E-Book, Deutsch, Band 1, 390 Seiten
Reihe: Wagner-Trilogie
Seitz / Schweizer Götterdämmerung: Polit-Thriller
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-948987-30-5
Verlag: mainbook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 390 Seiten
Reihe: Wagner-Trilogie
ISBN: 978-3-948987-30-5
Verlag: mainbook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Seitz, Jahrgang 1976, hat seine Kindheit und Jugend in München und im ländlichen Niederbayern verbracht und lebt seit 2005 in Wien. Er schreibt vorwiegend historische Romane und Gegenwartskrimis. Seitz genießt es, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern durch Wien zu flanieren und in Buchgeschäften zu schmökern. Veröffentlichungen (Auswahl): 'Die verlorenen Kinder' (Droemer Knaur, 2017), 'Der Falter' (Droemer Knaur, 2018), 'Kinderspiel - Die Fesseln der Vergangenheit' (Droemer Knaur, 2019), 'Sechs' (Droemer Knaur, 2019) Stefan Schweizer studierte, promovierte und lehrte an der Universität Stuttgart. Er lebt in Potsdam, bewegt sich gerne in fremden Kulturen, in exotischen subkulturellen Milieus und ist Grenzgänger zwischen den Scenes. Veröffentlichungen (Auswahl): 'NSU 1.0' (Südwestbuch 2020), 'Die Akte Baader' (Gmeiner, 2018), 'Roter Herbst 77 - RAF 2.0' (Südwestbuch, 2017), 'Roter Frühling 72, RAF 1.0' (Südwestbuch, 2017), 'Mörderklima' (Klimawandel-Krimi, mainbook, 2020), 'BERLIN GANGSTAS' (Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2016), 'Goldener Schuss' (Gmeiner, 2015).
Autoren/Hrsg.
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Erster Teil
München, zwei Tage zuvor – 8. Juni
„Papa, ich warte schon eine Woche länger als ausgemacht auf deine läppischen dreihundertfünfzig Euro! Mein Vermieter hier in Berlin hält schon nach einer Brücke für mich Ausschau“, meldete sich seine Tochter über ihr Handy.
„Ich bin gestern eh auf der Bank gewesen“, log Tscharly beinahe mechanisch. Er kämpfte aber auch gegen sein schlechtes Gewissen wegen der Un-Wahrheit an und nahm sich vor, dafür bei Gelegenheit wieder einmal eine gute Tat zu vollbringen. Vielleicht sollte er einem Obdachlosen ein paar Brezen mit Weißwürsten und ein Bier in einem der schicken Lokale in der Münchner Innenstadt spendieren. Am besten vor der Diskothek P1, damit auch die Reichen und Schönen Zeuge seines Samaritertums wurden.
„Das sagst du immer“, durchschaute Milla ihn. „Ich weiß genau, dass du es wieder vergessen hast. Du wirst schusslig und alt.“
„Na gut, ich habe es wirklich vergessen. Du kennst mich ja lange genug. Aber wenn ich an einer Sache dran bin, dann vergesse ich alles andere. Du kriegst spätestens morgen dein Geld. Damit dein Vermieter dich nicht auf die Straße setzen muss, der arme Kerl! Mir kommen gleich die Tränen.“
Tscharly betrachtete die Zahnbürste in seiner linken Hand. Er hatte gerade die Zahncreme aufgetragen, als das Läuten des Handys ihn in seiner Morgentoilette unterbrach. Eine Weisheit, die bereits Julia Roberts als Prostituierte in Pretty Woman gepredigt hatte. In der Szene hatte sie auf unterhaltsame Weise Werbung für Zahnseide gemacht. Tscharly hatte den Film ein halbes Dutzend Mal gesehen, 1990. Was auch immer ihn dazu bewogen hatte, eine Liebesromanze im Kino anzuschauen, hätte er sich selbst nicht erklären können. Damals war er längst von Sara geschieden gewesen. Und ihre Ehe schien ihm wie eine Erinnerung an eine Erinnerung …
Milla holte ihn eiskalt in die Realität zurück.
