Sestanovich | Objekte des Begehrens | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Sestanovich Objekte des Begehrens

Erzählungen
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8437-2700-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2700-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Clare Sestanovichs Stories zwangen mich zu Boden wie die Schwerkraft, und immer wieder waren da diese scharfen, überraschenden, eigentümlichen Momente von Anmut.' Leslie Jamison Mit bestechender Präzision und unheimlich klug lotet Clare Sestanovich in ihrem Debüt die Innenwelten unterschiedlichster Frauen aus und erzählt von ihrer unbestimmten Sehnsucht nach dem richtigen Leben.  Von Iris, die nach einem One-Night-Stand schwanger wird, abtreibt und sehr viel später zufällig dem ahnungslosen Vater ihres ungeborenen Kindes wieder begegnet. Von einer namenlosen Mittzwanzigerin, die in einer WG wohnt, und eines Nachmittags ohne ersichtlichen Grund ihrem alten Highschool Englischlehrer eine E-Mail schreibt. Von Debbie, die beim Blick auf die Passwörter ihres Ehemanns realisiert, dass ihre Ehe vollkommen geheimnislos geworden ist.  Es sind pointierte und delikate Geschichten über enttäuschte Erwartungen, die Melancholie der Existenz in unserer modernen Welt und die Hoffnung, dass alles irgendwann so sein wird, wie man es sich gewünscht hätte, hätte man damals schon gewusst, was man sich wünschen sollte.

Clare Sestanovich ist Redakteurin beim The New Yorker. Sie hat in Yale studiert und einen Abschluss in Kreativem Schreiben von der NYU. Ihre Texte sind in The New Yorker, The Paris Review und in Harper's erschienen. Sie lebt in Brooklyn.
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Verkündigung


Als sie zum ersten Mal über die Feiertage nach Hause fliegt, findet Iris zwei Freunde. Sie sitzt zwischen einem Ehepaar, weil der Mann das Fenster und die Frau den Gang bevorzugt, und sie sind, wie Iris schnell feststellt, Menschen mit starken Vorlieben. Iris hat eher schwache Vorlieben – solche, die sich problemlos denen eines anderen unterordnen lassen. Als der Mann an ihr vorbeiklettert, um zur Toilette zu gehen, zieht Iris das Kinn ein, schließt die Augen, ihr macht das gar nichts aus. Ein paar Minuten später folgt ihm die Frau, und Iris bleibt allein in der Mitte der Reihe zurück.

Sie ist achtzehn und lebt ein halbes Land entfernt von ihren Eltern. Ihr College ist nicht groß und nicht günstig. Es gibt dort weder die Hauptfächer Kommunikationswissenschaften und Betriebswirtschaftslehre noch ein Footballteam. Ihre Eltern sind sich einig, und das sind sie selten, dass das nicht ihrer Vorstellung von Bildung entspricht.

Der Mann kommt rechtzeitig zurück auf seinen Platz, um die Bordverpflegung abzulehnen. Während Iris von den verschiedenen Komponenten ihres Abendessens die Folie abzieht – Lasagne, grüne Bohnen und ein halbes Dutzend in Flüssigkeit schwimmende Mandarinenspalten –, kehrt die Frau zurück und verkündet, sie sei schwanger. Sie streckt den Arm über Iris’ Schoß hinweg aus, wobei ihr Ärmel gefährlich nah über einem offenen Schälchen Mousse au Chocolat baumelt, und wedelt mit einem Plastikstäbchen vor dem Gesicht ihres Mannes herum.

»Ein Plus!«, sagt sie.

»Ja, Wahnsinn!«, sagt er.

Er legt seine Hand um ihre, und sie halten zusammen das Teststäbchen. Schließlich lässt er los, und sie lehnt sich zurück. Verzückt starrt sie auf den postkartengroßen Bildschirm vor sich, auf dem sich ein Flugzeug langsam über eine Landkarte bewegt.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagt Iris höflich und zersägt die grünen Bohnen mit einem Plastikmesser.

In einem bekannten Restaurant in der Stadt, von der aus sie abgeflogen sind, hat der Mann Burritos gekauft. Iris kennt sie von Bildern, weil niemand dort essen geht, ohne Fotos davon zu machen. In echt sind sie gar nicht so beeindruckend – zu viel Füllung und milchig von der Sour Cream. Der Ehefrau tropft Saft von den schwarzen Bohnen über die Hand.

