Setterfield | Die dreizehnte Geschichte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

Setterfield Die dreizehnte Geschichte

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14153-0
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

ISBN: 978-3-641-14153-0
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sie gilt als Englands beliebteste Schriftstellerin, und doch weiß keiner, wer Vida Winter wirklich ist. Ihr ganzes Leben lang hat sie Stillschweigen darüber bewahrt, was damals, in jener Nacht vor rund sechzig Jahren, wirklich geschah, als der Familiensitz der Angelfields bis auf die Grundmauern niederbrannte. Nun, dem Tode nah, erleichtert Vida Winter erstmals ihr Gewissen und gesteht die schockierende Wahrheit über sich und ihre Zwillingsschwester.

Diane Setterfield ist promovierte Romanistin und lebte viele Jahre in Frankreich. Bevor sie sich Vollzeit der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Lehrerin. Ihr Debüt, »Die dreizehnte Geschichte« (Blessing, 2007), war ein internationaler Bestseller und wurde mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle von der BBC verfilmt. Diane Setterfield lebt in Oxford.
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Margarets Geschichte


Ich erhob mich von der Treppenstufe, auf der ich gesessen hatte, und trat in das Dunkel des Ladens. Ich brauchte den Lichtschalter nicht, um mich zurechtzufinden. Ich kenne den Laden so gut, wie man die Orte aus seiner Kindheit kennt. Der Geruch von Leder und altem Papier beruhigte mich sogleich. Ich strich mit den Fingerspitzen über die Buchrücken wie ein Pianist über die Tasten. Jeder Band hat seine eigene, unverwechselbare Note: die körnigen Leinenrücken von Daniels’ Geschichte der Kartografie, das aufgesprungene Leder von Lakunins Sitzungsprotokolle der St. Petersburger Kartografischen Akademie, eine abgenutzte Mappe mit handgezeichneten und -kolorierten Karten. Man könnte mir die Augen verbinden und mich irgendwo in dem dreistöckigen Laden abstellen, und ich könnte anhand der Bücher unter meinen Fingerspitzen sagen, wo ich bin.

Wir haben wenig Kundschaft in Leas Antiquariat, im Durchschnitt kaum ein halbes Dutzend am Tag. Im September, wenn die Studenten kommen, um sich ihre Pflichtlektüre für das neue Jahr zu kaufen, und dann noch einmal im Mai, wenn sie dieselben Texte nach dem Examen zurückbringen, sind es etwas mehr. Mein Vater nennt diese Bücher Nomaden. Zu anderen Jahreszeiten können Tage vergehen, ohne dass wir einen Kunden zu Gesicht bekommen. Jeden Sommer verirrt sich der eine oder andere Tourist hierher, der von der üblichen Route abgekommen ist und den die Neugier hereintreibt. Er tritt aus der Sonne in den Laden, bleibt einen Moment stehen und blinzelt, um seine Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Je nachdem, wie leid er es ist, Eiscreme zu essen und den Stakkähnen auf dem Fluss hinterherzusehen, verweilt er vielleicht und genießt den Schatten und die Ruhe oder auch nicht. Die Mehrzahl derer, die den Laden aufsuchen, folgen Empfehlungen von Freunden und machen, wenn sie schon mal in der Gegend sind, eigens einen Abstecher nach Cambridge. Sie sehen gespannt aus, wenn sie über die Schwelle treten, und entschuldigen sich nicht selten für die Störung. Sie sind nett, so unaufdringlich liebenswürdig wie die Bücher selbst. Meistens allerdings sind Vater, ich und die Bücher unter uns.

Wie wir davon leben können, mag man sich fragen, wenn man die spärliche Kundschaft sieht. Dazu muss man wissen, dass der Laden finanziell gesehen nur ein Nebenerwerbszweig ist. Das eigentliche Geschäft findet andernorts statt. Unseren Lebensunterhalt verdienen wir mit vielleicht einem halben Dutzend Transaktionen im Jahr.

