E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Seligmann Rafi, Judenbub
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7844-8428-0
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Rückkehr der Seligmanns nach Deutschland
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8428-0
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1957 kehren Ludwig und Hannah Seligmann mit dem 10-jährigen Rafael nach Deutschland zurück. Es fällt ihnen schwer, in der alten Heimat Fuß zu fassen. Rafi und sein Vater leiden zunehmend unter Vorurteilen. Die Familie übersiedelt schließlich nach München, wo sie sich allmählich einlebt. Trotz aller Hindernisse macht der verträumte Schulversager Rafael das Abitur, studiert Geschichte und hat – gegen den erbitterten Widerstand der Mutter – eine Beziehung mit Ingrid, einer "Schickse". Ebenso einfühlsam wie unsentimental erzählt Rafael Seligmann im dritten Teil seiner Familiensaga von der schwierigen Suche nach der verlorenen Heimat des Vaters. Sein Roman ist zugleich ein Stück Zeitgeschichte aus einem Deutschland, in dem die Verantwortung für die Vergangenheit noch kaum im öffentlichen Bewusstsein verankert war.
"Wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts Familiengeschichten bestimmt, das hat der Historiker und Schriftsteller Rafael Seligmann auf einzigartige Weise sichtbar gemacht." Deutschlandfunk
Autoren/Hrsg.
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Judenbuben Rafael Ich freute mich auf die Schule. Dann konnte ich endlich aus dem Zimmer in der Pension »Sonnenschein« in der Klenzestraße herauskommen, in dem ich seit unserer Ankunft in München mit meinen Eltern wohnte. Das war vor einigen Wochen gewesen. Gelegentlich ging Vater mit mir an der Isar spazieren. Der weite Grasstreifen am grünen Fluss war toll. So etwas Schönes kannte ich in Israel nicht. Aba war selten zu Hause, und Ima verbrachte den ganzen Tag im Zimmer und las Zeitung. Obwohl ich Deutsch konnte, verstand ich die Zeitung nicht, denn in Israel hatte ich in der Schule nur Iwrith lesen und schreiben gelernt. Deshalb hatte ich ein bisschen Angst. Aber irgendwie würde es schon klappen. Ich sprach schon immer Deutsch. Da werde ich auch schnell deutsch schreiben und lesen können. Das hatte auch der Schuldirektor gesagt, der sich mit mir unterhalten hatte. »Der Junge spricht tadellos Deutsch. Er besitzt jüdische Intelligenz. Wir stecken ihn in die vierte Klasse, wo er altersmäßig hingehört.« Der Leiter der Schule trug einen weißen Kittel wie ein Arzt und eine randlose Brille auf der Nase. Er machte einen strengen Eindruck, nicht wie unser Direktor in Herzliya, der sagte, er sei unser »bester Freund«. Auch das Schulgebäude war ganz anders als in Israel, wenig Licht, dicke Mauern, hohe Decken. Ich wartete mit einer Reihe von Jungen auf dem Gang. Anders als in unserer Schule in Herzliya gab es hier keine Mädchen. Aber die Buben tobten wie in Israel. »Obacht, der Pauker!« »Was ist Pauker?«, fragte ich einen Jungen neben mir. »Der Lehrer, Herr Walk.« Es erschien ein dicker Mann mit Schnauzer in Motorradkleidung. Sofort drosch er mit seinen schweren Handschuhen wahllos in unsere Reihe und schrie dabei »Ruhe! Saubande.« Augenblicklich wurde es still. Wir folgten dem Lehrer ins Klassenzimmer, wo wir so lange zu stehen hatten, bis Herr Walk seine Lederkluft ablegte, um wie der Direktor in einen weißen Kittel zu schlüpfen. Erst als er hinter seinem Pult Platz genommen und uns genau gemustert hatte, gab er das Kommando: »Setzen!