner Gastfamilie vor dem Kleidungsgeschäft UNIQLO verabredet. Laut Google Maps trennen mich zwei Gehminuten und hundertsiebzig Meter von meinem Ziel. Das klingt unproblematisch oder zumindest nicht absolut , käme da nicht erschwerend hinzu, dass ich mich inmitten des betriebsamsten Bahnhofs der Welt befinde, und zwar in Tokio, der größten aller Millionenmetropolen. Dabei klingt wie die kühnste Untertreibung des Jahrhunderts, denn sie lässt ahnungslose Opfer wie mich im Glauben, dass man mit sechzehn Jahren Lebenserfahrung eine realistische Chance hat, sich irgendwie zurechtzufinden. Fehlanzeige. Shinjuku-Station – ein neondurchtränkter Koloss mit dreiundfünfzig Gleisen und sage und schreibe Ausgängen – ist wie das Endlevel in einem Videospiel. Seit eineinhalb Stunden versuche ich, einen Weg aus dem Tunnellabyrinth zu finden, dabei zieht es mich immer tiefer in sein dröhnendes Inneres: Restaurants, 24h-Convenience-Stores, Boutiquen, Zeitungsstände, Friseursalons, Spielhöllen, Imbissbuden, Klamottengeschäfte, Buchhandlungen, Souvenirshops, Elektromärkte, Blumenläden, Smoking Areas und Karaoke-Bars, allesamt dekoriert mit grellem Kitsch und überdimensionalen Werbeschildern, deren reißerische Schriftzüge wie wild um die Wette blinken.
Ich fühle mich vollkommen verloren. Lähmende Erschöpfung zerrt an meinen Gliedmaßen und ich könnte schwören, dass die Gravitationskraft hier unten, in den metallenen Eingeweiden der Erde, dreimal so stark wirkt wie an der Oberfläche. An meinen Händen haben sich Blasen gebildet. Mein Reisekoffer hat genug von der Tortur und protestiert mit klemmenden Rädern und quietschender Attitüde. Er ist vollgestopft mit Gepäck für zwölf Monate und wäre vermutlich schon längst explodiert, hätte mein Vater ihn nicht mit einer ganzen Rolle Klebeband mumifiziert.
Es bleiben noch zehn Minuten.
Angeblich durchqueren täglich über vier Millionen Reisende die Shinjuku-Station, aber im Gegensatz zu mir scheint jeder ganz genau zu wissen, wohin er geht. Wie ein kunterbunter Strom fließt die Masse dahin, schnell und geschmeidig, als wäre jede Bewegung einstudiert. Ich bin die Einzige, die ständig stehen bleibt, die Richtung ändert und Chaos in die eigenartige Ordnung bringt.
Die Zahnräder in meiner Brust glühen, so heftig pumpt mein Herz. Hunger habe ich auch, sogar einen Bärenhunger, gleichzeitig ist mir so übel vor Aufregung, dass ich schon seit Stunden keinen Bissen mehr runterkriege. Was, wenn ich meine Gastfamilie niemals finde? Wieder überkommt mich diese brennende, irrationale Angst – die –, die man als Kind verspürt, wenn Mama plötzlich hinter dem Marmeladenregal verschwindet. Allerdings ist das in meinem Fall ein ganzer Ozean und mein ein Bahnhof, der alles darangesetzt hat, mich zu verschlingen.
Meine Misere lässt sich schnell zusammenfassen: Ich bin mutterseelenallein in Tokio, einer Stadt, in der ich noch nie war, in einem Land, das ich nicht kenne, auf einem Kontinent, der endlose Kilometer weit weg von zu Hause ist (dreizehn quälende Flugstunden zwischen zwei dauerquasselnden Rentnerinnen, um genau zu sein). Und das Schrägste an der ganzen Sache: Ich bin hier.
Vor einem Monat habe ich erfahren, dass ich für einen Schüleraustausch nach Japan ausgewählt wurde. Drei exklusive Plätze, und nur einer davon in Tokio. Da sich unsere Austauschprogramme bisher auf Europa beschränkt haben, war das brandneue Angebot, ein Jahr lang auf eine japanische Schule zu gehen, eine richtige Sensation – und der Ansturm dementsprechend riesig. Eigentlich bin ich eine ziemlich mittelmäßige Schülerin und weiß bis heute nicht, wie ich das heiß begehrte ergattern konnte. Ich glaube, meine überforderten Lehrer und meine ratlosen Eltern haben sich eines Vollmondnachts zu einer geheimen Ratsversammlung eingefunden und entschieden, dass es an der Zeit ist, die Außerirdische zurück auf ihren Heimatplaneten zu schicken. Und solange man nicht mit Lichtgeschwindigkeit an die Peripherie des Alls reisen kann, stellt das andere Ende der Welt eine akzeptable Alternative dar.
Ich kann es ihnen nicht verübeln. Schon eine ganze Weile passe ich nicht mehr rein, weder in meine Klasse noch in meine Familie. Nicht, dass es jemals besonders leicht für mich gewesen wäre, aber der Sommer vor zwei Jahren hat einfach alles verändert. Seitdem geht es nur noch bergab. Oder in meinem Fall in eine tiefe, dunkle Höhle mit einem einzigen Lichtblick: das Ganz-weit-Weg.