Und so funktioniert’s: Vater kennt alle großen Sammler der Welt, und er kennt die bedeutenden Sammlungen. Wenn man ihn auf den Auktionen oder Buchmessen beobachtet, dann würde einem nicht entgehen, wie oft ihn unauffällig gekleidete Personen ebenso unauffällig auf ein Wort unter vier Augen beiseite nehmen. Ihr Blick allerdings ist alles andere als unauffällig. Weiß er wohl zufällig etwas über…, fragen sie ihn, hat er irgendwo gehört, ob … Dann wird ein Buch genannt. Vater antwortet ausweichend. Er kann ihnen keine großen Hoffnungen machen. Diese Dinge führen gewöhnlich nicht weiter. Und falls er sie nicht schon hat, schreibt er sich die Adresse desjenigen in ein kleines grünes Notizbuch. Dann passiert eine ganze Weile nichts. Aber später – das kann ein paar Monate oder auch länger dauern, unmöglich im Voraus zu sagen – erkundigt er sich auf einer anderen Auktion oder Messe bei einer anderen Person sehr behutsam, ob vielleicht… und wieder wird das Buch erwähnt. Meistens war’s das dann. Doch manchmal folgt diesen Unterhaltungen eine Korrespondenz. Vater verbringt eine Menge Zeit damit, Briefe zu verfassen. Auf Französisch, Deutsch, Italienisch, manchmal sogar Latein. In neun von zehn Fällen ist die Antwort eine kurze, wenn auch höfliche Absage. Hin und wieder allerdings – ein halbes Dutzend Mal im Jahr – bildet die Antwort den Auftakt zu einer Reise. Einer Reise, auf der Vater ein Buch an Punkt A entgegennimmt, um es an B abzuliefern. Er ist selten mehr als achtundvierzig Stunden weg. Sechs Mal im Jahr. Davon bestreiten wir unseren Lebensunterhalt.

Der Laden selbst wirft herzlich wenig ab. Er ist ein Ort, an dem man Briefe schreibt und empfängt. Ein Ort, an dem man sich die Wartezeit vor der nächsten internationalen Buchmesse vertreibt. Nach Meinung des Leiters unserer Bank ist das ein Luxus, den sich mein Vater mit seinem Erfolg verdient. In Wirklichkeit jedoch – in der Wirklichkeit, die mein Vater und ich uns teilen, denn ich behaupte ja nicht, die Wirklichkeit sei für alle gleich – ist der Laden das Herzstück des Ganzen. Er ist ein Aufbewahrungsort für Bücher, ein sicherer Hort für all die Bände, die einmal so hingebungsvoll geschrieben wurden und für die sich derzeit offenbar niemand interessiert.

Und es ist ein Ort zum Lesen.

A wie Austen, B wie Brontë, C wie Charles und D wie Dickens. Ich habe in diesem Laden das Alphabet gelernt. Indem mein Vater, mit mir auf dem Arm, die Regalreihen abschritt und mir das Buchstabieren zugleich mit der alphabetischen Reihenfolge der Bücher beibrachte. Ich habe dort auch schreiben gelernt; ich kritzelte Namen und Titel auf Karteikarten, die wir dreißig Jahre später noch immer in unserem Kasten haben. Der Laden war meine Arbeitsstelle wie auch mein Zuhause. Er war für mich eine bessere Schule, als es die Schule je war, und später dann meine eigene Privatuniversität. Er ist mein Leben.

Mein Vater hat mir nie ein Buch in die Hand gedrückt und mir nie eines verboten. Stattdessen ließ er mich selber stöbern und meine eigene mehr oder weniger gute Auswahl treffen. So las ich blutrünstige Erzählungen von historischen Heldentaten, die Eltern im neunzehnten Jahrhundert kindgerecht fanden, und schaurige Gespenstergeschichten, die es gewiss nicht waren; ich las Berichte von beschwerlichen Reisen durch tückische Gefilde, die alte Jungfern in Reifröcken unternahmen, und schmökerte in Handbüchern zu Benimm und Etikette für junge Damen aus gutem Hause; ich verschlang Bücher mit Bildern und Bücher ohne Bilder, Bücher auf Englisch, Bücher auf Französisch, Bücher in Sprachen, die ich nicht verstand und zu denen ich mir mithilfe einer Handvoll erratener Wörter Geschichten ausdachte. Bücher, Bücher und nochmals Bücher.

