Setzwein | Der böhmische Samurai | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Setzwein Der böhmische Samurai

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7099-3776-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-7099-3776-1
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1896 kehrt Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi mit seiner japanischen Ehefrau Mitsuko und den beiden Söhnen Richard und Johannes aus dem diplomatischen Dienst in Japan zurück. Jahre später findet sich Johannes in einem tschechischen Internierungslager wieder, durch die "Beneš-Dekrete" hat die Familie alles verloren - nur nicht ihre große Geschichte. Und so beginnt "Graf Hansi" zu erzählen …
Im Schicksal der Familie Coudenhove-Kalergi begegnen einander kosmopolitisches Denken und provinzieller Nationalismus, fernöstliche und mitteleuropäische Kultur, und die glamouröse Ära der Jahrhundertwende-Aristokratie trifft auf die neuen Zeiten von Technik und Fortschritt. Mit leichter Hand erzählt Bernhard Setzwein die Geschichte dieser ungewöhnlichen Familie an der Schwelle vom alten zum neuen Europa - geistreich, lebendig und höchst unterhaltsam.

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1
Ronsperg, Mai 1896 „Kommt da die neue gräfliche Herrschaft oder ist das nur die Vorhut von einem Wanderzirkus?“ Der Schullehrer Fischer flüsterte dem Fleischhauer Spinler, der neben ihm im Spalier stand, seine spöttische Bemerkung ins Ohr. Mußte ja nicht jeder hören, was er von der feierlichen Einfahrt jener drei Kutschen hielt, mit denen die langerwartete neue Herrschaft soeben in Schloß Ronsperg eintraf. Tatsächlich war es, gelinde gesagt, irritierend, was die Männer zu sehen bekamen: Graf und Gräfin waren nicht auszumachen, statt dessen saßen an der Spitze des kleinen Wagen-Trecks im offenen Landauer zwei zierliche Japanerinnen im Kimono. Jede hielt einen kleinen Buben auf dem Schoß, auch sie in Miniaturausgaben des traditionellen japanischen Wickelgewandes gekleidet, an dem vor allem die breiten Seidenschärpen um den Bauch herum auffielen. Die beiden Kinder mußten die Söhne des Grafen sein, Hansi und Richard, und wären sie nicht von ihren beiden Erzieherinnen hochgehalten worden, man hätte sie hinter dem Verschlag des Landauers gar nicht gesehen. Vorne auf dem Kutschbock saß neben dem Wagenlenker ein bärtiger Hüne, dessen exotische Kleidung nicht minder kurios war. Der Kerl kam daher wie ein kaukasischer Berghirte, offenes weißes Leinenhemd, Kniebundhose, Ledersandalen, ­deren Riemen bis hoch zu den Waden gebunden waren, dazu ein Patronengürtel um den Leib, in dem ein orientalischer Krummdolch steckte. Schullehrer Fischer hatte schon recht, wenn ihm bei einem solchen Anblick als erstes ein Haufen wilder Zirkusleute einfiel. In der zweiten Kutsche saß lediglich der junge Gutsverwalter Bernklau mit seinem Gehilfen, die beiden hatten die japanische Reisegesellschaft am Tauser Bahnhof in Empfang genommen. Dahinter ein Leiterwagen, wie ihn die Bauern benutzen, mit dem Gepäck, riesige Koffer, manche davon schrankgroß. Vom Grafenpaar selbst aber keine Spur. „Ja, so was!“ grunzte der Fleischermeister, als das letzte der Fuhrwerke an ihm vorbeigerollt war, und die schweren Bauernrösser, die den Leiterwagen zogen, hatten direkt vor ihm ihre g’stinkerten Roßballen fallen lassen, damit es auch ja sinnbildlich wurde: Da habt’s euren Mist. Bis zur Schloßeinfahrt hin reichte das Ehrenspalier der Ronsperger Bürger, und es zog sich über den Ringplatz an der Kirche vorbei die Hauptstraße entlang bis an den Rand des kleinen Städtchens. Ja, sogar noch weiter, wenn auch mit größeren Lücken zwischen den grüppchenweise zusammenstehenden Bauersleuten beiderseits der Landstraße, die in Richtung Taus führte. Dort in der Bezirksstadt nämlich, wo es seit 1861 einen Bahnhof an der Strecke Prag–Pilsen–München gab, hatte die Reisegesellschaft noch ein letztes Mal umsteigen müssen, auf die bereitstehenden Kutschen. Ja, es war halt schon elend weit weg und abgelegen, dieses Japan, zumindest von Ronsperg aus gesehen, dem kleinen Städtchen ganz am Rande des böhmischen Kronlandes, im Tal der Pivonka, umgeben von dichten Wäldern. „Sind die unterwegs irgendwo verloren gegangen?