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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Self Leberknödel


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-455-81371-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-455-81371-5
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie lebt man weiter, wenn das Todesurteil aufgehoben zu sein scheint? Die englische Witwe Joyce Beddoes leidet an Leberkrebs und fliegt mit ihrer alkoholsüchtigen Tochter in die Schweiz, um dort »in Würde« zu sterben. In letzter Minute verweigert sie jedoch das tödliche Gift und verlässt die Sterbeklinik. Sie driftet durch Zürich, und während sie sich von ihrer Tochter immer mehr entfernt, geht es ihr von Tag zu Tag besser. Als die Ärzte den Tumor nicht mehr nachweisen können, glauben die Mitglieder einer katholischen Gemeinde an ein Wunder. Aber je mehr sich ihre körperliche Verfassung bessert, desto entschiedener verweigert Joyce dieses geschenkte Leben ... - Will Self, brillanter Chronist der Neurosen unserer Zeit, erzählt von einer Frau, der die allgegenwärtige Sinnsuche in einer Extremsituation zur Farce gerät.      

Will Self ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Englands. Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt die Romane Dorian: Eine Nachahmung (2008), Die Kippe (2011) sowie bei Hoffmann und Campe Regenschirm (2014), der für den Man Booker Prize nominiert war, und Shark (2016). Will Self lebt in London.
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Kyrie


… Schaudernd erreichte Joyce die Ankunftshalle, sie zitterte regelrecht, als sie sich durch den gedämpften Lärm der Einkaufszeilen schob. Ihr blieb nichts übrig –  –, als ihrer Tochter zuzugestehen, dass . Selbstverständlich hatten sie nur Handgepäck dabei. Joyce rechnete zwar damit, ewig zu bleiben, meinte aber trotzdem, ohne ein Totenhemd zum Wechseln auszukommen. Isobel wollte gleich am nächsten Tag wieder zurückfliegen.

Trotzdem war Isobel gezwungen, mit ihrer Mutter im Schlepptau einen Gepäckwagen zu finden und nach dem Weg zu fragen – beides Aufgaben, die sie in Joyces Augen nur unzulänglich erfüllte. Ihre Tochter war laut und gleichzeitig ineffizient: Sie wackelte, wenn sie ging, in gespieltem Triumph mit den breiten Hüften. Ihre hochhackigen Stiefel, die enge Jeans, die kurze Lederjacke waren offenbar gewählt, um ihr Übergewicht zu betonen. Sie hatte das schwerfällig Draufgängerische ihres Vaters, dachte Joyce nicht zum ersten Mal, allerdings fehlte ihr sein Charme.

Endlich saßen sie im Taxi, einem schwarzen Mercedes, der ihnen so perfekt passte wie ein . Als der Wagen anfuhr, schimpfte Joyce mit sich selbst.

Schon die Wörter auf den Schildern – pummelige Vokale, klobige Konsonanten – wirkten schwerfällig. Die Wohnblöcke und Fabrikhallen, die die Straße säumten, waren dick wie der Stiernacken des Taxifahrers.

Isobel hatte ihrer Mutter erzählt, dass sie in Soho, London, den Inhalt einiger Zimmer, die Jahrzehnte zuvor verschlossen und versiegelt sich selbst überlassen worden waren, minuziös fotografierte. Mit steigender Begeisterung hatte sie von dem verlassenen Büro eines Mr Vogel berichtet, das mit Hektographen, Stempeln, Schreibmaschinen und jeder Art von Bürogerät aus den Fünfzigerjahren – und sogar früher – vollgestellt war, alles noch in Originalkartons.

Joyce hatte nickend zugehört und einige ermutigende Geräusche von sich gegeben, als Isobel erklärte, dass sie ein visuelles Inventar von Objekten herstelle, die in gewisser Weise der Zeit getrotzt hätten. Tatsächlich dachte ihre Mutter, dass das bestimmt keine Arbeit war – und erst recht keine Kunst, sondern , eine Art , dem das längst erwachsene Mädchen frönte, eine Leidenschaft, der verschiedene öffentliche Institutionen – Universitäten, Stadtverwaltungen, Büchereien – gern Vorschub leisteten, indem sie sie durch Zuschüsse unterstützten.

Wie unfassbar langweilig: das Eintauchen der Unterführung unter den Buckel eines baumbestandenen Hügels.

Als sich Joyce oben im Himmel  – und dabei nicht eine Sekunde lang über das Platzen all der anderen Gedankenblasenwelten nachgedacht hatte, die doch alle ebenso zerbrechlich und vollständig waren, ja die jeweils die Vollständigkeit aller anderen prachtvoll widerspiegelten –, hatte die Angst die Banalität ihres eigenen ordnungsgemäß verabreichten Todes ausgelöscht, eine Alltäglichkeit, die sie nun ganz einhüllte wie der kalte, schmutzige Schnee, der den Straßenrand bedeckte.

Isobel nahm ihr Handy und schaltete es ein, und Joyce rief aus: »Bitte, Isobel, wir hatten uns doch geeinigt –«

»Ich wollte nur schauen, ob es geht, Mama«, sagte sie einigermaßen gefasst, bevor ihre von Rührung bewegte Stimme die Tonleiter hinaufstieg: »Ich. Muss vielleicht. Mal anrufen – nachher. Morgen. Du weißt ja«, um am Ende den höchsten Ton der Tränen zu treffen. Isobel war plötzlich wieder ein kleines Mädchen, sie saß im Schlafzimmer auf dem Boden, überwältigt von einer kolossalen Trauer, die durch die geringfügigste Verschiebung eines Tableaus winziger Püppchen verursacht worden war. Und so kam sie näher – oder vielmehr, Joyce rückte ihr ein kleines Stück entgegen. Aus dem Schatten ihres eigenen Todes kroch sie in das fahle Sonnenlicht der Liebe zu der Tochter, die sie getragen und ertragen hatte.

