Seyfarth Schweine müssen nackt sein
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86034-505-4
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Leben mit dem Tod
E-Book, Deutsch, 250 Seiten
ISBN: 978-3-86034-505-4
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
"Schweine müssen nackt sein ist die Geschichte einer Bezwingung: Irgendwann hat das Virus mitten in einem alltäglichen, turbulenten Leben den Napoleon Seyfarth erwischt. Beinahe nebensächlich fand diese fatale Begegnung statt. Ohne großen Kampf, ohne Reue, Klage, Selbsterhöhung oder Selbstmitleid. Napoleon hat das Virus erst einmal verschlungen, verdaut. Irgendwann wird es ihm den Garaus machen. Wenn der Leser, der ihn fröhlich durch die Betten dieser Republik, von Schwanz zu Schwanz, von Bar zu Bar, begleitet, schließlich nach zig Buchseiten endlich auf Aids stößt, geht es ihm wie Napoleon: Das Leben ist zu prall, zu voll, zu ernüchternd kleinlich und dennoch hinterfotzig spannend, als dass nun mit dieser einen Krankheit alles umsonst, weggewischt, untergegangen sein könnte. Die Krankheit kriegt eine schöne, tragende Nebenrolle im absurden Theater, mehr nicht. Wozu hat man so viele Buchseiten grauenhaft komischer altbundesrepublikanischer, homophober Sittengeschichte durchlacht und durchlitten, nur um in Tränen auszubrechen?" (Thomas Kuppinger in Zitty)
Die Reihe "Es geht auch anders" in der Edition diá:
Gad Beck
Und Gad ging zu David. Die Erinnerungen des Gad Beck
ISBN 9783860345016
Georgette Dee
Gib mir Liebeslied. Chansons Geschichten Aphorismen
ISBN 9783860345061
Cora Frost
Mein Körper ist ein Hotel
ISBN 9783860345078
Ulrich Michael Heissig
Irmgard, Knef und ich. Mein Leben, meine Lieder
ISBN 9783860345085
Lotti Huber
Diese Zitrone hat noch viel Saft. Ein Leben
ISBN 9783860345023
Lotti Huber
Jede Zeit ist meine Zeit. Gespräche
ISBN 9783860345030
Charlotte von Mahlsdorf
Ich bin meine eigene Frau. Ein Leben
ISBN 9783860345047
Napoleon Seyfarth
Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod
ISBN 9783860345054
Weitere Infos & Material
Heute ist der 18. November 1990. Seit fünfundzwanzig Jahren bin ich schwul. Nein, schwul bin ich sicherlich schon vor meinem zwölften Lebensjahr gewesen. Aber gemacht habe ich "es" halt zum ersten Mal - damals vor fünfundzwanzig Jahren.
Wie er aussah, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Obwohl es doch immer heißt, dass das erste Erlebnis das wichtigste sei. Nur dass er für mich damals ein uralter Mann war, mit seinen schätzungsweise Mitte zwanzig, das ist mir noch in guter Erinnerung. Besonders heute, da für mich der Altersunterschied zu Mitte Zwanzigjährigen derselbe ist. Allerdings in die andere Richtung.
Den Ort des Geschehens habe ich hingegen ausgezeichnet im Gedächtnis. Es war eine Sackgasse, die beim Tor des Hauptfriedhofes endete, nicht weit von der Stelle, an der heute meine Mutter aus einem Leben voller Reinlichkeit in die ewige Kehrwoche eingezogen ist.
Zwölf Jahre zuvor war ich in jenes öde Chemiekaff hineingeboren worden, dessen grüne Lunge ebenjener Hauptfriedhof war. Er signalisierte somit, dass die Toten es in dieser Stadt besser haben als die in ihr lebenden Roboter, deren Leben im Schichtwechsel der Chemiefabrik seinen gleichförmigen Rhythmus fand.
"Schichtochsen", so pflegte mein Vater dieses Arbeitsvieh zu bezeichnen, während er selbst als Nachtklub-, später Nightclub-Besitzer ein schlechterer Zuhälter war und von dem Geld ebenjener lebte, deren Schichtende er mit "Il silencio" aus der Musikbox, überteuerten Herrengedecken - Bier und Korn - und den Bezirzungskünsten von Tante Nutt die sündige Abrundung gab.
Tante Nutt. Diesen Namen hatte ich der "rassigen" Rothaarigen - Rassigkeit war die milde Umschreibung dafür, dass sie behaarte Beine hatte - bereits als Vierjähriger gegeben, nicht wissend, dass Nutte ein Berufsstand und kein Name ist. Sie nahm es mit dem ihr eigenen mütterlichen Humor auf, lachte schallend und schüttelte ihre hochtoupierten Haare, denen sie die Bezeichnung Farah-Diba-Frisur gegeben hatte, obwohl sie mehr der gealterten Jovanka Tito glich. "Was für ein süßer kleiner Bub mit seinen großen Augen. Der wird mal genau wie sein Vater." Eine Prognose, die mir damals noch verlockend schien.
Und dann drückte sie mich an ihr großes Dekolleté, wohl insgeheim hoffend, dass ich später auch mal andere väterliche Tätigkeiten an ihr auszuüben gedächte. Tätigkeiten, die ich lieber mit den bodygebildeten Zuhälterkollegen meines Vaters hätte ausüben wollen.
Später, als sie schon längst im Dienst erblondet war, zwinkerte sie mir, zwischen einem Chemiefachwerker und einem Maurerpolier sitzend, immer aufmunternd zu, wenn ich das Etablissement mit dem sinnigen Namen Bierstallbetrat. Ein Stall, in dem toupierte Kühe abgearbeitete Ochsen mithilfe diverser Reanimationen in Form von "ä Piccolosche und ä Schäschtelsche HB" zu Stierverhaltensweisen zu ermuntern sich bemühten. Verhaltensweisen, die in den heimischen Ställen schon längst von Lockenwicklern und Rücksichtnahme auf Kinder, Kopfweh und Kirche ins statistische Mittel gebracht worden waren. Der Bierstall war der letzte Versuch, so etwas wie Lasterhaftigkeit und Aufregung in das Leben zu bringen. Ein Leben, von dessen wohlverdientem Ende meist Grabinschriften wie "Müh und Arbeit war sein Leben, Ruhe hat ihm Gott gegeben" kündeten. Gab es ein Leben vor dem Tod?