E-Book, Deutsch, 318 Seiten
Seidel Franco
2. erweiterte und aktualisierte Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-042575-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
General - Diktator - Mythos
E-Book, Deutsch, 318 Seiten
ISBN: 978-3-17-042575-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Carlos Collado Seidel forscht und lehrt an der Universität Marburg.
Autoren/Hrsg.
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Kindheit in einer Marineoffiziersfamilie
Francisco Franco Bahamonde erblickte am 4. Dezember 1892 in der am zerklüfteten Küstenverlauf Galiciens gelegenen Garnisonsstadt Ferrol das Licht der Welt. Die fjordartige Bucht an der Nordwestspitze Spaniens war aufgrund der geschützten Lage ein herausragender Standort der spanischen Kriegsmarine. Der Flottenstützpunkt und die dazu gehörige Schiffswerft bestimmten das Leben in der damals auf dem Landweg nur beschwerlich erreichbaren Kleinstadt. Franco war Spross einer Marineoffiziersfamilie, die seit Generationen in der Kriegsmarine gedient hatte; sein Vater war in der Intendantur tätig. Das weitgehend abgeschottete militärische Milieu, in dem der junge Franco aufwuchs, hat ihn – auch eigenen Angaben zufolge – tief geprägt. In diesem Sinne wird gerne herausgestrichen, dass Franco zeitlebens dem Meer eng verbunden blieb, mit seiner Jacht Azor leidenschaftlich der Sportfischerei frönte und vor allem als Diktator besonders gerne in der prachtvollen Uniform eines Admirals in Erscheinung trat.
Ganz in diesem Sinne war es sein ursprünglicher Wunsch, ebenfalls die Marineoffizierslaufbahn einzuschlagen. Das Vorhaben zerschlug sich jedoch infolge eines Ereignisses, das das nationale Selbstverständnis aufs Tiefste erschütterte: Der 1898 chancenlos geführte Krieg gegen die machtvoll aufstrebenden Vereinigten Staaten endete mit dem Verlust von Kuba, Puerto Rico, der Philippinen sowie der weitläufigen Archipele der Mariannen und Karolinen, den letzten Resten des einst weltumspannenden Kolonialreiches. Diese Niederlage führte schmerzhaft vor Augen, dass Spanien letztlich nur noch in der Wunschvorstellung gelebt hatte, nach wie vor eine imperiale Macht zu sein. Nun wurde schonungslos deutlich, was Intellektuelle schon länger bitter beklagt hatten: eine in einer Selbstbeschau erstarrte Nation, die unfähig war, den Anschluss an die geistigen Strömungen und die Innovationskraft Europas zu finden. Aus der Erfahrung des verlorenen Krieges erwuchs die sogenannte Generation von 1898, die sich einer geistigen und materiellen Erneuerung Spaniens verschrieb und den gesellschaftlichen Diskurs in den krisengeschüttelten kommenden Jahrzehnten prägte. Während die einen eine Modernisierung und Europäisierung Spaniens forderten, sahen andere die Lösung in der Rückbesinnung auf die Werte eines verklärten kastilischen Idealbildes. Sozialistische und anarchistische Organisationen wiederum traten machtvoll in Erscheinung und forderten in Wort, Tat und nicht zuletzt mit dem Einsatz von Gewalt einen Neuanfang auf der Grundlage der jeweils eigenen Gesellschaftsmodelle. Im Baskenland und vor allem in Katalonien entwickelte sich hingegen ein eigenständiges nationales Bewusstsein, das immer stärker auf Distanz und Konfrontation zum zentralistischen Verwaltungsstaat ging. Dem traten jene entgegen, denen die Einheit der Nation innerhalb der katholischen Tradition heilig war. Schließlich begehrte auch das städtische und unternehmerische Bürgertum gegen die unverändert dominierenden Interessen des Großgrundbesitzes auf.
Das als Desaster von 1898 in die Geschichtsbücher eingegangene Ereignis hatte nicht minder das Selbstverständnis der spanischen Streitkräfte erschüttert und große Verbitterung ausgelöst. Dort herrschte die Überzeugung vor, dass die Armee und insbesondere die Kriegsmarine mit einer völlig unzureichenden Ausrüstung in den Krieg getrieben worden seien und nun als Sündenbock herzuhalten hätten. In Offizierskreisen wurden dagegen vor allem die bestehende liberale Gesellschaftsordnung und eine allein an kurzsichtigen Partikularinteressen orientierte Politikerkaste als Ursache für die Niederlage und den Verlust der Überseeterritorien ausgemacht. Der Liberalismus habe sukzessive das spanische Imperium ruiniert und bedrohe die Nation in ihren Grundfesten. Demgegenüber verstand sich das Offizierskorps als einziger Teil der Gesellschaft, der patriotischen Belangen und dem nationalen Ehrgefühl aufrichtig verpflichtet sei – eine Vorstellung, die eindrücklich auch in Francos Familiensaga Raza zum Ausdruck kommt.