Sie erzählen Iris, dass sie es schon seit Monaten versuchen. Sie erzählen ihr auch, dass sie Namen aus der Antike mögen.

»Theodora.«

»Cicero.«

Sie bieten ihr Guacamole an.

»Und ihr wollt wirklich nicht nebeneinandersitzen?«

So leise wie möglich kaut Iris einen Tortilla-Chip. Sie fragt sich, ob das Knuspern für die anderen auch so laut ist, wie es sich für sie im Kopf anhört.

»Süße«, sagt die Ehefrau, »du gehörst jetzt dazu.«

»Marcus«, sagt der Ehemann und wischt sich Salsa aus dem Mundwinkel. »Oder gleich Aurelius.«

Iris’ Mutter holt sie am Flughafen ab. Sie trägt einen eleganten Mantel und Stiefel mit Pfennigabsatz, weil sie es nicht leiden kann, wenn Leute im Schlabberlook reisen. Das Ehepaar bittet Iris, nicht fortzugehen, ohne sich zu verabschieden, aber während die beiden an der Gepäckausgabe warten, tut sie es trotzdem. Einmal dreht Iris sich um, die Räder ihres Koffers klackern im Takt der Schuhe ihrer Mutter, da sieht sie die beiden zum ersten Mal nebeneinanderstehen und stellt überrascht fest, dass die Frau größer ist als der Mann. Er hat ihr den Arm um die Taille gelegt, und sie lehnt sich an ihn. Ihr Kopf ruht sanft auf seinem.

Im Auto erzählt Iris ihrer Mutter von dem Paar. Sie nennt sie nicht ihre Freunde, was ihr vorkommt, als würde sie etwas verlieren – als würde sie ein Steinchen aus dem Schuh entfernen und dann das unangenehme Drücken vermissen. Das Steinchen wieder hineinzulegen wäre verrückt.

Sie erwähnt das Baby, während ein Flugzeug so nah über ihnen fliegt, dass sie die Räder erkennen kann.

»Was?«, fragt ihre Mutter über das Dröhnen hinweg.

Iris wiederholt es.

»Das hätten sie dir nicht sagen sollen.«

Das Auto erreicht die Auffahrt zum Highway. Laut rauscht der Verkehr an ihnen vorbei, und Iris erscheint es unmöglich, sich einzufädeln.

»Mindestens drei Monate lang sollten sie das niemandem erzählen. Dieses « – ihre Mutter spricht das Wort in dem Tonfall aus, der Dingen vorbehalten ist, denen sie nicht traut: die , die , dein  – »ist vielleicht morgen schon nicht mehr da.« Das Auto nähert sich dem Ende des Beschleunigungsstreifens, und kurz sieht es so aus, als könnten sie nirgendshin. Dann sind sie, Iris weiß nicht, wie, Teil des Stroms. Im Spiegel taucht ein anderes Auto in der Auffahrt auf, und schon reiht es sich ebenfalls in das anonyme Getümmel ein. Sie rasen an immer gleicher Landschaft, Betonabsperrungen, dünnen Bäumchen und einer im Wind wehenden blauen Plane vorbei, und Iris ist sich sicher, dass die Worte ihrer Mutter das Baby getötet haben. Das Auto wechselt die Spur. Morgen wird die Ehefrau mit einem Gefühl aufwachen, das sie nicht beschreiben kann, und der Ehemann wird sagen, das ist nichts, schon gut, , und natürlich wird Iris sie nie wiedersehen.

Kurz vor dem Collegeabschluss geht Iris mit einer Jungfrau aus. Die Prüfungen sind vorbei, und es gibt nichts mehr zu tun, außer auf Partys zu gehen und Sachen wegzuwerfen. Auf dem Gehweg stehen Lampen ohne Schirm neben Postern ohne Rahmen. Iris hievt ihr Bett aus dem Fenster, weil es nicht in einem Stück durch die Tür passt. Am helllichten Tag fangen sie und ihre Freunde zu trinken an, und am Nachmittag dösen sie beinahe ein, inmitten von Schüsseln mit eingetrocknetem Hummus und Wassermelonenschalen – die Billigversion einer Feier.