Mit dreizehn habe ich meine Leidenschaft für Anime entdeckt, besonders die fantasievollen -Filme haben es mir schwer angetan. Mit vierzehn habe ich meinen ersten Roman vom japanischen Autor Haruki Murakami gelesen und mich sofort schockverliebt. Schnell wurde Japan zu einer Art geheimen Zuflucht, mein Sehnsuchtsort, und ich habe mir fest vorgenommen, irgendwann nach dem Abschluss den pazifischen Inselstaat zu bereisen. Und um mich gebührend auf mein -Abenteuer vorzubereiten, lerne ich seit vielen Monaten fleißig Japanisch.
Nun könnte man meinen, dass gerade mein Traum in Erfüllung geht, verfrüht und unverhofft, aber hier ist das Paradoxe: Im echten Leben mache ich einen großen Bogen ums Unbekannte. klingt gut, bedeutet . Ich bin sozusagen eine leidenschaftliche, mutige, neugierige Weltenbummlerin, die ihr eintöniges, ereignisloses, todlangweiliges Zimmer niemals verlassen möchte. – so nennen mich Mama und Papa, aber das ist eine viel zu romantische Diagnose für meine überschwängliche Tatenlosigkeit. Auch meine Freunde haben langsam die Nase voll von mir. Während alle vollkommen versessen darauf sind, ständig etwas Neues auszuprobieren (neue Leute, neue Cafés, neue Musik, neue Haarfarben, neu, neu, neu …), tue ich mich schwer mit Veränderungen. Verabredungen im letzten Augenblick canceln – das ist mein Spezialgebiet.
Nächsten Monat werde ich siebzehn. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass mir nur noch ein winzig kleines Zeitfenster bleibt, um mich aus dem engen, klebrigen, schrecklich gemütlichen Kokon meiner Fantasiewelt zu befreien. Deshalb konnte ich Tokio auch auf keinen Fall absagen, denn diese Reise ist womöglich meine allerletzte Chance. So sehr ich die Vorzüge der Einsamkeit auch liebe, ich möchte auf keinen Fall als jungfräuliche Stubenhockerin sterben.
Noch fünf Minuten bis zur verabredeten Uhrzeit.
Ein bitterer Film überzieht meine Zunge. Irgendwie scheine ich den Staub des gesamten Bahnhofs magnetisch anzuziehen. Die eisige Luft, die aus dunklen Wandkiemen strömt, jagt mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, trotzdem haben sich unter meinen Armen dicke Schweißflecken gebildet. Ich will gar nicht wissen, wie es um meinen Körpergeruch steht. Das Deo haben sie mir beim Sicherheitscheck weggenommen, als sei eine Bombe eine größere Bedrohung als meine müffelnden Achselhöhlen …
Dass ich auf dem Anmeldebogen angekreuzt habe, meine Gastfamilie brauche mich nicht vom Flughafen abzuholen, bereue ich mittlerweile bitterlich. Mein Ziel war es, so viel Small Talk wie nur möglich zu umgehen. Typisch und ebenso typisch, dass mir meine Entscheidung mal wieder gewaltig in den Hintern tritt.
Vielleicht sollte ich zu Hause anrufen? Und dann? Losheulen und meine Eltern anflehen, mich in Tokio abzuholen? Unrealistisch. Außerdem ist es Nacht in Deutschland. In Anbetracht der Tatsache, dass ich in den nächsten Minuten obdachlos werden könnte, bleibt mir nichts anderes übrig, als nach dem Weg zu fragen. Richtig geraten: Ich bin ziemlich verklemmt. Besonders, wenn ich mich unwohl oder unsicher fühle (also beinahe immer).
Ich bleibe vor einem kleinen Café stehen. Die Schaufenster sind mit verblichenen Plastiktorten, giftgrünem Lametta und einer Armee winkender Glückskatzen verziert. Wenigstens passt die bizarre Kulisse zum Super-GAU, der sich in meinem Inneren abspielt. Hinter mir trällern Kellner , etwas, das hier in Japan immer getan wird, sobald man sich einem Restaurant, Café oder Geschäft nähert. heißt auf Japanisch , allerdings muss man sich an die Intensität, Lautstärke und Begeisterung, mit welcher einem das Wort entgegengeschleudert wird, erst einmal gewöhnen. Für jemanden, der sich gerne bedeckt hält, sind die enthusiastischen Bewegungsmelder ganz schön unvorteilhaft.
Während gefühlt hundert Menschen pro Sekunde an mir vorbeiströmen, suche ich nach einem potenziellen Opfer. In einer Doku habe ich gesehen, dass Löwen den Schockeffekt nutzen, um die schwächste Beute auszumachen. Na dann, Augen zu und durch.
, plärre ich und stürze blindlings in den verschwommenen Körperstrudel. Im Grunde sind meine Japanischkenntnisse mittlerweile ganz in Ordnung, allerdings nur, solange rede. Sobald ein Muttersprachler spricht, verstehe ich oft nur Bahnhof. Also wechsle ich ins Englische: »Verzeihung, könnten Sie mir bitte helfen?«
Zu meiner Überraschung bleiben bestimmt sechs Japanerinnen und Japaner gleichzeitig stehen und formen einen makellosen Kreis um mich und meinen Reisekoffer – freundlich lächelnde Gesichter, ein perfekter Ausdruck des sanften, wohlwollenden Abwartens.
Ich...




