E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Seemann Alsterschwan
2021
ISBN: 978-3-8392-6630-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 3, 320 Seiten
Reihe: Kommissarinnen Brandes und Kurtoglu
ISBN: 978-3-8392-6630-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der seit Wochen vermisste Fynn erscheint überraschend auf einer Party und bricht dort kurz darauf tot zusammen. Seine letzten Worte geben Rätsel auf. Sind sie ein Hinweis auf Fenja und Yannick, die ebenfalls spurlos verschwunden sind? Jegliche Ermittlungsansätze scheinen die Hamburger Kommissarinnen Stella Brandes und Banu Kurtoglu von der Lösung des Falls eher wegzuführen. Doch ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit, um die beiden Jugendlichen zu finden …
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sonntag, den 1. November 2015
Heute tanzte die kleine Hexe nicht. Es klatschte niemand in die Hände. Die Arbeit der Mordkommission war häufig belastend für die Mitarbeiter und führte sie an ihre Grenzen. Da es jedoch in diesem Fall um den Mord an einem Jugendlichen ging, wirkten Gegenstände, die gute Laune verbreiten sollten, hier momentan geradezu obszön. In einem unbeobachteten Moment griff Stella nach der kleinen Halloween-Dekoration und stopfte sie in die oberste Schublade ihres Schreibtisches. Dann nahm sie sich einen Kaffeebecher und folgte ihrem Chef in den Besprechungsraum. Die gestrige Nacht auf dem Anwesen der Warnckes war lang gewesen. Dennoch würde sie an diesem Sonntag nicht frei haben. Stella hatte bisher erst einmal mit dem Mord an einer Minderjährigen zu tun gehabt. Das fünfzehnjährige Mädchen war im Klövensteen, einem weitläufigen Waldstück im Westen Hamburgs, von zwei Reiterinnen gefunden worden. Der Täter hatte es vergewaltigt, ihm die Kehle durchgeschnitten und es dann liegen lassen wie ein Stück Müll. Sie hatten den Mord nicht aufklären können. Banu riss kommentarlos das oberste Blatt des Flipcharts ab, auf das jemand einen Kürbis gemalt und »Happy Halloween« geschrieben hatte, und fing an zu schreiben. Da sie die Strukturierteste innerhalb der Mordbereitschaft 5 war, war ihr Chef schon vor einiger Zeit dazu übergegangen, ihr den Part der Protokollantin in den Besprechungen zu überlassen. In Großbuchstaben schrieb sie den Namen »Fynn Benner« ganz oben auf das Blatt. »Unsere Ahnung von gestern hat sich bestätigt. Dank der Recherchearbeit von Armin heute am frühen Morgen«, Banu nickte ihrem Kollegen zu, »ist es nun klar, dass es sich bei unserem Toten zweifelsfrei um Fynn Benner handelt. Fynn ist am 18. Oktober, also vor exakt zwei Wochen, im Stadtteil Groß Borstel verschwunden. Das letzte Mal wurde er von seinem Freund Fabian Schmidt gesehen, als er in den Bus gestiegen ist. Er sagte aus, einen anderen gemeinsamen Freund besuchen zu wollen, ist aber niemals dort angekommen. Es gab bisher keinerlei Hinweise auf eine Entführung. Fynn war siebzehn Jahre alt.« Banu listete die Fakten mit Spiegelstrichen untereinander auf. »War er in irgendeiner Weise auffällig?« Gunnar hatte minutenlang schweigend durchs Fenster in den herabfallenden Regen gestarrt und drehte sich nun zu seinen Kollegen um. Thorsten Fock wedelte mit einem Computerausdruck, schob seine Lesebrille nach oben und schüttelte den Kopf. »Ein ganz normaler Junge. Eher zu normal. Keine schlechten Noten, so gut wie nie in Streitereien verwickelt. Zumindest nach Aussage seiner Eltern.