Die Jungfrau ist ein Junge namens Ben.

»Aber er ist reich«, sagt Iris’ beste Freundin, während sie ihn auf der anderen Seite des Gartens beobachten.

Charlotte ist die erste beste Freundin, die Iris jemals hatte. Anders als andere beste Freundinnen haben sie sich nicht am ersten Tag des Studiums kennengelernt. Ein ganzes Jahr musste Iris allein durchstehen. Charlotte ist, genau wie Ben, aus Manhattan. Von dort hat sie ihr Wissen über Musik und Alkohol und darüber, wie man die ganzen Zeichen entschlüsselt, die Geld hinterlässt. Sie ist diejenige, die Iris geraten hat, Schwarz und Weiß oder alternativ Herbstfarben zu tragen, nach Wodka-Shots Essiggurkenwasser zu trinken, Burger, Bagels und Bacon zu essen – nichts setzt ein so deutliches Statement, hat sie gesagt, wie männliche Gerichte mit weiblicher Anmut zu essen –, aber auf Milchprodukte zu verzichten. BHs mit Spitze und ohne Blumen zu tragen, einen Vibrator zu kaufen und alles in allem dankbar zu sein, dass sie nie von einem Teenagerjungen befummelt wurde.

Der erste Kuss mit Ben ist allzu kinoreif. In dem Moment, in dem sich ihre Lippen berühren, geht hinter ihnen der Rasensprenger an.

»Schau mich nicht so an«, sagt sie.

»Wie denn?«

Ihre Schuhe werden vollgespritzt. Iris’ Socken sind feucht.

»Als würden wir im Mondlicht tanzen.«

Er sieht ein wenig gekränkt aus, was irgendwie beruhigend ist.

»Als wäre das Schicksal.«

Ein paar Sekunden lang hält er die Augen geschlossen, und Iris weiß, dass er sich wünscht, jemand anders zu sein oder wenigstens auszusehen wie jemand anders, wenn er sie wieder öffnet. Sie widersteht dem Impuls, ihn an der Hand zu berühren oder an der glatten Haut über der Hüfte.

Als Iris Ben kennenlernt, hat sie schon eine Menge Sex gehabt. Manchmal guten, manchmal schlechten, und sie hat sich antrainiert, sich nicht zu viele Gedanken über die Qualität zu machen. Um sich keine Gedanken zu machen, braucht man in der Regel Willenskraft. Sie gibt sich selbst Aufgaben: Erdnussbutter direkt aus dem Glas essen, Lippenpflege aus der Drogerie klauen. Sie hat LSD eingeworfen, geschwänzt und einem Jungen erlaubt, Kreise um ihre Rosette zu lecken. Inzwischen liegen in ihrer Sockenschublade Dutzende Lippenpflegestifte, und manchmal nimmt sie sie heraus und guckt sie einfach nur an.

Iris versucht hinter den Grund für Bens Jungfräulichkeit zu kommen, aber ohne Erfolg. Attraktiv und nett genug ist er. Mit den meisten anderen mittelschweren Lastern, von denen Iris weiß, dass Männer sie mögen, hat er sich angefreundet: trinken und rauchen und von Oralsex schwärmen. Ein paar Tage lang küssen sie sich an Orten, an die sie später zurückdenken werden. In der Bibliothek, im Geviert und auf dem Dach der Kapelle, wo niemand hindarf, aber trotzdem alle hingehen. Sie fragt sich, warum es kein Wort für das Vorausahnen von Nostalgie gibt.

»Findest du mich kitschig?«

Er schüttelt den Kopf.

In der Nacht vor dem Abschluss liegen sie zum ersten Mal nackt auf Iris’ Matratze. Die Laken hat sie schon eingepackt und die Kissenbezüge mit dem peinlichen Gelbton weggeworfen.

Als er kommt, schließt sie die Augen, aber als sie sie wieder öffnet, hat er das Gesicht noch immer in einer Mischung aus Schmerz...


Sestanovich, Clare
Clare Sestanovich ist Redakteurin beim The New Yorker. Sie hat in Yale studiert und einen Abschluss in Kreativem Schreiben von der NYU. Ihre Texte sind in The New Yorker, The Paris Review und in Harper’s erschienen. Sie lebt in Brooklyn.



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