„Am Ende muss ich noch bei Mama einziehen, damit ich mir das Wohnen während des Studiums leisten kann.“
Er lachte. „Köln soll ja auch sehr schön sein. Und die Kölner Philharmonie ist viel besser als ihr Ruf. Für eine Musikstudentin ist Köln zweifellos auch nicht gerade eine schlechte Stadt.“
„Das sagst gerade du.“
„Was?“
„Du hast es ja selbst gerade mal fünf Jahre mit Mama ausgehalten, bevor du mich mit ihr alleine gelassen hast. Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man die eigene Mutter nach der Schule völlig betrunken in ihrem Bett vorfindet und du keine Ahnung hast, wie du deine Hausaufgaben machen sollst?!“
Da war er wieder!
„Milla, es tut mir heute noch leid.“
„Davon kann ich leider meine Miete nicht bezahlen.“
„Deine Mutter und ich haben uns nur noch angeschrien. Es gibt viele, die trotz Ehedrama zusammenbleiben, weil sie glauben, dass sie damit ihren Kindern was Gutes tun. Und vielleicht wäre gerade das der richtige Weg gewesen. Ich wünschte, dass es anders gekommen wäre …“
„Du könntest dein schlechtes Gewissen ja mal wieder mit einer guten Tat ruhigstellen“, überrumpelte sie ihn.
„Ich …“
„Ich versuche seit Tagen mit Mama zu telefonieren. Aber sie geht einfach nicht an ihr Telefon. Mit ihrer Wohnungsnachbarin habe ich schon telefoniert. Mama ist zu Hause und sie verlässt auch manchmal ihre Wohnung. Aber sie geht mal wieder nicht an ihr Handy. Vielleicht will sie mich wieder einmal dafür bestrafen, dass ich mit sechzehn von daheim ausgezogen bin. Wäre ja nicht das erste Mal. Nur hab ich diesmal ein flaues Gefühl. Vielleicht hebt sie ja ab, wenn sie deine Nummer sieht.“
„Vielleicht“, murmelte er. „Vielleicht will sie ausgerechnet mich sprechen.“ , fügte er in Gedanken hinzu.
„Danke, du bist der beste Papa der Welt.“
Seine Freude über ihr Kompliment hielt sich in Grenzen. „Na sag schon, was du dir diesmal wünschst, meine geliebte Tochter und Prinzessin.“
„Ich hab dir doch neulich von dem Israel-Trip erzählt“, begann Milla. „Für achthundert Euro. Eine ganze Woche Sightseeing im Heiligen Land. Für mich und für Thorsten. Wäre das nicht ein schönes Geburtstagsgeschenk?“
„Mmh, ich verstehe ja, dass junge Liebe am liebsten gemeinsam auf Reisen geht. Aber könnten zur Abwechslung nicht auch einmal seine Eltern für seine Reisekosten aufkommen?“
„Ach komm, Papa, sei kein Spielverderber.“
Irgendwie gefiel ihm ihre Idee, Jerusalem und die heiligen Stätten anzusehen – und dazu die Golanhöhen und das Nachtleben in einem der angesagten Clubs in Haifa. Die Israelis besaßen eine Art zu feiern, als gäbe es kein Morgen. Während seiner Zeit im Nahen Osten hatte Tscharly mit einigen jungen Frauen Sex gehabt, die gerade eine Auszeit von ihrem Militärdienst genossen hatten. Tscharly schwelgte in der Erinnerung. Milla sandte ihm einen Kuss via Handy.
„Okay. Meinetwegen. Habe ich denn eine Wahl?“, entgegnete er. Und vor seinem inneren Auge blickte sie ihn auf dieselbe Art und Weise wie früher an, als sie noch ein Kind gewesen war. Wer konnte schon dem Augenaufschlag einer Fünfjährigen widerstehen, die dazu eine Miene aufsetzte, als ginge es um Leben und Tod?
„Manchmal frage ich mich, ob bei manchen Frauen diese Gabe angeboren ist“, überlegte er laut. „Ob sie zu einem natürlichen oder göttlichen Bauplan gehört?“
„Welcher Bauplan, Paps?“
„Männer um den Finger zu wickeln.“
„Papa, ich hab dich lieeeeb“, säuselte sie.
