Sen | Die Idee der Gerechtigkeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 495 Seiten

Sen Die Idee der Gerechtigkeit

E-Book, Deutsch, 495 Seiten

ISBN: 978-3-406-61669-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Drei Kinder streiten darüber, wem von ihnen eine Flöte gehören sollte. Das erste Kind hat Musikunterricht gehabt und kann als einziges Flöte spielen. Das zweite ist arm und besitzt keinerlei anderes Spielzeug. Das dritte Kind hat die Flöte mit viel Ausdauer selbst angefertigt.
Mit diesem Gleichnis eröffnet Amartya Sen, einer der wichtigsten Denker unserer Zeit, sein Buch über die Idee der Gerechtigkeit. Es ist John Rawls gewidmet und grenzt sich doch von der wirkungsmächtigsten Gerechtigkeitstheorie des 20. Jahrhunderts ab. Wer eine weitere abstrakte Diskussion der institutionellen Grundlagen einer gerechten Gesellschaft erwartet, der wird enttäuscht sein. Wer sich hingegen darüber wundert, was diese Theorien eigentlich zur Bekämpfung real existierender Ungerechtigkeiten beitragen, der wird großen Gewinn daraus ziehen.
Sen nämlich stellt die Plausibilität solcher Anstrengungen der reinen Vernunft in Frage. Seine Theorie der Gerechtigkeit ist weniger an der Ausformulierung einer ethisch perfekten Gesellschaft interessiert als an Argumenten, deren Maßstab die konkrete Überwindung von Ungerechtigkeit ist. Sen eröffnet Perspektiven, die dem westlichen Denken meist fehlen. Seine Kenntnis der hinduistischen, buddhistischen und islamischen Kultur ist wundervoll eingewoben in das Buch und prägt den ganzen Charakter seines Philosophierens. Die Vernunft sucht die Wahrheit, wo immer sie sich finden lässt – und wie der Autor dieses außergewöhnlichen Werkes entdeckt sie auf ihrer weiten Reise viele gangbare Wege zu einer gerechteren Welt.
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Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;4
3;Zum Buch;495
4;Widmung;5
5;Impressum;5
6;Inhalt;6
7;Vorwort;8
8;Danksagung;22
9;Einleitung;30
10;ERSTER TEIL: DIE ANFORDERUNGEN DER GERECHTIGKEIT;58
10.1;1 Vernunft und Objektivität;60
10.2;2 Pro und kontra Rawls;81
10.3;3 Institutionen und Personen;104
10.4;4 Stimme und kollektive Entscheidung;116
10.5;5 Unparteilichkeit und Objektivität;142
10.6;6 Geschlossene und offene Unparteilichkeit;152
11;ZWEITER TEIL: FORMEN DES ARGUMENTIERENS;182
11.1;7 Standort, Relevanz und Illusion;184
11.2;8 Rationalität und die Anderen;203
11.3;9 Die Pluralität unparteiischer Gründe;223
11.4;10 Verwirklichungen, Folgen und Handeln;237
12;DRITTER TEIL: MATERIALIEN DER GERECHTIGKEIT;252
12.1;11 Leben, Freiheiten und Befähigungen;254
12.2;12 Befähigungen und Ressourcen;282
12.3;13 Glück, Wohlergehen und Befähigungen;298
12.4;14 Gleichheit und Freiheit;319
13;VIERTER TEIL: ÖFFENTLICHER VERNUNFTGEBRAUCH UND DEMOKRATIE;346
13.1;15 Demokratie als öffentliche Vernunft;348
13.2;16 Die demokratische Praxis;366
13.3;17 Menschenrechte und globale Imperative;383
13.4;18 Gerechtigkeit und die Welt;416
14;ANHANG;446
14.1;Anmerkungen;448
14.2;Personenregister;478
14.3;Sachregister;488


