E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Shakarami Sturmflirren
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-30974-9
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Packend, berührend und aufrüttelnd: Der neue Roman der Autorin von Tokioregen!
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-641-30974-9
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Normalerweise kann Rea so schnell nichts aus der Fassung bringen, in letzter Zeit jedoch wächst ihr einfach alles über den Kopf: Prüfungen, Theaterproben, Fahrstunden – nichts will ihr mehr gelingen. Als Rea dann auch noch erfährt, dass ihr Diplomatenvater nach Doha, Katar, versetzt wird, kriegt sie endgültig die Krise. Wie soll sie sich in einer so fremden Welt zurechtfinden, in der völlig andere Regeln und Wertvorstellungen gelten? Doch obwohl sie sich fest vorgenommen hat, Doha zu hassen, ist sie seltsam angetan von der hochmodernen, luxuriösen Wüstenstadt. Nach ein paar anfänglichen Schwierigkeiten freundet sich Rea mit der rebellischen Farah an, die gemeinsam mit anderen Frauen in der Wüste gewagte Autostunts einübt. Als die beiden Mädchen eines Nachts auf eine illegale Wüstenparty gehen, verändert sich Reas Leben für immer. Denn hier lernt sie einen jungen Mann namens Shabah kennen und lieben. Was sie nicht ahnt: Shabah hat ein Geheimnis, und Reas Anwesenheit bringt ihn in höchste Gefahr ...
Das heiß ersehnte neue Buch der Spiegel-Bestsellerautorin: eine tief berührende Liebesgeschichte und eine Hommage an starke Frauen im Kampf um Gleichberechtigung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
The Lizard Man
Pachydactylus rangei Aranea – Spinne …
Es hat keine drei Minuten gedauert, bis wir die erschreckend umfangreiche und schockierend kriechtierlastige Videokollektion von Timo Holz aka auf YouTube gefunden haben. Beziehungsweise Mira hat sie gefunden, denn meine beste Freundin ist die gebündelte Reinkarnation aller Geheimagenten, die jemals auf diesem Planeten existiert haben. Sie findet Dreck unter Teppich, ganz gleich wie akribisch auch gekehrt wurde.
Ich sehe Mira vor mir, wie sie sich eine Haarsträhne hinter den Brillenbügel klemmt und mit bitterernster Expertenstimme verkündet: »Der Typ ist ein Freak! Ich wette, am Ende packt er den armen Armin an der Schwanzspitze und schlürft ihn wie eine Spaghetti runter. Roh und zappelnd, so mag er seine Schleimtierchen am liebsten.«
Ich habe den ganzen Kakao verschüttet, so wild musste ich losprusten.
Aber jetzt, wo The Lizard Man aus dem Terrarium-Kasten des TÜV-Süd-Gebäudes tritt, ist mir überhaupt nicht nach Lachen zumute. Ein Blick auf den grimmigen Fahrprüfer genügt, um zu wissen, dass sein Herz einzig und allein den Amphibien gehört.
Der Mann steckt seine fahle, graue, ganz und gar freudlose Visage durch das Autofenster und murmelt: »Tag, Holz ist mein Name.«
»«, nuschelt mein Fahrlehrer, der neben mir sitzt und wie immer mit halb verschlossenem Mund spricht. Der Minimalverbrauch von Silben ist seine Meisterdisziplin, und ich bezweifle, dass seine Zähne jemals Tageslicht gesehen haben.
Ich bemühe mich um einen extra neutralen Tonfall: »Hallo, Herr Holz.«
Er runzelt die Stirn. »Kennen wir uns?«
»N-nein.«
Seine farblosen Augen umschließen mich. »Gut. Bereit für die Führerscheinprüfung?«
»Ja«, antworte ich lächelnd.
The Lizard Man zieht den Kopf ruckartig ein (beinahe als hätte ihm mein sorgfältig einstudiertes Siegerlächeln einen Stromschlag verpasst) und öffnet die hintere Beifahrertür. Während er Platz nimmt, klettert mir ein unangenehm schlammiger Geruch in die Nase, eine Mischung aus Straßenlaub, Gummistiefeln und …
»Und Sie heißen noch mal?«, fragt er, nachdem er sich mit beleidigender Gründlichkeit angeschnallt hat.
»Armin«, sage ich wie auf Knopfdruck.
»« Ich könnte schwören, dass sich die Pupillen des Fahrprüfers senkrecht zusammenziehen.
», meine ich. R-Rea Augustin.« Der Stoff unter meinen Achseln wird feucht.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, murmelt er mit der nicht vorhandenen Empathie eines Roboters, der Binärcode spricht. »Atmen Sie einfach ganz tief durch. Das wird schon.«
Meine Kehle verengt sich. Wenn jetzt sogar schon Herr Holzechse merkt, dass etwas nicht stimmt, dann habe ich ein echtes Problem. Vielleicht ist sie ja wahr, die Sache mit dem .
»Ich habe keine Angst«, berichtige ich mit heiserer Stimme. »Ich bin nur ein ganz klein wenig nervös.«
»Wollen Sie einfach nur dasitzen und das Lenkrad anglotzen?« Durch den Rückspiegel sehe ich, dass The Lizard Man mich beäugt und dabei auf bemerkenswerte Weise demonstriert, wie man gleichzeitig skeptisch, abwertend und missvergnügt dreinschauen kann.