Die beiden Frauen lagen sich in den Armen, sie weinten, ohne vom Vorankommen des Mercedes Notiz zu nehmen, der zwischen prächtigen Villen, dann Wohnblöcken, dann dem grünen Farbklecks des Universitätsgeländes den Hang hinabrauschte. Eine Straßenbahn klingel-tingel-brauste in Gegenrichtung vorbei, rechter Hand erstrahlte die Limmat in demselben Züngeln, das auch auf den Kuppeln, Kirchen und Türmen der Zürcher Altstadt spielte.

Joyce hatte – so wie man es ihr beigebracht hatte – eine Auswahl der relevanten Fachliteratur gelesen. Der Leberkrebs und das unmittelbare Bevorstehen des Todes selbst würden, so hatte sie erfahren, ihre gesamten Kräfte in Anspruch nehmen. Die Alltagswelt würde beinahe angenehm in den Hintergrund treten, Milchlieferungen und Steuererklärungen würden nun, da die wichtigsten Unbekannten auf der Schwelle zum Bekannten standen, wie metaphysische Abstraktionen auf sie wirken.

Und doch … und doch war es überhaupt nicht so gekommen. Zwar hatte sie sich tatsächlich in der weiten Soutane des Todes, ihrem schweren und unsichtbaren Faltenwurf verfangen – um nicht zu sagen verirrt –, doch gab es vor dem Trivialen, dem Hässlichen, dem Banalen kein Entkommen.

Noch in Birmingham hatten sie über das Hotel gestritten. Isobel wollte ein Vier-Sterne-Hotel mit allem Drum und Dran, während Joyce für Schlichteres plädierte: nicht etwa, weil sie sich etwas versagen wollte – warum auch? –, sondern weil sie selbst in dieser späten Lebensstunde ihrer Tochter noch eine letzte Moralpredigt über die Tugend der Sparsamkeit halten wollte.

»Aber warum, Mama? Warum willst du die Nacht in einer dreckigen kleinen Pension verbringen?« Isobel hatte am Computer gesessen, der in dem engen Zimmer, in dem ihr Vater gearbeitet hatte, auf einem Rollschreibtisch stand. »Das hier«, sie tipp-pingte auf den Bildschirm, »soll sehr hübsch sein –«

»Hübsch?«

»Na ja, stilvoll.«

Joyce verzog das Gesicht. Sie verstand sehr wohl, dass das alles für ihre Tochter schwer war, aber musste sie denn jedes einzelne Detail selbst planen? Das Vorzimmer des Todes zu reservieren war eigentlich nur ein geringfügiges Organisationsproblem, doch Joyce ahnte, dass sich im psychischen Hinterland ihrer Tochter ein Büroraum an den anderen reihte, ausnahmslos belegt von inkompetenten, ihre Zeit absitzenden Leuten, von denen nicht ein einziger den gehabt hätte, auch nur eine Tonerkassette für den Kopierer zu bestellen, hätte nicht Joyce sich so beflissentlich um alles gekümmert.

Es galt, Phillimores Gutachten zu besorgen und Joyces Geburtsurkunde. Es gab die ersten Anrufe in die Schweiz, gefolgt vom Hin-und-her der E-Mails, die Termine und Einzelheiten betreffend. Als Nächstes mussten die Hausbesuche arrangiert werden. Ausgebildete Hospizschwestern kamen, um den aus der Ferne gelenkten Prozess zu begleiten. Sie bezeichneten sich als »Suizidassistentinnen«, was Joyce als typisch schweizerische Sachlichkeit verbuchte. All dies erledigte Joyce selbst. Insgeheim wussten beide, dass Isobel sich als völlig unfähig erweisen würde, wenn sie es zu lange liegen ließe.

Die erste Diagnose hatte Joyce im September des Vorjahres bekommen, und kurz vor Weihnachten gab man ihr noch sechs Monate. Was für ein Geschenk. Und zwar eines, das nur widerwillig herausgerückt wurde, von Phillimore, in einer Weise, die, so mutmaßte sie, wohl als Kompliment für ihr nüchternes Gebaren gedacht war. »Jo, selbst mit einer weiteren Chemo sind fünfzig Prozent der Leute mit diesem Krebs innerhalb von sechs Monaten tot.« Was für ein Geschenk. Ein bisschen Zeit. Keine Hoffnung.

Jetzt war es schon März, und Joyce fühlte sich nicht . Unter anderen, leichter zu delegierenden Umständen hätte sie vielleicht noch bis in den Frühling verweilen können, um zu erleben, wie die Blumenzwiebeln sprössen, die sie – auf Knien, wie zum Gebet, die Hände in der wurmigen Erde gefaltet – gesetzt hatte. Sie hätte verweilen können, bis die Kirschblüten die Vorstadt aufhübschten, bis Scoresbys – und ihr eigenes – Requiem in der Konzerthalle aufgeführt würde.

Hätte sie vielleicht – wenn sie nicht in ihrem Leben genügend Krebskranke gesehen hätte, um zu wissen, wie schrecklich die schleichende Normalität des Endstadiums war: Selbst wenn ihnen der schwarze Abgrund deutlich vor Augen stand, war da immer noch dieses Glas, das man gleich oder später austrinken konnte; und sie ließen es stehen und schoben es vor sich her – und dann war es irgendwann zu...


Will Self ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Englands. Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt die Romane Dorian: Eine Nachahmung (2008), Die Kippe (2011) sowie bei Hoffmann und Campe Regenschirm (2014), der für den Man Booker Prize nominiert war, und Shark (2016). Will Self lebt in London.



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