E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Segebade Dunkelheiten
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7504-4512-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7504-4512-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Fremder, der einen geheimnisvollen Auftrag zu erfüllen hat. Ein gefeierter Dirigent, der sich an seine erste Liebe erinnert. Eine erfolgreiche Anwältin, deren Leben durch eine Erbschaft durcheinandergerät. Auch der zweite Band mit den besten Erzählungen des Seminars "Kreatives Schreiben" an der Hochschule Emden ist eine spannende Sammlung origineller Ideen und interessanter Charaktere in ganz unterschiedlichen Genres. Folgende Autoren des Wintersemesters 2018/19 sind mit ihren Beiträgen vertreten: C.B.K., Hanno Conring, Claudius Eicher, Ina Holtgrewe, Julia Kremkow, Svenja Reins, Katharina Schmidt, Fabian Schmidt-Fich, Mareke Tammen, Kim Wegner und Hanna Weß.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Dunkelheiten
Hanna Weß
Es ging immer nur um Geld. Es ging um Geld, als er mit seiner Familie vom Landhaus in ein schickes Penthouse in die Stadt zog, um innerhalb von acht Minuten im Büro sein zu können. Es ging um Geld, wenn er über eine Woche lang wegen jeder Kleinigkeit Streit anfing, weil die Aktien seines Unternehmens minimal im Kurs gefallen waren. Es ging um Geld, als er spontan mit seinen Lieben auf die Malediven flog, weil der Kurs wieder stimmte. Es ging um Geld, wenn er Weihnachten in Tokio verbrachte, um einen Deal mit einem japanischen Konzern abzuschließen und seine Kinder ihn erst nach Neujahr wiedersahen. Es ging um Geld, wenn Gemma in der Uni verheimlichte, dass er ihr Vater war, um nicht plötzlich fünfzig neue „Freunde“ zu haben. Und es ging um Geld, wenn sie entführt wurde, um ihn zu erpressen. Es war schnell gegangen, erschreckend schnell. Als der Sektempfang der Spendengala vorbei gewesen war, war Gemma zur Toilette gegangen, bevor der offizielle Teil des Abends begann – auf keinen Fall wollte sie inmitten einer Rede aufstehen und vor aller Augen den Raum verlassen müssen. Und auf dem Rückweg von den Toiletten war es dann passiert. Jemand hatte sie von hinten gepackt, ihr den Mund zugehalten und in ein Nebenzimmer gezerrt. Dann hatte ihr Jemand einen feuchten Lappen ins Gesicht gepresst, durchtränkt mit einer süßlich riechenden Flüssigkeit. Chloroform. Der Klassiker. Damals, vor vierzehn Jahren, hatte Jemand Anderes (zumindest glaubte sie nicht, dass es die gleichen Täter waren) sie ebenfalls mit Chloroform betäubt. Eine Schweinerei, das mit einer Siebenjährigen zu machen, fand Gemma. Als ob sie sich hätte wehren können. Nicht einmal geschrien hatte sie. Sie war stumm und starr vor Angst gewesen. Damals hatte sie um ihr Leben gefürchtet. Damals hatte sie noch nicht verstanden, dass es um Geld ging. Immer nur um Geld. Jetzt wusste sie das, und sie wusste auch: keine Geisel, kein Geld. Jemand konnte sie also schon einmal nicht umbringen. Und ihr auch sonst nichts besonders Schlimmes antun. Gemma stellte sich vor, wie sie schwer verletzt zu ihrer Familie zurückgegeben wurde und ihr Vater einen Preisnachlass verlangte, weil sie deutliche Mängel und Gebrauchsspuren aufwies. Himmel, was war sie zynisch geworden. Und ungerecht. Denn