»Geht es denn schon los?«, krächze ich.
»Ja.«
»Das wusste ich nicht.«
»Heute ist der einundzwanzigste Juli. Wir befinden uns in München. Es ist sechzehn Uhr fünfundzwanzig. Die Sonne scheint. Vögel zwitschern. Wir beginnen jetzt offiziell mit der praktischen Fahrprüfung.« Er zieht wichtigtuerisch die Nase hoch. »War das deutlich genug für Sie?«
Mein Fahrlehrer lehnt sich zu mir und murmelt: »Fahrn Sie schn.«
Ich nicke bedröppelt und starte das Auto.
Urplötzlich verwandelt sich Timo Holz in Beyoncé, und mit wackelndem Zeigefinger und divenhafter Attitude macht er: »Ah, ah, ah!«
Verständnislos drehe ich mich zu ihm um.
»Immer zuerst den Rückspiegel und die Seitenspiegel einstellen.«
»Habe ich schon, als ich auf Sie gewartet habe.«
Die Entgeisterung in seiner Stimme bringt meine Ohren zum Klingeln: »Das kann ich doch nicht wissen! Einen Punkt Abzug!«
In meiner Magengrube braut sich ein Höllenfeuer zusammen. Jeder in meiner Klasse hat seinen Führerschein geschafft. Sogar Detlef Scheissner fährt jetzt Auto, dabei hätte ich Detlef Scheissner nicht einmal Stützrad-Fahren zugetraut. Wie peinlich wäre es, wenn gerade die Prüfung nicht bestehe?! Nein, das darf nicht passieren. Das nicht passieren, immerhin habe ich schon bedeutend größere Herausforderungen gemeistert – mit Bravour, versteht sich. Die Rolle der vollkommenen Iphigenie im Schultheater, das beste Zeugnis der Jahrgangsstufe, der erste Platz im Schreibwettbewerb, der Ständer in Leos Calvin-Klein-Boxershorts … Die Liste meiner Erfolge ist lang. Fazit: Ich bin vorbereitet. Ich habe alles unter Kontrolle. So schnell bringt eine Augustin nichts aus der Ruhe.
Andererseits: Die Sache letztens während der Matheklausur ist echt eigenartig gewesen. Das Schwitzen, das Zittern, dann diese völlige Leere im Kopf. Am Ende musste ich ein unbeschriebenes Blatt abgeben. Oder am Montag in der Theaterprobe, wo mir während meines Monologs so schwindlig geworden ist, dass ich beinahe von der Bühne gefallen wäre. Dann ein paar Tage später der Zwischenfall beim Französisch-Referat: Mein Magen hat sich derart verkrampft, dass ich gedacht habe, meine Eingeweide explodieren gleich. Auf der Toilette – in einer Wolke aus Körpergasen und Verzweiflung – habe ich mir zum ersten Mal die Frage gestellt, ob mich jemand mit einem Fluch belegt hat. Nicht, dass ich an so einen Unsinn glauben würde, aber noch viel unwahrscheinlicher erscheint es mir, dass mich plötzlich das kleinste Fitzelchen Adrenalin in die Knie zwingt. Normalerweise brauche ich den Nervenkitzel sogar, um meine Bestleistung erbringen zu können. Und dessen rühme ich mich, nämlich dass Mediokrität keine Option für mich ist.
Schon flammt es in mir auf, das Gefühl der Überforderung. Ich stelle mir vor, wie ich vor meinen Eltern stehe, den größten Overachievern überhaupt, und ihnen erkläre, dass ich durch die Führerscheinprüfung gefallen bin. Bestimmt werden sie mir kein Wort glauben. Am Ende werde ich sie von meiner Niederlage müssen, was furchtbar erniedrigend sein wird. Auch Mira wird denken, dass ich sie auf den Arm nehme. Nichtsdestotrotz wird sie sich über die Vorstellung, dass Detlef Auto fahren darf – und ich nicht –, ausgiebig lustig machen. Wenn sie dann endlich rafft, dass ich auf ganzer Linie versagt habe, wird sie mir tagelang wie eine Glucke hinterherrennen. Und es gibt nichts Schlimmeres, als bemitleidet zu werden.
Heiße Nadelspitzen bohren sich in meine Kopfhaut. Leo wird meine Niederlage als Vorwand für Sex benutzen. – momentan gelingt es ihm, jedes x-beliebige Gespräch auf die Tatsache zu lenken, dass wir nach fünf Wochen immer noch nicht miteinander geschlafen haben. Ich kann es ihm nicht verübeln. Mittlerweile ist meine Prüderie nicht mehr , sondern schlichtweg seltsam. Auf die Idee, dass ich noch Jungfrau sein könnte, ist Leo bisher nicht gekommen. Und freiwillig unterrichten werde ich ihn darüber auf keinen Fall. Meine Unerfahrenheit ist der letzte große Makel, den ich noch beheben muss.
Das Lenkrad unter meinen Händen beginnt zu glühen und eine dumpfe Taubheit befällt meine Beine.