VORWORT
«In der kleinen Welt, in der Kinder leben», sagt Pip in Charles Dickens’ Roman Große Erwartungen, «gibt es nichts, was sie so feinsinnig aufnehmen und empfinden wie Ungerechtigkeit.»[1] Pip wird wohl Recht haben: Nach seiner demütigenden Begegnung mit Estella erinnert er sich lebhaft an die «launenhaften und gewalttätigen Zwangsmaßnahmen», die er als Kind von der Hand seiner eigenen Schwester erdulden musste. Aber auch Erwachsene nehmen offenkundiges Unrecht deutlich wahr. Nicht die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit auf der Welt unvollkommen ist – vollkommene Gerechtigkeit erwarten nur wenige von uns –, treibt uns zum Handeln, sondern die Tatsache, dass es in unserer Umgebung Ungerechtigkeiten gibt, die sich ausräumen lassen und die wir beenden wollen. Das ist greifbar genug in unserem täglichen Leben mit den Unbilligkeiten und Unterdrückungen, die uns zu schaffen machen und mit gutem Grund ärgern, aber es gilt auch für wahrgenommene Ungerechtigkeiten im weiteren Umkreis unserer Lebenswelt. Ohne einen Gerechtigkeitssinn, der ihnen sagte, dass manifeste Ungerechtigkeiten überwunden werden können, hätten die Pariser sehr wahrscheinlich die Bastille nicht gestürmt, hätte Gandhi das Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging, nicht herausgefordert, Martin Luther King nicht zum gewaltlosen Widerstand gegen die weiße Übermacht im «Land der Freien und der Heimat der Mutigen» aufgerufen. Sie versuchten nicht, eine vollkommen gerechte Welt zu erstreiten (selbst wenn Einigkeit darüber bestünde, wie sie aussehen würde), sondern sie wollten klares Unrecht beseitigen, so weit sie konnten. Unrecht zu erkennen, dem man abhelfen kann, ist nicht nur ein Beweggrund für unser Nachdenken über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern auch zentral für die Theorie der Gerechtigkeit – das möchte ich in diesem Buch zeigen. In der hier vorgelegten Untersuchung wird die Feststellung von Ungerechtigkeit oft genug als Ausgangspunkt für kritische Diskussion fungieren.[2] Aber warum sollte sie nicht auch ein guter Endpunkt sein, könnte man fragen.Warum müssen wir über unseren Sinn für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit hinausgehen? Wozu brauchen wir eine Theorie der Gerechtigkeit? Um die Welt zu verstehen, reicht es nicht, einfach nur unmittelbare Wahrnehmungen zu registrieren. Zum Verstehen gehört unvermeidlich Nachdenken. Wir müssen «studieren», was wir fühlen und zu sehen scheinen, und wir müssen fragen, was diese Wahrnehmungen anzeigen und wie wir ihnen angemessen Beachtung schenken können, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Eine dieser Fragen bezieht sich auf die Zuverlässigkeit unserer Gefühle und Eindrücke. Das Gespür für Ungerechtigkeit könnte als ein Signal dienen, das uns in Bewegung setzt, aber ein Signal muss kritisch untersucht werden, und eine Schlussfolgerung, die lediglich auf Signalen beruht, muss auf ihre Solidität hin geprüft werden. Adam Smith war überzeugt, dass ethische Gefühle wichtig sind, aber das hielt ihn nicht davon ab, nach einer «Theorie der ethischen Gefühle» zu suchen; er bestand darauf, dass ein Gefühl von Unrecht einer durchdachten kritischen Prüfung ausgesetzt werden muss, damit deutlich wird, ob es Grundlage für eine nachhaltige Verurteilung sein kann. Das Gleiche gilt für die Neigung, jemanden oder etwas zu rühmen; auch sie ist kritisch zu prüfen.*1 Wir müssen darüber hinaus fragen, welche Arten des Vernunftgebrauchs bei der Beurteilung der ethischen und politischen Konzepte von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zum Einsatz kommen sollen. Auf welche Weise kann die Diagnose einer Ungerechtigkeit oder dessen, was sie verringern oder beseitigen würde, objektiv sein? Wird Unparteilichkeit in einem besonderen Sinn verlangt, etwa das Absehen von den eigenen erworbenen Ansprüchen? Ist es auch nötig, gewisse Einstellungen zu überprüfen, selbst wenn sie nicht mit erworbenen Ansprüchen zusammenhängen, sondern ortsgebundene Vormeinungen und Vorurteile spiegeln, die in der durchdachten Konfrontation mit anderen, nicht im gleichen Provinzialismus befangenen Denkweisen vielleicht nicht standhalten? Welche Rolle spielen Rationalität und Vernünftigkeit für das Verständnis dessen, was Gerechtigkeit fordert? Diese Probleme und einige in engem Zusammenhang damit stehende allgemeinere Fragen werden in den ersten zehn Kapiteln behandelt, und anschließend befasse ich mich mit möglichen Anwendungen der Theorie: mit der kritischen Einschätzung der Grundlagen für Urteile über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (das können Freiheiten, Befähigungen, Ressourcen, Glück, Wohlergehen oder andere sein), mit der besonderen Relevanz diverser Erwägungen, die in die Rubrik Gleichheit und Freiheit einzuordnen sind, mit dem offenkundigen Zusammenhang zwischen dem Streben nach Gerechtigkeit und dem Verständnis von Demokratie als «Regierung durch Diskussion» und mit der Natur, Durchführbarkeit und Tragweite der Menschenrechte. Welche Art von Theorie? Die Überlegungen, die in diesem Buch präsentiert werden, zielen auf eine Theorie der Gerechtigkeit in einem sehr weiten Sinn. Sie soll klären, wie wir verfahren