E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Sem-Sandberg W.
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-12085-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-608-12085-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Steve Sem-Sandberg, geboren 1958 in Oslo, ist einer der renommiertesten skandinavischen Autoren. Für den Roman »Die Elenden von ?ód?« bekam er den August-Preis verliehen. Sein neuer Roman »W.« wurde von der schwedischen Presse gefeiert, gewann den Eyvind Johnson Prize 2020 sowie den Delblanc Preis 2021 und stand auf der Shortlist des August-Preises sowie des Preises des Nordischen Rates. Steve Sem-Sandberg lebt in Stockholm und wurde 2020 in das Komitee der Schwedischen Akademie gewählt.
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Beim Polizeiverhör, das hernach stattfand, konnte er sich nicht erinnern, woher die Worte gekommen waren oder was für eine Stimme sie gesprochen hatte, er sagte nur, es sei gewesen, als packe ihn die Hand eines Riesen bei der Brust und schleudere ihn zu Boden. Und die Kraft dieser Bewegung sei so, ja, wie sollte er sagen, so verstummend gewesen, dass es ihm danach vorgekommen sei, als wäre nicht das Geringste geschehen, als wären die Worte nicht einmal ausgesprochen worden. Er hatte mit Johanna vereinbart, sich an diesem Tag bei der Funkenburg zu treffen. Oder besser gesagt: Er hatte nicht genau gewusst, ob sie etwas vereinbart hatten. Als sie sich zuletzt sahen, war sie zu ihm gekommen, und zum ersten Mal seit Langem hatte sie ihn berührt. Auch hatte sie nach dem Namen eines Soldaten von der Stadtwache gefragt, von dem sie annahm, er kenne ihn, und hinterher hatte er gefragt, ob sie nicht auch einmal mit ihm ausgehen könne, die Abende wären doch jetzt hell und lang. Und sie hatte ihn mit ihren schrägen Wolfsaugen und mit diesem Lächeln angesehen, das sie ihm aus irgendeinem Grund so häufig zuwarf, amüsiert und zugleich etwas mitleidig, wie wenn man ein Kind ansieht, und hatte gesagt, das tue sie gern. Doch hätten sie nichts Bestimmtes vereinbart, sagte er, und die beiden Gendarmen starrten ihn verständnislos an. Der eine war ein dünnhaariger Wachtmeister, der hinter einem schweren Eichenschreibtisch saß, der andere ein bedeutend jüngerer Kollege, schmal und hoch aufgeschossen. Der Jüngere führte das Protokoll, doch statt zu schreiben, saß er nur untätig da, rieb die Daumen aneinander und befeuchtete die Lippen mit der Zunge, als wäre es ihm unbehaglich, im selben Raum mit einem Mann zu weilen, der bei der grausigsten aller denkbaren Taten ertappt worden war. W. blickte auf seine Hände hinunter. Sie zitterten nicht mehr. Das sei der Grund gewesen, sagte er schließlich, weshalb er bereits vormittags bei der Goldenen Gans vorbeigeschaut habe. Er war sich ja nicht sicher, ob sie verabredet hatten, gemeinsam hinzugehen oder nicht, ihr Wort hatte sie ihm ja nicht gegeben. Doch war sie nicht da, als er kam. Auch bei Warnecks war sie nicht oder in der Sandgasse, wo sie bei Frau Wognitz ein Zimmer mietete. Sie musste bereits frühmorgens aufgebrochen sein, oder sie war die Nacht über gar nicht daheim gewesen; das war der Moment, in dem er das erste Mal beschlossen hatte, sich hinzubegeben. Sich wohin zu begeben?, fragte der Wachtmeister. Zur Funkenburg. Dem Gartenrestaurant. Vielleicht hatte sie ja rechtzeitig da sein wollen, um sicherzugehen, einen Tisch in der Nähe der Musikkapelle zu bekommen. Ein paar am alten Brauhaus lungernde Bekannte hatten ihm jedoch mitgeteilt, dass sie früher am Morgen auf dem Brühl gesehen worden war, Arm in Arm mit dem Soldaten Böttcher, und diesen Böttcher kannte er ja schon, diesen großen, stattlichen Kerl, leicht rotgesichtig und mit borstigem Schnauzer und Wangenbart. Er hatte sie bereits mehrmals zusammen gesehen. Einmal waren sie durch Bosens Garten spaziert. Er war in geringer Entfernung an ihnen vorbeigegangen und hatte beschlossen, nicht zu grüßen. Doch was hatte das die beiden gekümmert? Sie waren Arm in Arm gegangen, und Johanna hatte nur Augen für diesen anderen, hatte ihn beim Gehen angelächelt, aber nicht so, wie sie ihn, Woyzeck, anlächelte, wie ein Kind oder einen Zurückgebliebenen, sondern freiheraus, er würde nachgerade sagen wollen dreist, und ganz gewiss war etwas an diesem Lächeln gewesen, was ihn zum Kochen brachte, denn hernach, er wusste nicht, ob noch am selben Abend oder an einem anderen Abend oder sogar erst Wochen später, war er so aufgebracht und verzweifelt gewesen, dass er nicht anders gekonnt hätte, als sie in der Sandgasse aufzusuchen, trotz ihres ausdrücklichen Verbots, und da wusste er freilich nicht, ob es dieser Böttcher war, mit dem sie erneut zusammen war, oder ein anderer, und sehen hat er es auch nicht können, denn Frau Wognitz, bei der sie zur Miete wohnte, schritt mit einem Besen ein und scheuchte ihn die Treppenstufen hinab, und hinterher stand sie