Segato Femizid
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95405-124-3
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Frauenkörper als Territorium des Krieges
E-Book, Deutsch, 246 Seiten
ISBN: 978-3-95405-124-3
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In den vergangenen Jahrzehnten, die von Neoliberalismus und einem zunehmend autoritären Wandel der Gesellschaften und Regierungen geprägt waren, hat die weltweite Gewalt gegen Frauen drastisch zugenommen. Die seit 1993 andauernden systematischen Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez sind dabei nur die Spitze des Eisbergs – in ganz Mexiko fielen 2019 mehr als 3.800 Frauen männlicher Gewalt zum Opfer.
Die argentinische Anthropologin Rita Segato spricht angesichts derartiger Beispiele von einem »globalen Krieg gegen Frauen«. Um diese neue, extrem gewaltsame Wendung des Patriarchats zu verstehen, müssten solche Taten aus dem Privaten in die politische Öffentlichkeit geholt werden. Segato fordert, Frauenmorde nicht länger in privaten und sexuellen Kategorien zu betrachten, sondern vielmehr als systembedingte Feminizide zu benennen, die über die Erniedrigung von Frauenkörpern den Herrschaftsanspruch von Männerbünden formulieren und kommunizieren sollen.
Ihrer Ansicht nach wird es nur durch eine Wiederbelebung und Re-Politisierung der Kommunen und Gemeinschaften gelingen, diesen global stattfindenden Femi-geno-zid zu stoppen. Es geht der Autorin mit ihrer Intervention nicht nur um eine Beschreibung der Realität und eine theoretische Auseinandersetzung mit alten und neuen Begriffen, sondern gleichermaßen darum, konkrete Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen und gesellschaftliche Gegenwehr zu entwickeln.
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Kapitel 1
Die Einschreibung in die Körper der ermordeten Frauen von Ciudad Juárez
Territorium, Souveränität und Verbrechen des ›Zweiten Staates‹
Ciudad Juárez, im Bundesstaat Chihuahua an der Nordgrenze Mexikos, ist ein emblematischer Ort für das Leiden der Frauen. Mehr als an jedem anderen Ort bewahrheitet sich hier die Devise ›Frauenkörper gleich Todesgefahr‹. Ciudad Juárez ist, bezeichnenderweise, auch ein emblematischer Ort der wirtschaftlichen Globalisierung und des Neoliberalismus mit seinem unstillbaren Hunger nach Profit. Der finstere Schatten, der über dieser Stadt liegt, und die ständige Angst, die ich an jedem Tag und in jeder Nacht der einen Woche meines Aufenthalts dort empfunden habe, begleiten mich bis heute. An diesem Ort zeigt sich der unmittelbare Zusammenhang zwischen Kapital und Tod, zwischen Akkumulation und deregulierter Konzentration einerseits, und der Opferung armer, dunkelhaariger, mestizischer Frauen andererseits. Sie werden von dem Abgrund erfasst, in dem sich Geldwirtschaft und symbolische Ökonomie, Ressourcenkontrolle und die Macht, Menschen sterben zu lassen, miteinander verbinden. Im Juli 2004 wurde ich nach Ciudad Juárez eingeladen, nachdem im Jahr zuvor zwei Frauen der mexikanischen Organisationen Epikeia und Nuestras Hijas de Regreso a Casa meine Ausführungen darüber gehört hatten, was mir die einzige annehmbare These zu den rätselhaften Verbrechen zu sein scheint, die diese Stadt plagen. Die unvergleichlich häufigen Morde an Frauen – alle von ähnlicher körperlicher Statur – scheinen schier unverständlich zu sein. Sie werden kontinuierlich über mehr als elf Jahre hinweg mit außergewöhnlicher Grausamkeit begangen. Die Leichen zeigen ausnahmslos Verletzungen von exzessiven Vergewaltigungen und Folter. Mein ursprünglicher Plan, dort neun Tage zu bleiben, um an einem Forum über die Femizide von Juárez teilzunehmen, wurde durch eine Serie von Vorfällen torpediert, die am sechsten Tag im Ausfall einer