können, wenn wir Fragen der Erweiterung von Gerechtigkeit und Beseitigung von Ungerechtigkeit in Angriff nehmen wollen; sie hat nicht das Ziel, Antworten auf die Frage nach dem Wesen vollkommener Gerechtigkeit zu bieten. Darin unterscheidet sie sich deutlich von den Theorien der Gerechtigkeit, die in der gegenwärtigen politischen und Moralphilosophie das Feld beherrschen. Vor allem drei Unterschiede verdienen besondere Beachtung – in der Einleitung werden sie ausführlicher behandelt. Der erste Unterschied: Eine Theorie der Gerechtigkeit, die als Basis für den Gebrauch der praktischen Vernunft dienen kann, muss zeigen können, wie tatsächliche Versuche zur Verminderung von Ungerechtigkeit und Beförderung von Gerechtigkeit einzuschätzen sind; sie sollte sich nicht ausschließlich auf die Charakterisierung vollkommen gerechter Gesellschaften konzentrieren, wie es in den Theorien der Gerechtigkeit der politischen Philosophie von heute häufig geschieht. Es gibt Zusammenhänge zwischen diesen beiden verschiedenen Zielsetzungen, aber trotzdem sind sie analytisch voneinander entkoppelt. Das Ziel, auf das sich dieses Buch konzentriert, hat zentrale Bedeutung für Entscheidungen über Institutionen,Verhaltensweisen und andere Determinanten der Gerechtigkeit; und die Ableitung solcher Entscheidungen muss die wichtigste Aufgabe einer Theorie der Gerechtigkeit sein, die als Richtlinie für praxisorientierte Überlegungen dienen soll. Die Behauptung, dass diese vergleichende Arbeit erst möglich sei, nachdem die Aufforderungen der vollkommenen Gerechtigkeit geklärt wurden, diese Behauptung ist nachweislich ganz und gar falsch (im Kapitel 4, «Stimme und kollektive Entscheidung», wird der Nachweis geführt). Der zweite Unterschied: Manche Fragen der vergleichenden Beurteilung von Gerechtigkeit können zufrieden stellend geklärt werden, und mittels durchdachter Argumente ist dann Einigung zu erzielen, aber es gibt womöglich auch Vergleiche, in denen Meinungsverschiedenheiten über konkurrierende Erwägungen nicht völlig beigelegt werden können. Hier wird die These aufgestellt, dass mehrere verschiedene Gründe der Gerechtigkeit nebeneinander bestehen können, die alle kritischer Überprüfung standhalten, aber zu unterschiedlichen Folgerungen führen.*2 Vernünftige, in entgegengesetzte Richtungen weisende Argumente können von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen stammen, aber auch innerhalb einer einzigen bestimmten Gesellschaft und sogar in derselben Person vorkommen.**3 Um mit dem Konflikt zwischen einander widerstreitenden Ansprüchen umgehen zu können, brauchen wir eine vernünftige Auseinandersetzung mit anderen und mit uns selbst; die Haltung, die man «bindungslose Toleranz» nennen könnte und die bequeme Lösungen wie «Sie haben Recht in Ihrer Gemeinschaft und ich in meiner» bietet, ist dazu nicht geeignet. Vernunftgebrauch und unparteiische Überprüfung sind entscheidend. Aber auch nach der gründlichsten kritischen Untersuchung können einander widerstreitende und konkurrierende Argumente übrig bleiben, die durch unparteiische Überprüfung nicht auszuräumen sind. Im Folgenden werde ich mehr dazu sagen, möchte aber an dieser Stelle schon betonen, dass die Notwendigkeit des Vernunftgebrauchs und der kritischen Prüfung keinesfalls dadurch in Frage gestellt wird, dass womöglich einige konkurrierende Prioritäten die Konfrontation mit der Vernunft überdauern. Die Pluralität, mit der wir dann enden, wird das Resultat des Vernunftgebrauchs, nicht des Verzichts auf vernünftiges Denken sein. Der dritte Unterschied: Dass es Ungerechtigkeiten gibt, die sich beseitigen lassen, kann gut mit Übertretungen von Verhaltensregeln zusammenhängen und nicht mit institutionellen Mängeln (Pips in Große Erwartungen geschilderte Erinnerung an die Gewalttätigkeit seiner Schwester war nur dies, aber keine Verurteilung der Institution Familie). Gerechtigkeit ist letzten Endes...


Amartya Sen, geboren 1933 in Shantiniketan in Indien, lehrt an der Harvard University als Professor für Philosophie und Ökonomie. Bis 2004 war er außerdem Master des Trinity-College an der Cambridge University. Sen hat u.a. in Kalkutta, New Delhi, London und Oxford gelehrt. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, 2007 den Meister-Eckhart-Preis. Er gilt als einer der einflussreichsten Denker der Gegenwart und wurde für sein Werk mit über 100 Ehrendoktoraten ausgezeichnet. Im Oktober 2020 wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

Zu seinen Forschungs- und Publikationsthemen zählen die Entwicklungs- und Wohlfahrtsökonomie, die Entscheidungstheorie, Sozialwahltheorie, Gender Studies und Fragen zur sozialen Ungleichheit. Er selbst stellt sich in einer abkürzenden Auswahl als „Asiate, Bürger Indiens, Bengale mit bangladeschischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonom, Dilettant auf philosophischen Gebiet, Autor, Sanskritist, entschiedener Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feminist, Heterosexueller, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Mensch mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmane und Ungläubiger, was das Leben nach den Tod angeht“ vor.


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