am Fenster und schrie so laut, dass es überall im Viertel zu hören war: Jetzt heim mit ihm, Woyzeck, scher er sich heim: Adieu, adieu …! Der Wachtmeister hat nun endgültig die Geduld mit ihm verloren. Er will wissen, wie es sich mit der Mordwaffe verhält. Hatte er sie bereits parat, als er das erste Mal zur Funkenburg aufbrach, also schon am Vormittag? Oder erst, als er verstanden hatte, dass die Witwe Woost sich stattdessen mit diesem Soldaten, wie immer er auch hieß, eingelassen hatte? Wie hieß er noch gleich? Letzteres fragt er seinen Untergebenen, der die gemachten Aufzeichnungen hastig überfliegt und brummelnd antwortet. Böttcher, sagt er und befeuchtet die Mundwinkel mit der Zunge. Oder hat er sich die Waffe bereits früher beschafft? Wenn dem so war, wie war er ihrer habhaft geworden? W. streicht sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er kann partout nicht begreifen, warum gerade die Waffe sie dermaßen beschäftigt. Er versucht zu erklären, dass er die Degenklinge seit Langem in Besitz hatte, doch war sie nicht vollständig, es fehlte mehr als die Hälfte, und er bewahrte sie in einem ledergefütterten Stoffbeutel auf, denn sie hatte keinen Griff. Habe er sich also schon in dem Moment zur Tat entschieden, als ihm klar geworden war, dass die Witwe Woost nicht Wort halten würde und stattdessen die Gesellschaft dieses Soldaten, wie hieß er noch gleich, Blechner, vorzog? Aber so ist es nicht gewesen. Ich habe mich nicht entschieden, sagt er so still und gelassen, wie er nur kann. Alles war bereits entschieden, verstehen Sie, Herr Wachtmeister. Es war, als packte mich die Hand eines Riesen bei der Brust, und danach war es, als wäre nichts gewesen. Ich fühlte mich leicht ums Herz, sagt er und starrt auf seine Hände hinab, die gefaltet im Schoß liegen. Sie haben wieder zu zittern begonnen. Auch der Wachtmeister hat die Hände im Visier. Wenn wir also zu den Geschehnissen des aktuellen Tages zurückkehren könnten, sagt er, seinem Kollegen einen bedeutungsvollen Blick zuwerfend. Als Sie also erfahren hatten, dass die Witwe Woost in der Gesellschaft dieses Soldaten Böttcher war, was passierte darauf? Er streicht sich mit den Händen vom Haaransatz über Stirn und Augen bis zu Kinn und Hals hinunter. Sie zittern jetzt noch stärker, der ganze Körper zittert. Er versucht sich zu entsinnen. Die Tage verschwimmen. Eigentlich hatte er in den letzten Wochen keine feste Wohnstatt gehabt, war meist umhergestreift, hatte, wo es möglich war, ein paar Groschen geliehen, hatte geschlafen, wo man ihm Logis gewährte, und an Tagen, wo er nichts gefunden hatte, im Freien. Die Nächte waren schließlich warm und trocken gewesen. Die Geduld des Wachtmeisters ist nun aber ein für alle Mal zu Ende. Habe er sie auch in dieser Zeit bei sich getragen?, fragt er und meint die Degenklinge. Und Woyzeck weiß nicht, was er antworten soll. Das müsse der Herr Wachtmeister doch verstehen, es sammle sich schließlich so einiges an, und die Degenklinge war zwar zerbrochen, aber vielleicht ließ sie sich ja eintauschen, gegen etwas Essbares zum Beispiel. Keinen Augenblick lang habe er sich jedoch vorgestellt, dass sie eine solche Verwendung finden könnte. Und irgendwann habe er überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Ich war auf Bekannte aus dem Wirtshaus gestoßen. Der Apotheker war es und der Schlachtergehilfe Bon und Warnecks zwei Lehrjungen. Ich setzte mich eine Weile zu ihnen, weil sie im Schatten saßen, und sie wollten spendieren. Sie waren zu diesem Zeitpunkt also betrunken? Nein, nicht betrunken! Wie soll er es ihnen erklären. Es war, als befände er sich an einem Ort, an dem es keine Gedanken gab. Er erinnert sich an den Wind, der durch die hohen Linden strich, an das Licht, das Blätterschatten über die noch leeren Tische schickte, und an den Boden darunter: das Muster, das die zitternden Blätter bildeten, und wie er sich plötzlich frei fühlt von allem, was sonst stets so drückend und würgend ist. Leer, geradezu schwerelos. Die lastende Schwere anderer Körper, die sich für gewöhnlich überall bewegen, wo er ist, die Stimmen, die Schreie, all das kümmert ihn nicht mehr. Es ist, als schwebte er irgendwo zwischen Schlaf und Wachen, der Leib wie in Dämmer gesunken, gleichwohl ist er so hell und klar im Kopf, dass alles mit der Wahrnehmung ganzer Kraft auf ihn einstürzt; und manchmal hat er gedacht, dieser Zustand sei der einzig wahre. Erst als, was um ihn herum geschieht, ihn nicht länger kümmert, vermag er die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was er wirklich erinnern, woran er wirklich denken will. An Johannas Haut, da, wo sie am verwundbarsten und schutzlosesten ist, hinterm Ohr und hinunter zum Nacken, in der Halsgrube oder zwischen den Schulterblättern. An ihr tiefes, dunkles Lachen, wenn sie ihn langsam in sich einführt. In das Süße, Warme, Feuchte. Das aber kann er ihnen nicht...