Fernsehübertragung gipfelten, und zwar just in dem Moment, in dem ich meine Interpretation der Verbrechen in einem Interview mit Jaime Pérez Mendoza, einem Journalisten des lokalen Senders Canal 5, zu erörtern begann. Die schockierende zeitliche Präzision, mit der das Ausfallen des Übertragungssignals und das erste Wort meiner Antwort auf die Frage nach dem Motiv für die Verbrechen zusammenfielen, ließ uns am folgenden Morgen abreisen, zu unserem eigenen Schutz und aus Protest gegen die erlittene Zensur. Es war nicht wirklich unser eigener Eindruck, aber wir stellten fest, dass alle, mit denen wir darüber sprachen, bekräftigten, dass es klug gewesen sei, sofort abzureisen. Was wir aber nicht vergaßen, war, dass es in Ciudad Juárez keine Zufälle zu geben scheint, sondern dass vielmehr – und so werde ich im Folgenden argumentieren – alles Teil einer großen Kommunikationsmaschine ist, deren Mitteilungen nur für diejenigen lesbar, also verständlich sind, die aus dem einen oder anderen Grund den Code verstehen. Daher ist das erste Problem, das die schrecklichen Verbrechen von Ciudad Juárez für Außenstehende und ferne Betrachter:innen aufwirft, ein Problem der Verständlichkeit, der Lesbarkeit. Und es ist genau die Unverständlichkeit, in der die Mörder Zuflucht finden, wie in einem chiffrierten Kriegs-Code, einem Jargon, der vollständig aus Aufführungen besteht. Hier nur ein Beispiel für diese Logik der Bedeutung: Auch die Journalistin Graciela Atencio von der Tageszeitung La Jornada aus Mexiko-Stadt fragte sich in einem ihrer Artikel über die ermordeten Frauen von Ciudad Juárez, ob es etwas anderes als ein purer Zufall gewesen sein mag, dass just am 16. August 2003 Probleme bei der Post die Auslieferung der Zeitung in Ciudad Juárez verhindert hatten – an dem Tag, als ihr Blatt erstmals die Nachricht über einen enthüllenden »FBI-Bericht, der einen möglichen modus operandi in den Entführungen und dem Verschwindenlassen von jungen Leuten beschrieb« veröffentlichte (Atencio 2003). Leider war die Episode im Fernsehsender nicht der einzige merkwürdige Zufall, der uns während unseres Aufenthalts in der Stadt von Bedeutung schien. Am Montag, dem 26. Juli, nachdem ich meinen ersten Vortrag beendet hatte, genau zur Halbzeit des Forums, das uns zusammengebracht hatte, und exakt vier Monate nach dem Fund des bis dahin letzten Körpers, wurde der Leichnam der Maquiladora-Arbeiterin Alma Brisa Molina Baca gefunden. Ich erspare mir hier eine Aufzählung der vielen Verfehlungen und Verirrungen, die den Ermittlern und der Lokalpresse rund um die Überreste von Alma Brisa unterlaufen sind. Es war, und das sage ich ohne jede Übertreibung, notwendig zu-sehen-um-zu-glauben, also notwendig, dort zu sein, um Zeugin des Unvorstellbaren, des Unbegreiflichen zu werden. Auf ein Detail möchte ich allerdings hinweisen: Der Körper wurde auf derselben Brache im Stadtzentrum gefunden, auf der bereits ein anderes Opfer im Jahr zuvor gefunden worden war. Dieses Opfer war die ermordete Tochter (noch ein Kind) der Mutter, die wir am Vorabend des 26. Juli im trostlosen Viertel Lomas de Poleo interviewt hatten, ein Viertel in der rauen Wüste, durch die sich die Grenze zwischen Chihuahua und dem benachbarten Bundesstaat New Mexico zieht.