« Stella hielt sich die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Gähnen. Sie war um 4 Uhr morgens in ihr Bett zurückgekehrt und hatte zunächst die tote Maus entsorgt, die ihr jüngerer Kater Shir Khan ihr aufs Kopfkissen gelegt hatte. Sie hatte gehofft, dass sie müde genug sein würde, um noch einmal einzuschlafen. Aber Fynns letzte Worte hatten ihr im Kopf herumgespukt und den Schlaf vertrieben. »›Da sind noch andere. Vielleicht sind es Schwäne im Haus vom Nikolaus‹«, wiederholte sie. »Ich würde das nicht zu ernst nehmen«, sagte Armin. »Seligmann hat gesagt, dass die Temperatur des Jungen noch sehr hoch war. Er hatte Fieber und hat halluziniert.« Aber Banu schüttelte langsam den Kopf. »Das glaube ich nicht. Vielleicht ist Fynn extra einen langen Weg gegangen, bis er auf einen Menschen traf, dem er diese wichtige Nachricht überbringen konnte.« Gunnar zog sein Smartphone aus der Tasche seiner Jeans und rief Google auf. »Der Schwan steht für Reinheit und Anmut«, sagte er. »Und in der Oper ›Lohengrin‹ spielt ein Schwan eine wichtige Rolle.« Banu zeichnete den groben Umriss eines Schwans auf das Papier und fügte ein großes Fragezeichen hinzu. »Hamburg ist voller Schwäne. Die Schwäne auf der Alster sind so etwas wie Hamburgs gefiederte Wahrzeichen.« Stella hatte ihre ganz eigenen Erinnerungen an Schwäne. Als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war, war auch sie für ganz kurze Zeit vom Pferdevirus infiziert gewesen. Mit ihrer damals besten Freundin Ella hatte sie Reitstunden im Alten Land genommen, einem der weitläufigsten Obstanbaugebiete Europas. An den Wochenenden und in den Ferien hatten die Mädchen mit den Ponys kleine Ausritte über die Deiche und auf dem ausgedehnten Gelände der großen Aluminiumhütte in Moorburg unternehmen dürfen. Natürlich waren sie auch das eine oder andere Mal am Rand des Spülfelds entlanggaloppiert, obwohl es verboten gewesen war. Aber das hatte einfach zum »Bibi-und-Tina«-Feeling dazugehört. Das Alte Land war voller Gräben, die die Landschaft wie schnurgerade Kerben durchzogen. Und eines Tages hatte ein junger Schwan in einem der Gewässer gesessen. Und zwar genau in dem Graben, den die Reiterinnen immer hatten passieren müssen, um in ihr schönes Ausreitgelände zu gelangen. Da der junge Vogel sich offensichtlich von den Mädchen und den Ponys bedroht gefühlt hatte, hatte er stets ein gefährliches Schnarren von sich gegeben, im Wasser geräuschvoll seine beachtlichen Flügel ausgebreitet und Anstalten gemacht, den Graben zu verlassen, um auf die für ihn vermeintlichen Angreifer loszugehen. Die Ponys, ihres Zeichens Fluchttiere, hatten immer wieder auf dem Absatz kehrtgemacht, gebockt oder waren gestiegen, wenn sie an dem halbstarken Schwan vorbeigehen sollten. Dieses Spiel war so lange gegangen, bis Ella von ihrem Pony gefallen war und sich dabei den Arm gebrochen hatte. Der Betreiber der Reitschule hatte den Schwanenvater, der sich um Hamburgs über hundert Alsterschwäne kümmerte, um Hilfe gebeten. Zu Stellas großer Überraschung war dieser völlig furchtlos auf das große Tier zugegangen und hatte gesagt: »Hansi, du musst doch nicht so einen Quatsch machen.