ihr Vater hatte vor vierzehn Jahren die geforderte Summe gezahlt, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Weniger als vierundzwanzig Stunden war sie damals in Gefangenschaft gewesen, weil er so kooperativ gewesen war. Und als er sie wiederhatte und in die Arme schloss, hatte er geweint, vor Freude und Erleichterung. Es war das erste Mal, dass Gemma ihren Vater hatte weinen sehen. „Meine Gemma, mein kleiner Edelstein“, hatte er geschluchzt, wieder und wieder. Kleiner Edelstein, so hatte er sie getauft, als sie und ihr Bruder ihn einmal dazu überredet hatten, mit ihnen Indianer zu spielen. Niemals könnte sie ernsthaft annehmen, dass er das verlangte Geld für ihre Freilassung nicht zahlen würde. Wahrscheinlich würde er sogar draufzahlen, wenn Jemand ihr wehtat, damit Jemand ihr nicht noch mehr wehtat. Das wäre ein Teufelskreis… diesen Gedanken schob Gemma schnell von sich. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die kleineren Gemeinheiten, mit denen sie jetzt schon zu kämpfen hatte. Kabelbinder und ein Kissenbezug. Mehr brauchte es nicht, um sie handlungsunfähig zu machen. Die Kabelbinder um ihre Handgelenke. Sie waren so festgezurrt, dass es schmerzte und Gemma entgegen besseren Wissens versuchte, sie abzustreifen. Dabei schnitten sie ihr nur tiefer ins Fleisch, aber sie konnte es nicht lassen, es wenigstens zu versuchen. Der Kissenbezug über ihrem Kopf. Von beiden Seiten zugeknöpft bis zum Hals, damit sie ihn nicht abschütteln konnte. Immerhin konnte sie hell und dunkel unterscheiden und Bewegungen wahrnehmen. In dem Keller, in dem sie saß, war es entschieden dunkel. Dass es ein Keller war, wusste sie, weil es kühl und feucht war. Und weil man sie eine Treppe hinuntergebracht hatte. Das war nun bestimmt schon über eine Stunde her, vielleicht auch zwei? Gemma hatte ihr Zeitgefühl verloren. Sie fror in ihrem dünnen Kleid. Wenig später wurde die Stille des Kellers durchbrochen. Gemma hörte Schritte und eine Stimme. Männlich, jung. Dann flog am oberen Ende des Raumes die Tür auf. Licht fiel herein, und Gemma konnte drei Menschen erkennen, durch den Kissenbezug nur schemenhaft. Sie kamen die Treppe herunter. Einer von ihnen fluchte lautstark – ihm gehörte die Stimme – und bewegte sich seltsam ruckartig. Da erst verstand Gemma, dass er sich wehrte. Die beiden anderen hielten ihn fest und drängten ihn die Kellertreppe hinab. Die letzten Stufen stießen sie ihn nach unten. Er stolperte, kippte vornüber und schlug mit dem Gesicht voran auf dem Boden auf. Jemand musste auch ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt haben. Am oberen Ende der Treppe knallte die Kellertür zu. Sperrte die Gefangenen ein und das Licht wieder aus. Der junge Mann fluchte erneut. Gemma war sich ziemlich sicher, dass er sie nicht bemerkt hatte. Weshalb sie davon ausging, dass auch sein Gesicht verhüllt war. Und jetzt war es ohnehin stockdunkel. „Hey“, sagte sie. „Wer ist da?“ Er klang alarmiert. Besser, sie machte ihm deutlich, dass von ihr keine Gefahr ausging. „Ich bin Gemma. Und ich bin eine Geisel wie du.“ „Eine Geisel?“ Nach kurzem Schweigen sprach er weiter, langsam, als müsste er erst verarbeiten, was er da überhaupt sagte. „Wie in… entführt werden, um jemanden zu erpressen? Meinst du, deshalb sind wir hier?