[5] Das Gros der Kommentare wies auch auf den Umstand hin, dass im Jahr zuvor, zeitgleich mit der von Präsident Fox angeordneten staatlichen Intervention im Bundesstaat Chihuahua ein weiterer Leichnam gefunden worden war. Die Karten waren verteilt. Der unheimliche ›Dialog‹ schien zu bestätigen, dass wir uns innerhalb des Codes befanden und dass die Spur, die wir verfolgten, zum Ziel führen würde. Das ist die Interpretation, die ich im Folgenden darlegen möchte, und es ist genau das, was ich gerade hatte sagen wollen, als die Übertragung des Kabelsenders abbrach, an jenem frühen Freitagmorgen, dem 30. Juli 2004. Es geht konkret um den Zusammenhang zwischen den Todesfällen, den unrechtmäßigen Handlungen – die eine Folge des ungebremsten Neoliberalismus sind, der sich an den Rändern der ›großen Grenze‹ infolge des NAFTA-Abkommens entwickelt hatte – und der deregulierten Akkummulation, die sich in den Händen einiger weniger Familien aus Ciudad Juárez konzentrierte. Wenn man Ciudad Juárez aus nächster Nähe betrachtet, ist die Vehemenz tatsächlich äußerst beeindruckend, mit der die öffentliche Meinung einen Namen nach dem anderen zurückweist, den die staatlichen Stellen als mutmaßlich Schuldigen präsentieren. Es wirkt, als wollten die Menschen in eine andere Richtung schauen, als hofften sie, die Polizei möge ihren Verdacht in eine andere Richtung lenken – und zwar in Richtung der wohlhabenden Viertel der Stadt.[6] Der illegale Schmuggel jeglicher Art auf die andere Seite der Grenze umfasst jene Güter, die den Arbeiterinnen in den Maquiladoras abgepresst werden, den Mehrwert, den der ausgebeutete Wertzuwachs dieser Arbeit hinzufügt, sowie Drogen, Körper und, kurz gesagt, die Summe des beträchtlichen Kapitals, das diese Geschäfte südlich des Paradieses generieren. Das illegale Überführen dieses Kapitals gleicht einem ständigen Rückerstattungsprozess an einen säumigen Steuerzahler, der zwar gefräßig und unersättlich ist, aber gleichwohl seine Forderungen verheimlicht und sich der Verführung, die er ausübt, nicht bewusst ist. Die Grenze zwischen dem Elend des Überflusses und dem Elend des Mangels ist ein Abgrund. Es gibt zwei Dinge, die man in Ciudad Juárez aussprechen kann, ohne ein Risiko einzugehen und die auch die ganze Welt ausspricht (die Polizei, die Generalstaatsanwaltschaft, die zuständige Staatsanwältin, der Menschenrechtsbeauftragte, die Presse und Vertreter:innen der Nichtregierungsorganisationen). Das eine ist, dass »die Verantwortung für die Verbrechen bei den Drogenhändlern liegt«, was uns auf ein Subjekt mit dem Anschein eines Kriminellen verweist und unsere Angst vor den Rändern der Gesellschaft bekräftigt. Das andere ist, dass »es sich um ein sexuell motiviertes Verbrechen handelt«. Die Zeitung vom Dienstag, also dem Tag nach dem Fund des Körpers von Alma Brisa, schrieb zum wiederholten Mal: »Noch ein sexuell motiviertes Verbrechen«, und die zuständige Staatsanwältin unterstrich – einmal mehr das Offensichtliche durcheinanderbringend: »Es ist sehr schwierig, die Zahl der Sexualverbrechen zu verringern«, und führte so die Öffentlichkeit in die Irre, indem es ihr Denken auf eine Spur lenkte, die meines Erachtens falsch ist. Auf diese Art und Weise fördern Behörden und Meinungsmacher, obschon sie vorgeben, im Namen des Gesetzes und des Rechts zu sprechen, die undifferenzierte Betrachtung einer Vielzahl von frauenverachtenden Verbrechen, die in dieser Stadt wie in jeder anderen mexikanischen Stadt, und ebenso in Zentralamerika und in der ganzen Welt geschehen: Verbrechen aus Leidenschaft, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen durch Serientäter, Verbrechen wegen Schulden, Frauenhandel, Verbrechen der Internet-Pornografie, Organhandel usw. Ich kann diesen Willen zur Undifferenziertheit nachvollziehen, genauso wie die Nachgiebigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der alle Verbrechen gegen Frauen in Ciudad Juárez nur durch einen Nebelschleier betrachtet werden, mit der Konsequenz, einen zentralen Aspekt, der spezifische und sich wiederholende Merkmale aufweist, nicht deutlich erkennen zu können. Es ist, als beherbergten aus verschiedenen Aggressionen gebildete konzentrische Kreise in ihrem Inneren eine ganz bestimmte Art des Verbrechens – nicht unbedingt das...