„Ich dich auch mein Schatz.“
„Papa, ich muss jetzt auflegen. Ich muss zur Vorlesung.“
„Dann lern was Schönes. Pass auf dich auf, ja?“
„Versprochen.“
„Bis bald. Servus.“
„Ciaooooh.“
Milla legte auf. Tscharly betrachtete sein Gesicht im Spiegel des Aliberts. Ich wünschte, uns wäre mehr Zeit miteinander vergönnt geblieben, kleine Maus, dachte er. Er wohnte allein und er brauchte sich vor niemandem zu schämen über die Tränen, die einen seltsamen Glanz in seine großen dunklen Mandelaugen zauberten. Sie konnten friedlich miteinander reden, ohne in Streit zu verfallen. Dafür empfand er Dankbarkeit. In Millas Pubertät hatte sie ihn im besten Fall angeschrien. Am schlimmsten waren die zwei Jahre zwischen ihrem vierzehnten und sechzehnten Geburtstag gewesen, während derer sie kein Wort miteinander gesprochen hatten. Ein Zustand, der abrupt endete, als Milla zum Studium nach Berlin drängte. Sara hatte sich quer gegen den Wunsch ihrer Tochter gestellt. Tscharly hatte mit Engelszungen auf seine Ex-Frau eingeredet und schließlich sogar für die Finanzierung dieses ehrgeizigen Plans gesorgt. Am Ende merkte Sara, dass sie ihre Tochter verlor, wenn sie sie zu Hause einsperrte. Milla fand einen Platz in einer Studenten-WG in Charlottenburg und zeigte sich von ihrer erwachsenen Seite, indem sie Tscharly plötzlich wieder in ihr Leben integrierte. Was zehn Jahre Psychotherapie nicht vermocht hatten, fügte sich auf einmal von selbst. Wenn ich das gewusst hätte, kleine Maus, dann hätten wir uns das viele Geld für die Psychotante sparen können.
Tscharly putzte seine Zähne. Anschließend benutzte er Zahnseide und musste wieder an Julia Roberts denken. Wenn ich in L.A. leben würde und Julia Roberts als Nachbarin hätte, dann wäre ich sicher ein guter Freund von ihr. Pretty Woman würde seine dunklen Augen, das markante Kinn mit Dreitagebart und sein früh ergrautes Haar ganz sicher attraktiv finden, stellte er sich vor. Nur Sex würden Julia und ich auf alle Fälle vermeiden. Sex zerstört Freundschaften. Deswegen wäre ich ihr ältester und bester Freund …
Er blickte auf die Küchenuhr.
Halb zehn.
In einer halben Stunde erwartete ihn der alte Methusalem in der Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten. Verdammt, das schaffe ich nie im Leben. Nach seinem letzten Fernostabenteuer hatte Tscharly große Lust gehabt, das zu tun, was er die längste Zeit seiner Journalistenkarriere getan hatte, nämlich in den Nahen Osten zurückzukehren, um von diesem ewigen Krisenherd aus Bericht zu erstatten. Die Tatsache, dass seine Tochter plötzlich mit ihm freundschaftlich verkehrte, hatte ihn jedoch dazu bewogen, zu seinen Münchener Wurzeln zurückzukehren. Er wollte sich und Milla eine Chance geben, wenn auch die Distanz zwischen München und Berlin zwischen ihnen lag. Er hatte die Hoffnung gehegt, vielleicht doch irgendwann eine väterliche Instanz sein zu können. Eine Hoffnung, die sich erfüllt hatte. Milla sprach Tacheles, war ehrlich mit ihm. Sie sagte ihm, wo er versagt hatte. Und sie teilte ihm mit, in welcher Hinsicht sie ihn brauchte. Mit der Zeit hatte er sich sogar mit ihrer Studienwahl anfreunden können. Natürlich hatte er davon geträumt, seine Tochter irgendwann in der Rolle der Strafverteidigerin vor Gericht zu sehen. Auch mit einem Betriebswirtschaftslehrestudium ließe sich im Leben so einiges anfangen. Jedoch mied Milla ihre Mutter, weil sie ihr zu Hause zu wenig Entscheidungsfreiheit gelassen hatte – das hatte Tscharly kapiert. Tscharly hatte beschlossen, seiner Tochter die lange Leine zu geben, schließlich war er ihr Mäzen. Mit diesem Schritt hatte er ihrer Vater-Tochter-Beziehung unerwartet ein erstaunlich festes Fundament verliehen, eine Entwicklung, mit der er kaum mehr gerechnet hatte.
Tscharly schmierte sich nach dem Zähneputzen eine Scheibe Knäckebrot dick mit Nutella und machte gerade Anstalten, hineinzubeißen, als das Handy ihn neuerlich aus seiner Morgenroutine riss.
„Wo bleibst du?“, meldete sich der alte Methusalem.
„Wir haben gesagt um...