« Dann hatte er ihm ein Toastbrot hingehalten, den rechten Arm unter den Körper des Schwans gesteckt, mit der anderen Hand den langen Hals genommen und ihn ohne jegliche Gegenwehr in einen Haustiertransportkasten bugsiert. Stella hatte sich gewundert, woher der Schwanenvater wusste, dass der junge Schwan Hansi hieß. Kurz darauf hatte sie erfahren, dass er alle Schwäne so nannte. Seit dieser Zeit hatte Stella den allergrößten Respekt vor Schwänen. Ihre Begeisterung für Pferde hingegen war kurze Zeit später erloschen. Nun versuchte sie jedoch sowohl ihre Erinnerungen als auch die Stimmen ihrer Kollegen aus ihrem Kopf auszublenden. Sie hatte das Gefühl, der Fokus wurde gerade falsch gelegt. Die ganze Nacht hatte sie über Fynns letzten Worten gegrübelt, aber nun war ihr relativ klar, was zumindest der erste Teil der Nachricht bedeuten sollte. »Lasst doch erst mal den Schwan. Fynn wollte uns sagen, dass noch andere Menschen in Gefahr sind. Möglicherweise werden noch weitere irgendwo gefangen gehalten. Vielleicht auch Kinder oder Jugendliche.« Sie blickte Banu an, die ihre Gedanken sofort erfasst hatte. »Du denkst an Fenja und Yannick!« »Ja, sie sind beide seit einiger Zeit spurlos verschwunden und im gleichen Alter wie Fynn.« Banu schrieb »Fenja Baldrum« und »Yannick Berg« auf das Blatt Papier und unterstrich die Namen doppelt. Auch ihr Chef schien mittlerweile verstanden zu haben, was Stella meinte. »Armin, du kümmerst dich um die Vermisstenanzeigen. Vielleicht gibt es aktuell noch mehr vermisste Jugendliche in Hamburg und Umgebung, die zu einem ähnlichen Zeitpunkt verschwunden sind wie Fynn. Und drucke uns noch mal die Infos über Fenja und Yannick aus. Falls Stella mit ihren Vermutungen recht haben sollte, ist hier höchste Eile geboten. Die Kollegen haben zwar schon versucht, die Fälle irgendwie in Verbindung zu bringen, aber vielleicht sind Fynns letzte Worte ja der erste Hinweis. Gunnar und Stella, ihr fahrt noch mal zurück nach Hausbruch und befragt die Nachbarn der Warnckes. Jule sagte gestern, dass die meisten etwas betagter sind. Ihr macht von uns allen den seriösesten Eindruck. Und Banu und ich überbringen den Eltern von Fynn die traurige Nachricht. Wir beide sind alt und empathisch.« Stella blickte ihre Kollegin an, die den Edding aus der Hand legte und ihrem Chef einen beleidigten Blick zuwarf. Auch Armin sah ihn fragend an. »Dein Akzent weist dich zu deutlich als Süddeutschen aus, Armin. Viele ältere Hamburger sind den Bergvölkern gegenüber skeptisch. Deswegen bleibst du hier und erledigst den Papierkram.« Immerhin hatte jetzt jeder eine Aufgabe. Der kleine Mops hatte nur einmal kurz den Kopf gehoben, als Angela Frieling mit der Leckerlidose geklötert hatte. Normalerweise veranstaltete er sofort einen Freudentanz um die Beine seiner Besitzerin und gab erst Ruhe, wenn mindestens eine Leckerei in seinem Maul verschwunden war. Heute jedoch hatte sie ihn sogar dazu überreden müssen, sein Körbchen zu verlassen, um draußen pinkeln zu gehen. Als die Haustür aufging, hatte er sie aus sehr angstvollen Glupschaugen angesehen und ganz schnell sein Bein im vorderen Beet gehoben. Als sie nach der Leine griff, um für sein größeres Geschäft einmal die Straße auf- und abzugehen, hatte der Mops sie angeknurrt und war sofort wieder in seinem Körbchen verschwunden. »Es ist, als ob Werther sich die Bettdecke über den Kopf ziehen wollte«, seufzte Angela und blickte vorwurfsvoll zu ihrem Mann, der wie immer im Sessel saß und Zeitung las, als wäre alles ganz normal. »Er hat halt einen schlechten Tag«, murmelte Siegfried, sah jedoch nicht von seiner Lektüre auf. Angela schüttelte verärgert den Kopf. »Er benimmt sich schon seit heute Morgen so komisch. Du weißt ja, ich habe kein Auge zugetan, weil er gestern die halbe Nacht draußen war. Bestimmt hat er etwas...