Das mit der Niederlage tief getroffene Ehrgefühl der Streitkräfte entlud sich im Jahr 1905 anlässlich einer aus heutiger Sicht eher harmlosen, doch symptomatischen und folgenreichen Begebenheit. Die katalanische Satirezeitschrift ¡Cu-Cut! hatte vor dem Hintergrund des Sieges eines katalanischen nationalistischen Wahlbündnisses auf kommunaler Ebene eine Karikatur veröffentlicht, in der ein spanischer Offizier seine Verwunderung über die zu einer Veranstaltung strömenden Menschenmassen äußerte. Ein Passant entgegnete ihm, es handle sich um eine Festveranstaltung zur Feier des Sieges, worauf der Offizier feststellte, dass es sich dann um Zivilisten handeln müsse. Als Reaktion auf diese auf die Niederlage von 1898 gemünzte Provokation stürmten und verwüsteten in Barcelona stationierte Offiziere die Redaktionsräume zweier katalanischer Zeitungen.
Das Madrider politische Establishment duldete nicht nur die Übergriffe, sondern beschloss in dem in Wallung gebrachten Gefühl eines verletzten Nationalstolzes ein Gesetz, das der Militärgerichtsbarkeit jenseits rein innermilitärischer Angelegenheiten auch die Zuständigkeit für Delikte übertrug, die sich gegen die Ehre der Streitkräfte und darüber hinaus jener der spanischen Nation richteten. Damit wurden die Streitkräfte zur rechtlichen und vor allem moralischen Instanz in Fragen des nationalen Empfindens erhoben. Für Zeitgenossen wie dem Philosophen Miguel de Unamuno war in einer Zeit grundlegender sozialer Veränderungen das Eingreifen des Militärs zur »Errettung des Vaterlandes« lediglich eine Frage der Zeit.
Franco selbst war sicherlich zu jung, um die Dimension der Ereignisse von 1898 im Moment des Geschehens zu begreifen. Gerade als Spross einer Offiziersfamilie im abgeschotteten und auf sich bezogenen Milieu einer Garnisonsstadt der Kriegsmarine erlebte er jedoch – wie er sogar noch im hohen Alter rückblickend betonte1 – die Nachwirkungen der militärischen Niederlage besonders intensiv: Ferrol war der Heimathafen eines Teiles der Flotte gewesen, die nun auf dem Meeresgrund lag, womit der Krieg das Leben vieler dort ansässiger Familien sprichwörtlich zerrissen hatte. Für Franco hatte der Verlust der überseeischen Besitzungen aber auch unmittelbare berufliche Konsequenzen, war doch der Personalbedarf für die Kriegsmarine und damit an neuen Kadetten schlagartig gesunken. Während seinem älteren Bruder Nicolás ein Eintritt in die Marineoffizierslaufbahn noch gelang, blieb sie ihm verwehrt.
Ein Blick auf die frühen Jahre im Leben Francos ist aber nicht nur unter der Perspektive seiner späteren Berufslaufbahn oder einer Generation von Interesse, für die diese als historischer Wendepunkt in die Geschichte eingegangene Katastrophe tiefe Spuren hinterlassen hat. Die Kindheit Francos wird in Biographien darüber hinaus gerne beleuchtet, um sich der Persönlichkeit und dem Charakter zu nähern, oder, präziser formuliert, um psychologische Erklärungsmuster zu finden, die das spätere Verhalten als Diktator plausibilisieren.2 In diesem Sinne erweisen sich Kindheitsbegebenheiten als sehr illustrativ und entfalten eine hohe Suggestivkraft. Eine gewisse Problematik bergen allerdings solche Darstellungen aus dem familiären Umfeld, verfolgen sie doch einen ex-post Betrachtungsansatz, der das Wahrnehmungsfeld unwillkürlich einengt. Die meist anekdotischen Begebenheiten beruhen im Wesentlichen auf Erinnerungen von Familienangehörigen, die im Regelfall erst nach dem Tod Francos verfasst worden sind, damit auf dessen Gesamtleben ausgerichtet sind und entsprechend nicht zuletzt zur Bestätigung vorab bestandener Zuschreibungen dienen. Zudem erfolgen die Wahrnehmung und Zuweisung von Bedeutung im Sinne von Wilhelm Dilthey unwillkürlich auf der Grundlage des Verlaufs der eigenen Biographie und des persönlichen Verhältnisses zu Franco.
Besonders gerne wird eine Begebenheit nacherzählt, wonach Francos Schwester Pilar dem achtjährigen Bruder eine glühende Nadel auf das Handgelenk gepresst habe. Dieser habe die Zähne zusammengepresst und lediglich gesagt: »Verdammt noch mal! Verbranntes Fleisch stinkt abscheulich!«3 Mit dieser Anekdote wird auf Francos Fähigkeit der Selbstkontrolle sowie auf seine Gefühlskälte verwiesen, von der dem späteren Diktator nahestehende Personen übereinstimmend berichten. Diese Kälte, von der es hieß, dass sie sogar die Seele gefrieren lasse,4 war legendär; sie bekam nahezu jeder im Umfeld Francos zu spüren.
Zur Erklärung dieser Gefühlskälte geraten zudem die Familienverhältnisse in das Blickfeld der Biographen. Der Vater wird als resolut und herrisch und vor allem als Lebemann, Frauenheld und Trunkenbold beschrieben, dessen ausschweifender Lebenswandel in der kleinen Garnisonsstadt nicht habe unbemerkt bleiben können. Die dadurch bedingte Demütigung der Mutter und das Scheitern der Ehe, das mit dem Wegzug des Vaters nach Madrid im Jahr 1907 allseits sichtbar wurde, habe sich auf den jungen...