“ fragte, nicht ganz ernst gemeint, der Schullehrer. „Oder ist die gnä’ Frau Gräfin gar seekrank geworden? Die Japaner haben ja jahrhundertelang nie ihre Insel verlassen, sind nie auf ein Schiff gestiegen. Die Mitsuko, dem Grafen seine Frau, soll überhaupt die erste Japanerin in Europa sein. Die Arme! Und erst die Reise bis hierher. Haben Sie sich Ihnen das einmal angeschaut, Spinler, über wie viele Weltmeere man da fährt?“ Fischer hatte es getan, in seinem „Großen Schulatlas“. Phänomenaler Mann, dieser Carl Diercke, der erst vor wenigen Jahren sein faszinierendes Weltkartenmaterial herausgegeben hatte. Immer wieder zeigte Fischer seinen Schülern den Atlas und pries ihn als ein wahres Wunderwerk. Und wie begeistert die mit ihren vom Kuhstall nie sauber werdenden Fingern den Reiseweg nachgefahren waren. Ost- und Südchinesisches Meer, Indischer Ozean, Rotes Meer, Suezkanal, Mittelmeer, Bosporus, Schwarzes Meer, Donau. „Aber ankommen sind’s nicht.“ Da hatte er zweifelsfrei recht, der Fleischermeister Spinler. Der hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, seine von einer Schlachtung blutverschmierte Gummischürze abzulegen. Vielleicht hatte er sie aber auch ganz bewußt anbehalten, Spinler trug nämlich seine antimonarchistische Grundüberzeugung nur zu gerne für jedermann sichtbar zur Schau. Gleichzeitig war er seit langem der stets zuverlässige Fleischlieferant der Schloßküche gewesen und hatte sich mit dem alten Grafen eigentlich immer bestens verstanden. Bis der verstorben war, vor drei Jahren. Seither fehlte nicht nur ein gestandener Hausherr, jemand, der Anweisungen hätte geben können, wie es weitergehen solle mit den Besitzungen, zu denen ja auch noch das verwaiste Kloster Stockau mit Brauerei und Teichwirtschaft sowie das Jagdschloß Dianahof gehörten. Nein, es fehlte vor allem das Gesellschaftsleben, mit all den Banketten und Festen, es fehlten die Bestellungen ganzer Schweinehälften und mehrerer Kilo schwerer Lungenbraten vom Rind, die Spinler immer selbst zum Schloß gebracht hatte, da schickte er keinen Lehrbuben … schließlich war man in diesem Fall eine Art Ronsperger Hoflieferant, und der hatte selbstverständlich persönlich Aufwartung zu machen. Als solche verstand Spinler auch sein Spalierstehen am heutigen Tag … aber daß man sie gar so enttäuschte, das warf kein gutes Licht auf die neue Herrschaft. Irgendwie paßte es nicht mehr zwischen Ronsperg und der Grafenfamilie, hatte Spinler den Eindruck, und wahrlich nicht nur er. Schon der alte Graf Franz Karl hatte sich mehr und mehr aus dem Böhmerwaldstädtchen zurückgezogen … solche Leut’, und da kam wieder die revoluzzerische Seite an Spinler zum Vorschein, haben ja die freie Auswahl, wo sie ihr feines, nichtstuerisches Leben verbringen, Schlösser und Ländereien an jeder Hand fünfe, schimpfte er, über ganz Europa verteilt, ob das etwa eine Gerechtigkeit sei? Er übertrieb natürlich. Zwei weitere Besitzungen gehörten der Grafenfamilie, eine in Zamuto in den ungarischen Karpaten und eine in Ottensheim an der Donau. Dort war er dann ja auch verstorben, der alte Graf Franz Karl. Schon das war eine Kränkung der Ronsperger gewesen. Gibt der einfach in Ottensheim den Löffel ab und bringt seine Böhmerwaldler um eine Leichenaufbahrung de luxe. Da half auch die spätere Überführung und Beerdigung in Ronsperg nichts mehr, der Fauxpas war schon passiert, nämlich am falschen Ort gestorben zu sein. Irgend etwas hatte den alten Grafen offenbar von Ronsperg vertrieben. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, er habe die Einsamkeit nicht mehr ertragen. In der Tat konnte es hier, inmitten der böhmischen Wälder, auf eine Art einschichtig sein, die dem Gemüt gar nicht zuträglich war. Vielleicht hatte auch der frühe Tod seiner Ehefrau Marie, mit gerade siebenunddreißig Jahren, den Ausschlag gegeben, daß für den Grafen an diesem Ort kein Bleiben mehr war. Jedenfalls: Er zog sich mit dem Großteil der Dienerschaft im Sommer nach Zamuto und ansonsten auf Schloß Ottensheim zurück. Zu sagen, daß seit dieser Zeit das Schloß Ronsperg verkommen sei, ginge vielleicht zu weit, aber der Glanz früherer Jahre war unverkennbar dahin. Die Marodigkeit lugte aus allen Ritzen. Es wurde also Zeit, daß die neue Herrschaft endlich eintraf. Sohn Heinrich, das älteste der sechs Kinder von Franz Karl und Marie, hatte sich drei Jahre lang gesträubt, aus Japan zurückzukommen. Gefiel’s dem dort am Ende vielleicht sogar besser als daheim? Die jüngeren Brüder hatte er immer vorgeschoben, soll es doch der Friedrich machen oder der Johann. Warum man ausgerechnet ihn aus seiner neuen Heimat herausreißen müsse, wo er doch gerade erst begonnen habe, eine Familie zu gründen? Als Vize-Botschafter des österreichischen Kaisers war er, nach Jahren unter anderem in Buenos Aires, Athen und Konstantinopel, an die Gesandtschaft in Tokio versetzt worden. Dort hatte er seine Frau kennengelernt, dort waren die beiden Söhne Hansi und Richard zur Welt gekommen. Als es dann plötzlich hieß, man müsse nach Europa ziehen, um dort ein Schloß im von Wölfen umheulten Böhmerwald zu bewohnen, war der Schrecken für Mitsuko und ihre Eltern erst einmal groß. Würde man die Tochter und die Enkelkinder jemals wiedersehen? fragten sich Heinrichs Schwiegereltern Aoyama. „Ißt jetzt der Japaner auch einmal das Bürgermeisterstückl von einem herrlichen Lungenbraten … oder nur Seegurken?“ Spinler konnte es einfach nicht lassen, vor sich hinzugranteln. Ihm paßte partout nicht, daß er hier herumstehen mußte, statt in seinem Schlachthaus zu sein. Von Rechts wegen hätte er außerdem viel weiter vorne stehen müssen im Spalier, eigentlich schon direkt im Schloßhof drinnen, wo das Empfangskomitee Aufstellung genommen hatte. Schließlich war er doch viele Jahre der erste Lieferant für alle Fleisch- und Wurstwaren gewesen, und das sollte tunlichst auch so bleiben. Nicht, daß noch der Grünhut mit seiner koscheren Fleischhauerei bei der neuen Herrschaft das Rennen machen würde … ein Rennen auf krummen Hammelbeinen, denn von einer richtigen Sau mit vier wunderbaren Stelzen hatte dieser jüdische Schächter ja noch nie etwas verstanden. „Seegurken?“ meldete sich jetzt Fischer zu Wort. Anscheinend hatte er dem selbstgesprächlerischen Murren Spinlers doch aufmerksam zugehört. ‚Typisch Schullehrer!‘ dachte sich der Schlachter und klärte seinen Nebenmann auf: „Kein Gemüse, heißt nur so. Der Japaner ißt fast nichts anders. Noch nie davon gelesen, Herr Schullehrer? Das Zeug lebt im Meer. Aalförmig in gewisser Hinsicht. Kann bis zu zwei Meter lang werden. Und die Innereien zum Beispiel von diesen … Seeschlangen, könnt’ man...


Bernhard Setzwein, geboren 1960 in München, lebt in Cham. Verschiedene Auszeichnungen, u.a. Bayerischer Staatsförderungspreis für Literatur (1998), Poetik-Professur der Universität Bamberg (2004) und Friedrich-Baur-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (2010). Verfasser zahlreicher Bücher, darunter Lyrikbände. Außerdem seit 25 Jahren regelmäßig Hörfunk-Features für den Bayerischen Rundfunk. Bei Haymon: "Das Buch der sieben Gerechten". Roman (1999), "Nicht kalt genug". Roman (2000), "Die Grüne Jungfer". Roman (2003), "Jean Paul von Adam bis Zucker" (2013) gemeinsam mit Christian Thanhäuser und "Der böhmische Samurai". Roman (2017).
www.bernhardsetzwein.de



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