« Ehe wir Israel verließen, hatte mir Mutter die deutschen Buchstaben beigebracht. Doch diese zu Wörtern zusammenzustellen, sie flüssig auszusprechen und zu begreifen, konnte ich noch nicht. Darum war ich nicht einmal in der Lage, Rechenaufgaben zu verstehen. Um meine Fähigkeiten hier zu testen, ließ mich Herr Walk zusammenzählen, abziehen, malnehmen, teilen. »Du kannst gut rechnen, wie sich’s für einen Judenbub gehört.« Gelegentlich benutzte Herr Walk auch den Tatzenstecken. Dann musste der Schüler vor ihn hintreten. Der Lehrer nahm dessen Hand, mit der anderen hielt er den Rohrstock, zielte und kreischte dabei: »Sakra, Sakra, Sakrament!« Beim letzten Wort sauste der Stock nieder. Einmal, dreimal oder fünfmal. Daraufhin ließ Walk die Hand des Jungen mit angewidertem Gesichtsausdruck los und tönte: »Wenn ich dich noch einmal beim Schwätzen oder beim Spicken erwisch, leg ich dich übers Knie und hau dir die Seele aus dem Leib. Hundskrüppl, verreckter!« In der 4b gab es noch einen anderen jüdischen Schüler, der wie ich nicht den katholischen Religionsunterricht mitmachen musste. Ich mochte Edwin nicht, denn wenn mich seine Mutter einlud, ließ er mich nicht mit seinen tollen Spielsachen, auch nicht mit dem fernlenkbaren Feuerwehrauto spielen. In der Schule rief Herr Walk Edwin, der schlecht im Rechnen war, an die Tafel und führte uns seine Blödheit vor, bis der Junge zu weinen begann. Dann lächelte der Lehrer. »Du wirst es schwer haben im Leben, Berg, wenn du nicht mal imstande bist zu rechnen, um deine deutschen Kunden zu übervorteilen. Nimm dir ein Beispiel am Seligmann, der kann zwar nicht schreiben und lesen, aber rechnen kann er.« Die Schüler lachten. Das ließ Edwin noch mehr heulen, und ich war wütend. Denn durch seine Flennerei machte er auch mich lächerlich. Nach dem Unterricht fingen einige Mitschüler »die Heulsuse« ab und brachten Edwin durch Schläge wieder zum Weinen. Ich half ihm, weil er mir leidtat, als er die Hände vors Gesicht hielt, statt sich zu wehren. Da tauchte Frau Berg auf, mahnte die Schläger, Edwin loszulassen, und machte sich mit ihm flugs davon. Jetzt waren die Buben zornig auf mich. Mir wurde ein Taschentuch in den Mund gesteckt, dann wurde ich verprügelt. Als ich am Boden lag, bekam ich noch einige Tritte ab. Endlich hatten die Raufbolde genug. Hannah Die Nazibrut hatte Rafi zugerichtet wie ihre SA-Väter einst die Juden. Aber die Zeiten waren vorbei, in denen ich die Pogrome des Antisemitenpacks wehrlos hinzunehmen bereit war! Da Ludwig nicht da war, ging ich sogleich alleine zum Schulleiter. Der Goj wollte mich nicht außerhalb seiner Sprechstunde empfangen. Doch ich bestand darauf, mit ihm auf der Stelle zu reden. Er bot mir nicht einmal einen Stuhl an. »Herr Petzold. Ich erlaube nicht, dass mein Kind von Ihrer antisemitischen Horde malträtiert wird! Wenn Rafael noch einmal ein Haar gekrümmt wird, dann melde ich Sie den Behörden und werde nicht ruhen, bis man Sie bestraft.« Sein Teint lief violett an, als er mich anbrüllte: »Hinaus! Nehmen Sie Ihren Judenbuben und verschwinden Sie nach Palästina! Auf der Stelle!« Nachdem ich mich in der Israelitischen Kultusgemeinde nach dem Leiter der Münchner Schulen erkundigt hatte, begab ich mich ins Stadtschulreferat. Dass Dr. Fingerles Terminkalender belegt war, wie mir seine Sekretärin versicherte, hinderte mich nicht daran, in das Büro des Schulchefs zu gehen. Der blasse Mann mit streng gescheiteltem grauem Haar saß hinter einem mit Akten überladenen Schreibtisch. Er sah mich durch dicke Brillengläser überrascht an, als ich ohne Aufforderung sprach. »Herr Dr. Fingerle, mein Name ist Seligmann. Wir sind vor Wochen aus Israel nach München gekommen. Mein Sohn Rafael geht hier zur Schule. Er ist dort brutal geschlagen worden. Als ich mich darüber beschwert habe, hat mich der Direktor hinausgeworfen und gesagt, ich solle mit meinem Kind nach Palästina verschwinden.