“ „Warum denn sonst? Es geht immer nur um Geld.“ „Wem sagst du das?“, seufzte er. Gemma lachte leise. „Keine Ahnung, wem ich das sage. Dazu müsstest du mir deinen Namen verraten.“ „Mein Name… ist Richard III von… ach, wie mich das ankotzt. Nenn' mich Rick. Bitte.“ Letzteres sagte er mit Nachdruck. Sie lächelte. „Hi, Rick.“ „Hi. Ich würde dir ja die Hand geben, aber…“ – sie hörte an seinem Tonfall, wie er grinste. Galgenhumor. Das mochte sie. „Geht's dir gut?“, fragte sie. Immerhin war er gerade aufs Gesicht gefallen. Er lachte, freudlos. „Ging mir schon besser.“ „Nein, ich meine: Bist du verletzt? Hast du dir die Nase gebrochen oder so?“ „Du hast gesehen, wie ich auf die Schnauze geflogen bin?“ Er klang überrascht – und ein klein wenig peinlich berührt. „Aber… dann haben sie dir keinen Kissenbezug über den Kopf gezogen?“ „Doch, haben sie. Ich konnte das mehr erahnen als genau erkennen. Mit dem richtigen Gegenlicht“, erklärte Gemma. „Du hättest mich vielleicht auch gesehen – wärst du nicht abgelenkt gewesen.“ „Mag sein. Und, nein, ich glaube, meine Nase ist nicht gebrochen. Sie tut verdammt weh, aber ich glaube, sie blutet nicht mal“, sagte Rick. Gemma war froh, das zu hören. Auch wenn sie ihn gar nicht kannte. Aber es war nett, nicht mehr allein hier unten zu sein. Und sie mochte seine Stimme. Sie fragte sich, ob das nur so war, weil sie die Stille vertrieb. Sie beschloss, darauf zu achten, wenn er weitersprach. Er tat ihr den Gefallen: „Und ehrlich gesagt, mache ich mir gerade auch mehr Sorgen darüber, was das für ein Zeug war, mit dem sie mich betäubt haben. Und dich wahrscheinlich auch?“ „Chloroform.“ „Woher weißt du das?“, fragte er. Doch, Gemma mochte seine Stimme wirklich. Sie zögerte mit ihrer Antwort. Sie wollte Rick nicht sagen, dass sie das alles hier schon einmal durchgemacht hatte. Was ging ihn das an? Stimme hin oder her. „Chemieunterricht“, log sie. „Chemie war nie mein Fach“, gab Rick zu. Meins auch nicht, dachte Gemma. „Aber ist Chloroform nicht total schädlich?“, fragte er. Sie zuckte die Schultern, bis ihr auffiel, dass er das nicht sehen konnte. „Ich hab' es schon einmal überlebt, da wird es dieses Mal auch gutgehen.“ „Du… was?!“ Rick klang perplex. Verdammt. Jetzt musste sie ihm wohl oder übel doch von damals erzählen. Also erzählte sie. Wie man sie damals eben auch betäubt hatte. Wie sie in einem kleinen, weißen Raum wieder aufgewacht war und damals nicht ihr Gesicht verhüllt war, sondern das von Jemand Anders. Dass sie Angst gehabt hatte. Besonders, als er mit einem Telefon in der Hand auf sie zugekommen war und es ihr fast gewaltsam in die Hand gedrückt hatte. Doch dann war die panische Stimme ihres Vaters aus dem Hörer gedrungen, und sie hatte ihm natürlich geantwortet. Erst später hatte sie verstanden, dass dieses Gespräch im Zusammenhang mit ihrer Freigabe gestanden hatte – wenn man es denn Gespräch nennen konnte. Sie hatte so sehr geweint, dass ihr Vater sicher kein Wort hatte verstehen können. Aber das hatte den Zweck erfüllt: Es hatte ihn dazu bewegt, das geforderte Geld so schnell wie möglich zu zahlen. Um sein kleines Mädchen wohlbehalten wiederzubekommen. Und er hatte sie wiederbekommen, natürlich, schließlich ging es nie darum, ihr wehzutun....