Zwar versuchte ich in der Schule, meine Lektüre geheim zu halten. Doch die Brocken archaisches Französisch, die ich aus alten Grammatiken kannte, schlichen sich in meine Aufsätze ein. Meine Lehrer aber hielten sie für Rechtschreibfehler, auch wenn es ihnen nie gelang, sie mir auszutreiben. Zuweilen rührte eine Geschichtsstunde an einen tiefen, wenn auch beliebigen Wissensfundus, den ich bei meiner planlosen Lektüre angehäuft hatte. Charlemagne? Karl der Große, dachte ich. Was, mein Charlemagne? Aus dem Laden? Bei solchen unverhofften Zusammenstößen zweier sonst so getrennter Welten verschlug es mir die Sprache.

Wenn ich nicht las, half ich meinem Vater bei seiner Arbeit. Mit neun durfte ich Bücher in braunes Packpapier einschlagen. Mit zehn lief ich mit diesen Paketen zum Postamt, um sie an unsere entfernten Kunden zu schicken. Mit elf nahm ich meiner Mutter ihre einzige Aufgabe im Laden ab: das Saubermachen. Mit Kopftuch und Hauskittel gegen Schmutz, Bakterien und die ganze Bösartigkeit bewaffnet, die in »alten Büchern« steckt, schritt sie, die Lippen fest zusammengepresst, um nichts Schädliches einzuatmen, mit ihrem unermüdlichen Wedel die Regale ab. Von Zeit zu Zeit wühlten die Federn eine imaginäre Staubwolke auf, und sie fuhr hüstelnd zurück. Unweigerlich blieb sie mit ihren Strümpfen an einer Bücherkiste hängen, die natürlich mit voller Absicht gerade hinter ihr stand. Ich bot ihr an, das Staubwischen für sie zu übernehmen, und sie war die Arbeit nur zu gerne los; von da an brauchte sie nicht mehr in den Laden zu kommen.

Mit zwölf ließ mich Vater nach verloren gegangenen Büchern suchen. Wir erklärten Bestände als verloren, wenn sie laut Kartei auf Lager waren, an ihrem angestammten Platz im Regal jedoch fehlten. Sie konnten gestohlen sein, waren vermutlich aber nur von jemandem, der in den Büchern geblättert hatte, geistesabwesend falsch eingeordnet worden. Der Laden verfügte über sieben Räume, mit Tausenden Büchern bis unter die Decke.

»Und wenn du schon dabei bist, überprüfe doch auch gleich die alphabetische Reihenfolge«, sagte Vater.

Das war ein endloses Unterfangen; heute frage ich mich, wie ernst es ihm mit diesem Auftrag war. Um ehrlich zu sein, spielte das im Grunde keine Rolle, denn ich habe mich mit aller Ernsthaftigkeit in diese Arbeit gestürzt.

Die Vormittage eines ganzen Sommers vergingen dabei, doch als Anfang September die Schule begann, hatte sich jedes verlorene Buch wieder eingefunden, war jeder verstellte Band zurück an seinem Platz. Davon abgesehen war noch etwas anderes geschehen, das im Nachhinein viel wichtiger scheint: Meine Finger waren, wenn auch nur kurz, mit jedem Buch im Geschäft einmal in Berührung gekommen.

Als Teenager ging ich meinem Vater dann so zur Hand, dass es an ruhigen Nachmittagen kaum noch Arbeit gab. War die Vormittagsroutine erledigt – die Neuzugänge in die Regale gestellt, die Briefe geschrieben, die Sandwiches draußen am Fluss gegessen und dabei die Enten gefüttert –, ging es zum Lesen zurück in den Laden. Allmählich war meine Lektüre weniger vom Zufall bestimmt. Immer öfter ertappte ich mich dabei, durchs zweite Geschoss zu schlendern. Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Biografien, Autobiografien, Memoiren, Tagebücher und Briefe.

Meinem Vater entging die gezielte Auswahl nicht, und so kam er von seinen Messen und Verkaufsreisen mit Lesestoff zurück, von dem er...


Setterfield, Diane
Diane Setterfield ist promovierte Romanistin und lebte viele Jahre in Frankreich. Bevor sie sich Vollzeit der Schriftstellerei widmete, arbeitete sie als Lehrerin. Ihr Debüt, »Die dreizehnte Geschichte« (Blessing, 2007), war ein internationaler Bestseller und wurde mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle von der BBC verfilmt. Diane Setterfield lebt in Oxford.



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