« Ich sprach mit ruhiger Stimme, doch mein Herz schlug mir bis zum Hals. Fingerle bot mir einen Stuhl an. »Danke, dass Sie zu mir gekommen sind, Frau Seligmann. Unsere jüdischen Mitbürger sind uns hoch willkommen. Ich dulde derartige üble Vorfälle nicht! Das Verhalten des Schulleiters ist empörend und wird strenge Konsequenzen zeitigen. Um welche Schule handelt es sich bitte?« Herr Doktor Fingerle ließ sich umgehend mit dem Mann verbinden und gab ihm ordentlich Bescheid. »Sie haben wohl nicht begriffen, dass wir in einem demokratischen Staat leben, in dem Menschenwürde gilt?! Sollte mir noch das kleinste Vergehen aus Ihrer Anstalt gemeldet werden, stelle ich Sie umgehend vom Dienst frei. Ich verlange, dass Sie sich bei Frau Seligmann entschuldigen und die Schläger gehörig bestrafen!« Dr. Fingerle versicherte mir, dass mein Rafi fortan unbesorgt die Schule besuchen könne. Ich solle nicht zögern, ihn persönlich zu unterrichten, falls ich Grund zur Beschwerde hätte. Als ich meinem Sohn nach der Schule von meinem Besuch beim Stadtschulrat und von dessen Worten erzählte, machte er ein betretenes Gesicht. Warum? »Weil man Petzer hasst. In Israel und sicher auch hier.« »Sollen sie dich ruhig hassen, Rafi. Auf Antisemiten darf man keine Rücksicht nehmen!« Rafael Wir hatten kaum Platz genommen, als energisch an die Tür gepocht wurde. Unser Türöffner Fritzi eilte nach vorn. Doch noch ehe er aufmachen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Fritzi rief dem ins Zimmer stürmenden Direktor ein »Grüß Gott, Herr …« entgegen, da gab dieser ihm eine Backpfeife. Der Lehrer befahl uns: »Aufstehen!« Der Schulleiter raunzte ihn sofort an. »Nach zwanzig Jahren im Schuldienst kennen Sie Ihre Pflichten noch immer nicht. Als Klassenlehrer tragen Sie Verantwortung für Ihre Schüler. Stattdessen lassen Sie zu, dass die Judenbuben von ihren Mitschülern durchgehauen werden! Sie glauben wohl, wir leben noch im Dritten Reich? Die Zeiten sind vorbei! Eine Mutter hat Sie denunziert. Kommt so was nochmals vor, entferne ich Sie unverzüglich aus dem Amt! Haben Sie verstanden, Walk?!« »Jawohl, Herr Direktor!« »Das will ich für Sie hoffen!« Der Schulleiter machte auf dem Absatz kehrt und jagte davon, ohne sich um Fritzi zu kümmern, der sich die Wange hielt. »Wer von euch hat die Judenknaben angefasst? Sagt’s lieber gleich, ich krieg’s ja doch raus! Dann hilft euch kein Gott. Dem brech ich das Genick!«, brüllte Walk. Die Jungen schwiegen. »Setzen!« Walk ging langsam durch die Bänke. Da niemand schwach wurde, trat der Lehrer zu Edwin und sprach mit einschmeichelnder Stimme: »Berg, wer von deinen garstigen Klassenkameraden hat euch geschunden?« Edwin schwieg. »Wer, verflucht noch mal?«, fuhr Walk auf. »Ich mache das, um dich zu schützen! Und du schweigst verstockt!« Edwin konnte zwar nicht mit Zahlen rechnen, doch mit Rache. »Ich weiß es nicht genau …« »Dann sag’s ungenau!« »Ich … kann mich an nichts mehr erinnern.« »Zehn und schon verkalkt und vertrottelt.« Mit einem »Maul halten!« brachte Walk das aufglucksende Gelächter zum Schweigen und wandte sich mir zu. »Und du, Seligmann, du israelischer Held, hast auch alles vergessen, was?« »Nein! Es waren der Girgl, der Schober und der Vogel.« Stille. Auch ich hatte den Mund halten wollen. Doch als Walk mich als...